Bloß keine Fehler machen

»Am meisten nervt mich an meinem Chef, dass er nicht in der Lage ist, eine Entscheidung zu treffen!« Haben Sie diese Erfahrung in Ihrem Arbeitsumfeld schon einmal gemacht? Oder kennen Sie eine Person aus Ihrem engeren Umfeld, die von derartigen Stagnationen zu berichten weiß? Doch Endscheidungsreserviertheit ist ein echtes Problem. Die Angst vor Fehlern, die Furcht vor den Konsequenzen einer Entscheidung lähmt erstaunlich oft und intensiv.

Wer will schon gerne Totengräber sein?

Bei einem Oberligaspiel bin ich als Beobachter eingesetzt. Von der Tribüne aus verfolge ich das Spiel und analysiere es im Anschluss mit dem Schiedsrichterteam. In der Mitte der ersten Halbzeit entscheidet der Schiedsrichter zu meiner größten Überraschung auf Strafstoß für das Heimteam. Aus meiner Position – weit weg vom Spielgeschehen – konnte ich beim besten Willen kein Foul erkennen. Zumeist lassen sich diese Szenen nur per Video auflösen. Gut verwertbares Videomaterial ist im Amateurbereich aber selten. Oftmals bleibt daher fairerweise nur die neutrale Bewertung der Szene, also keine Auf- oder Abwertung für den Schiedsrichter. In diesem Fall bin ich mir aber sicher: Der Schiedsrichter liegt falsch. Diese Fehlentscheidung muss als schwerwiegender Fehler mit einem deutlichen Punktabzug einfließen. Es ist nicht der erste Abzug für den Schiedsrichter in dieser Saison, was meine Entscheidung nicht vereinfacht, da ihm der Abstieg aus der Oberliga droht. Einige Tage später bestätigt ein offizielles Video meine Einschätzung. Dennoch zögere ich, den Schiedsrichter mit Punktabzug zu belegen, obwohl es jetzt inhaltlich keine Zweifel mehr gibt. Warum ist das so? Mit solchen Entscheidungen tue ich mich doch sonst nicht so schwer. Dann die Erkenntnis: Ich möchte nicht die Rolle des Totengräbers dieser Schiedsrichterkarriere übernehmen. Mit einem unangenehmen Gefühl in der Magengrube fertige ich den Beobachtungsbogen an und reiche ihn ein, was den Abstieg des Schiedsrichters besiegelt.

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Kennen Sie solche Situationen aus Ihrem Führungsalltag? Im Kopf wissen Sie genau, wie eine Entscheidung aussehen muss, und trotzdem ist da dieses komische Gefühl, das Sie daran hindert, konsequent zu handeln. Natürlich vergebe ich als Beobachter am liebsten gute Noten. Wer sorgt mit seiner Bewertung schon gerne dafür, dass ein Schiedsrichter absteigt oder am Ende der Saison nicht aufsteigt? Sehen wir uns an, was passiert wäre, wenn ich die in der Geschichte beschriebene Szene neutral bewertet hätte. Wenn ich einfach behauptet hätte, die Szene nicht so ganz eindeutig wahrgenommen zu haben und mich deshalb lieber in Zurückhaltung üben wollte. Nun, für zwei Personen wäre diese Vorgehensweise deutlich von Vorteil gewesen: Für den Schiedsrichter des Spiels hätte es wohl den Klassenerhalt bedeutet. Auch für mich hätten sich im ersten Moment positive Auswirkungen ergeben. Schließlich hätte ich nicht die Nachricht der schlechten Note formulieren müssen und damit den unvermeidbaren Abstieg eingeleitet. Allerdings stellt diese Sichtweise eine äußerst oberflächliche Betrachtung der Situation dar. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass die Bewertung nicht nur Auswirkungen auf diesen einen Schiedsrichter hatte. Denn wäre er vom Abstieg verschont geblieben, hätte stattdessen ein ebenfalls schwächelnder Kollege den Abstiegsplatz belegt. Wäre das also wirklich die bessere Lösung? Ich denke nicht. Es ist niemals – weder im Sport noch in der Wirtschaft – eine sinnvolle Option, eine Entscheidung aus Sorge vor den (möglichen) Konsequenzen nicht zu treffen. Denn jede Entscheidung hat sowieso immer Auswirkungen auf irgendjemand anderen, das bringt das Treffen von Entscheidungen nun einmal mit sich.

Alles richtig machen – eine Kunst, die niemand kann

Wenn wir also die Konsequenzen, die eine Entscheidung mit sich bringt, in unsere Bewertung einbeziehen, dann sollten wir alle Faktoren in Betracht ziehen. Jede Entscheidung, die wir treffen, hat schließlich Auswirkungen in unterschiedliche Richtungen. Das gilt übrigens auch für jene Entscheidungen, die wir nicht treffen! Nehmen wir an, Herrn Wohlleben, Ihrem Mitarbeiter, unterläuft ein schwerer Fehler, der seine angedachte Beförderung zur Führungskraft gefährdet. Mit Blick auf Herrn Wohlleben wäre der großzügige Umgang mit diesem Fehler natürlich ein Akt der Nächstenliebe. Herr Wohlleben wäre für den tollen und menschlichen Chef sicher zutiefst dankbar, und Sie dürften sich über die Anerkennung freuen, die Ihnen zumindest von diesem und ihm nahestehenden Menschen zuteilwürde.

Was aber denkt Kollegin Großbauer über diese Entscheidung, die die Beförderung ebenso verdient hätte, sich bislang aber keinen solchen Fehler geleistet hat? Hätte sie ebenfalls Verständnis für Ihre Großzügigkeit? Mit Sicherheit nicht. Hätten Sie selbst tatsächlich das Gefühl, Ihre Entscheidung sei wirklich besser oder menschlicher? Hätten Sie dann in dem Sinn alles richtig gemacht?

Eine wichtige Erkenntnis aus meiner Zeit als Schiedsrichter lautet: Willst du die Qualität deiner Entscheidungen erhöhen, sollten die Konsequenzen einer Entscheidung allenfalls eine untergeordnete, bestenfalls gar keine Rolle spielen! Natürlich ist das theoretisch leichter gesagt als getan. An der Richtigkeit der Aussage ändert die Schwierigkeit der Umsetzung nämlich absolut gar nichts. Stellen Sie sich vor, als Schiedsrichter würde ich mir immer vor Augen führen, welche Konsequenzen der Elfmeterpfiff insbesondere in der Schlussphase eines Spiels mit sich bringen könnte. Das würde bedeuten, spätestens ab Mitte der zweiten Halbzeit in einem Spiel, das auf der Kippe steht, überhaupt keinen Strafstoß mehr zu pfeifen. Was würden Sie über einen solchen Schiedsrichter denken? Wie würden Sie eine Führungskraft einordnen, die immer genau dann kneift und sich vor einer Entscheidung drückt, wenn einiges auf dem Spiel steht und die zu treffende Entscheidung gravierende Konsequenzen hat?

Die verschiedenen – eventuell für gewisse Personen negativen – Konsequenzen einer auf jeden Fall prinzipiell guten und richtigen Entscheidung könnten eventuell noch mit etwas Bauchgrummeln ertragen werden. Aber das ändert sich meist schlagartig, wenn es um die Auswirkungen von wirklich fatal falschen Entscheidungen geht! Daher sitzt die Angst vor Fehlern so vielen Menschen wie ein Schreckgespenst im Nacken. Oder isst ihre Seele auf. Das belastet nicht nur die entscheidungszaudernden Führungskräfte, sondern lähmt ganze Organisationen. Woher aber kommt sie, diese Angst? Aus meiner Erfahrung steckt oft eine durchaus ehrbare Haltung dahinter. Wer möchte schon offiziell dafür verantwortlich zeichnen, die Karre vor die Wand gefahren zu haben? Auf den zweiten Blick bleibt allerdings die bittere Erkenntnis, dass das Nichtentscheiden aus Angst vor einem Fehler nicht zur Erhöhung der Entscheidungsqualität beiträgt. Was menschlich verständlich sein mag, ist im Sinne einer verantwortungsvollen Aufgabenerledigung definitiv nicht akzeptabel.

Fehlervermeidung als Wachstumskiller?

Dabei beobachte ich ein spannendes Phänomen. Wenn ich Führungskräften die Frage stelle, aus welchen Situationen sie am meisten in ihrem Berufsleben gelernt haben, scheinen die Antworten auf den ersten Blick sehr unterschiedlich auszufallen. Bei genauerer Betrachtung haben die vielen individuellen Beispiele aber alle eines gemeinsam: Sie beschreiben ausnahmslos eine Situation, in der eindeutig eine falsche Entscheidung getroffen wurde. Genau an diesem Punkt hake ich dann immer gerne nach.

Ja, das ist eine sehr provokative und auch ein wenig gemeine Frage. Sehen Sie sie mir bitte nach. Dahinter steckt ein bedeutsames Problem unserer Arbeitswelt, das ich gerne aufzeigen will. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es in erstaunlich vielen Bereichen eine Null-Fehler-Toleranz gibt. Der Aufwand, den wir mit einer gewissen Angst-essen-Seele-auf-Stimmung zur Fehlervermeidung oder zumindest -reduzierung betreiben, ist zum Teil gigantisch. Aber ist das nicht unsinnig, wenn wir gleichzeitig aus unserer bisherigen Erfahrung wissen, dass uns Fehler in der Entwicklung unterstützen? Verstehen Sie mich bitte richtig: Natürlich fordere ich nicht dazu auf, unreflektiert möglichst viele Fehler zu machen, weil wir daraus am besten lernen. Einer der Gründe, weshalb wir aus Fehlern so gut lernen, liegt in der Rarität ihres Auftretens. Würden wir jeden Tag riesige Fehlermengen produzieren, wäre der Lerneffekt bald übersättigt. Ich rufe also nicht dazu auf, möglichst viele Fehler – und schon gar nicht vorsätzlich – zu begehen. Vielmehr ist es mir ein Anliegen, Ihnen Mut zu machen, Ihren künftigen Aufwand zur Fehlervermeidung auf ein gesundes Maß zu reduzieren.

Der zwanghafte Versuch,
Fehler zu vermeiden,
 verhindert Entwicklung!

Torsten Werner

Was geschieht, wenn in Ihrer Organisation eine Null-Fehler-Toleranz vorherrscht? Logisch, Ihre Mitarbeiter werden alles daransetzen, Fehler zu vermeiden. Das wiederum führt dazu, dass in besonders heiklen Situationen lieber der Sicherheitsweg gewählt wird! Statt ein Risiko einzugehen, um eine vielversprechende Lösung auszuprobieren, von der man nicht weiß, ob sie wirklich funktioniert, wird lieber die Variante gewählt, die geringeren Schaden verursacht. Wir versuchen also intensiv, Fehler zu vermeiden. Wie soll in einer solchen Atmosphäre Wachstum entstehen? Ist eine positive Entwicklung nicht vielmehr dort zu erwarten, wo auch etwas Risiko gefahren wird, weil die Mitarbeiter von einer bestimmten Lösung überzeugt sind, ohne zu wissen, ob sie am Ende auch funktioniert? Aber wenn sie funktioniert, dann ist das Ergebnis meist überwältigend!

Promotions- oder präventionsfokussiert, das ist die Frage

Dahinter steckt ein Prinzip, das Edward Tory Higgins (Professor für Psychologie an der Columbia University, New York) Regulationsfokustheorie nennt. Er unterscheidet zwischen promotions- und präventionsfokussierten Verhaltensweisen. Derjenige, der Fehler vermeiden möchte, der Präventionsfokussierte, ist dann besonders glücklich, wenn es ihm gelungen ist, Schaden zu vermeiden und er möglichst wenig bis gar keine Fehler produziert hat. Im Gegensatz dazu ist der promotionsfokussierte Typ erst dann zufrieden, wenn er ein möglichst gutes Ergebnis erzielt. Dabei ist es nicht so erheblich, wenn auf dem Weg dorthin auch das eine oder andere schiefgelaufen ist und Fehler geschehen sind. Wichtig ist bloß, dass am Ende ein möglichst gutes Ergebnis steht.

Zu welchem Typ Sie tendieren, hängt unter anderem von der Branche ab, in der Sie tätig sind. Ich möchte nicht verhehlen, dass ich auf dem Operationstisch liegend auf jeden Fall einen präventionsfokussierten Arzt vorziehe. Das gilt für die meisten medizinischen Routineeingriffe. Aber wie verändert sich meine Haltung, wenn ich an einer – scheinbar – unheilbaren Krankheit leide, für die ein promotionsfokussierter Mediziner eine mögliche oder sehr wahrscheinliche Heilung in Aussicht stellt? Wäre ich dann risikofreudiger? Mit Sicherheit ja. Auch mein Automechaniker darf gerne ein präventionsfokussierter Mensch sein, der mein Auto bei der Inspektion auf Herz und Nieren prüft, Fehler findet und beseitigt. Das könnte sich anders gestalten, wenn ich im Rennsport tätig und daran interessiert bin, aus meinem Boliden noch die letzten paar Prozent Leistung herauszuholen. Dann befindet sich der experimentierfreudige Experte mit Sicherheit im Vorteil. Apropos: Fällt Ihnen beim Lesen wie mir beim Schreiben auf, dass die Wörter »experimentieren« und »Experte« erstaunlich ähnlich beginnen? Wer (zumindest gelegentlich) experimentiert, wird also irgendwann zum Experten, wer verwaltet, wird früher oder später nur noch das sein, nämlich Verwalter. Beide Vorgehensweisen haben ihren Platz im (Arbeits-)Leben. Tatsächliche und atemberaubende Spitzenleistungen, die Sie in die erste Reihe katapultieren, werden Sie jedoch nur mit der Option der risikobehafteten Promotionsfokussierung erreichen!

Fehlervermeidung aus Angst vor den Konsequenzen

Nach vielen Jahren im öffentlichen Dienst, der in weiten Teilen eher präventions- als promotionsfokussiert ist, habe ich ein zentrales Merkmal identifiziert. Im öffentlichen Dienst oder auch in zahlreichen sehr hierarchisch geführten anderen Organisationen sind viele Menschen vorrangig damit beschäftigt, nachzuweisen, dass sie an etwas nicht schuld sind. Ganz nach dem Motto: »Damit ist zwar noch keine Lösung für das Problem gefunden, aber es ist zumindest schon einmal geklärt, dass ich dafür nicht gehängt werde.« Eindeutige Fehlervermeidungsstrategie aus Angst vor den möglichen Konsequenzen! Bemerkenswert daran ist, dass die Konsequenzen im öffentlichen Dienst in der Regel viel geringer sind. Während in der Wirtschaft Ihr Job gefährdet sein könnte, wenn etwas richtig danebengeht, werden Sie im öffentlichen Dienst ziemlich sicher nicht rausgeworfen. Obwohl dort die Konsequenzen erheblich milder ausfallen, nimmt die Angst vor möglichen Folgen nicht ab. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, es ist umgekehrt. Dort, wo die stärksten Konsequenzen zu erwarten sind, entsteht oft die höchste Bereitschaft zum Experimentieren! Das liegt vermutlich daran, dass der Mensch nun einmal ein Gewohnheitstier ist und sich langfristig auch mit Gefahren vertraut macht. Wer beruflich ständig mit herausfordernden Situationen zu tun hat, entwickelt langfristig eine Art gelassener Souveränität.

Aus dem Sport weiß ich nur zu gut, was passiert, wenn Menschen Angst vor Fehlern haben: Sie verkrampfen! Eine verkrampfte Muskulatur ist beim Sport ebenso hinderlich wie das sprichwörtliche Verkrampfen im Arbeitsleben. Wer dem Fußball zugetan ist, kennt das von der Lieblingsmannschaft: Eine Truppe, die eigentlich ganz gut kicken kann, bekommt plötzlich keinen ordentlichen Pass über fünf Meter zustande. Auch wenn ich den Finger nur sehr ungern in diese (Fußball-)Wunde lege – 2018 bei der Weltmeisterschaft in Russland war die Angst im letzten Vorrundenspiel der deutschen Mannschaft gegen Südkorea sehr deutlich zu erkennen. War die Mannschaft in den beiden Spielen zuvor gegen Mexiko und Schweden einfach nur schlecht (was passieren kann), hatte ein erheblicher Teil der Mannschaft im letzten Spiel einfach massive Angst vor dem Versagen und der im Raum stehenden Schmach des Ausscheidens nach der Vorrunde. Das Ergebnis ist selbst nicht so fußballaffinen Menschen noch in Erinnerung: Deutschland verlor das Spiel (mit 0:2) und schied erstmalig in der Geschichte der Weltmeisterschaften nach der Vorrunde aus! Für mich nicht verwunderlich, die Mannschaft hatte null Risikobereitschaft gezeigt, war vor allem darauf bedacht gewesen, nur ja keine Fehler zu machen. Mit einer solchen Haltung lässt sich weder im Sport noch im herausfordernden Berufsalltag ein Blumentopf gewinnen!

Haben Sie ein annähernd realistisches Bild davon, was Sie in welcher Form zu der Fehlerkultur in Ihrer Organisation beitragen? Wenn Sie sich dazu vollkommen selbstkritisch beleuchten wollen, dann bitten Sie doch die Menschen in Ihrem engsten Umfeld um ihre Einschätzung zu den oben aufgeführten Fragen. Wie werden Sie von Ihrem Partner, Verwandten und Freunden als Chef eingeschätzt? Es ist wichtig, dass Führungskräfte sich mit der Art der Fehlerkultur, die in einer Organisation vorherrscht, intensiv beschäftigen. Denn sie steht in engem Zusammenhang mit der Qualität der Entscheidungen, die innerhalb dieser Organisation getroffen werden. Diesen Aspekt werde ich noch näher beleuchten und Ihnen konkrete Vorschläge zur Behandlung von Fehlerallergien und das Pimpen von Leistungen der Menschen in Ihrer Organisation machen. An dieser Stelle ist es erst einmal wichtig, zu verinnerlichen, warum wir so oft Angst vor unserer eigenen Courage oder unseren eigenen Fehlern haben, und dass es vielleicht – je nach Fall und Umfeld – doch nicht ganz so wichtig ist, immer alles richtig zu machen.

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