Wie viele Fernsehkanäle braucht ein Mensch? Macht es Sinn, Nudelsorte Nr. 47 zu entwickeln? Bringt der Sieben-Klingen-Nassrasierer mehr als der Sechs-Klingen-Nassrasierer? Und wieviel weißer als weiß kann ein Waschmittel noch waschen? In vielen Märkten haben Unternehmen das gleiche Problem: Sie produzieren neue eigentlich überflüssige. Produkte für Märkte, die heute bereits mit überflüssigen Produkten gesättigt sind.
Innovation bedeutet für sie: das gleiche Produkt immer wieder replizieren – nur in etwas anderer Form. Mal mit abgerundeten Ecken, mal etwas glänzender als das Vorgängermodell, mal etwas leichter oder mit verbesserter Leistung. Inkrementelle Innovation, die hilft, im Wettbewerb in gesättigten Märkten zu bestehen. Was Sie nicht finden: wirklich Neues. Radikale Innovationen: Produkte, für die es noch keine Märkte gibt, Dienstleistungen, die in dieser Form neu sind und Geschäftsmodelle, die die Regeln ganzer Branchen auf den Kopf stellen: radikale Innovation.
Zahlreiche kleine und große Unternehmen machen vor, wie es geht. Ob die Firma Paravan aus Baden-Württemberg, die mit innovativen Fahrzeugkonzepten und modernsten Technologien einen Markt für behindertenfreundliche Fahrzeuge geschaffen hat, DHL mit den Packstationen als innovative Form der Zustellung oder das israelische Unternehmen Better Place, das Batterien für Elektrofahrzeuge zum Mieten anbietet und in Israel ein Netzwerk von Austauschstationen geschaffen hat. All diese Unternehmen haben Märkte und Angebote geschaffen, die es in dieser Form bislang noch nicht gab.
Allerdings ist diese Form von Innovation nicht mit den klassischen Methoden des Innovationsmanagements zu beherrschen. Innovationsprozesse wie die in zahlreichen Unternehmen etablierte Stage Gate-Methode sind schlichtweg ungeeignet, um radikale Innovationen voranzutreiben. Nach wie vor setzen viele Unternehmen auf diese Form des Innovationsmanagements. Das hat Folgen: Statt neue Märkte zu entwickeln, werden so weiter nur scheinbar innovative Produkte für bereits gesättigte Märkte entwickelt. Der Geschäftsführer eines Baukonzerns drückte es einmal so aus: „Wir sind gut in Innovation- solange wir genau wissen, was am Ende dabei herauskommt.“
Mehr und mehr Unternehmen erkennen mittlerweile, dass sie mit den klassischen Methoden des Innovationsmanagements nicht weiterkommen. So wie DHL: Die Etablierung der Packstationen erfolgte durch ein internes Startup-Team – Mitarbeiter, die innerhalb bestehender Konzernstrukturen weitgehend autonom wie ein eigenes Unternehmen handeln konnten. Auch der Reiseveranstalter TUI ging neue Wege: Das Unternehmen nahm 30 Führungskräfte aus dem mittleren Management aus dem Tagesgeschäft heraus und ließ sie in einer Wohnung im Hamburger Schanzenviertel neue Geschäftsmodelle entwickeln. Und ein IT-Konzern lässt offiziell U-Boot-Projekte zu – radikale Innovationsprojekte, von denen das Management erst etwas erfährt, wenn das zarte Innovations-Saatgut erste Blüten trägt.
Unternehmen, die langfristig wachsen wollen, müssen raus aus der Falle des ewig Gleichen. Sie müssen Innovation auf eine vielfältigere Art und Weise managen als bislang. Ein einziger fest definierter Prozess für alle Innovationen ist so sinnvoll wie ein Schraubenzieher als alleiniges Mittel für alle technischen Probleme. Unternehmen, die das verstehen, sind in der Lage, radikale Innovation in den Markt zu bringen und damit neues Wachstum jenseits gesättigter Märkte zu generieren. Die anderen werden Nudelsorte Nr. 47 in den Markt bringen. Oder 48. Oder 49.
Mit zwölf Büchern (u.a “Digitale Disruption“. „Radikale Innovation) gilt Dr. Jens-Uwe Meyer als führender Vordenker und Keynote Speaker für Innovation und Digitalisierung. Er gehört zur exklusiven Riege der Meinungsmacher beim manager magazin. In seiner Promotion untersuchte er, was Unternehmen zu Innovation Leaders macht. Als Unternehmer entwickelt er heute Software, mit der Unternehmen und Organisationen zu digitalen Gewinnern werden.