Das Corporate Immune System

Ähnlich wie Ihr Immunsystem gegen Erreger wehrt, wehren sich Unternehmen gegen „Störenfriede“. Als Störenfried gilt alles, was es schafft, das Unternehmen kräftig durcheinanderzuwirbeln. Doch so verlieren Unternehmen ihre Wandlungsfähigkeit. Und täglich grüßt das Murmeltier: Die Strategie ist formuliert, die Pläne liegen auf dem Tisch, doch es passiert – nichts. Eines der plakativsten Beispiele dafür, wie Unternehmen mit ihrem Immunsystem gegen Veränderungen kämpfen, ist Boeing.

Stellen Sie sich einmal kurz vor, Sie wären ein kleines Grippevirus, das dabei ist, in einen Menschen einzudringen. Was passiert? Sofort haben Sie es mit dem gesamten Immunsystem des Organismus zu tun. Die Blutkörperchen werden sich gegen Sie zusammenrotten, man wird versuchen, Sie zu bekämpfen. Sie sind ein Störenfried, der es schafft, das Gleichgewicht kräftig durcheinanderzuwirbeln. Ungefähr so ergeht es vielfach Unternehmen und Organisationen im Wandlungsprozess. Die Strategie ist formuliert, die Pläne liegen auf dem Tisch, doch die faktische Umsetzung fällt schwer. Bis heute eines der plakativsten Beispiele dafür, wie Unternehmen mit einem Immunsystem gegen Veränderungen kämpfen, ist Boeing.

Beispiel Boeing: Immunsystem gegen Veränderungen

Bereits Anfang der Neunzigerjahre diagnostizierte das Unternehmen bei sich selbst ein Immunsystem gegen neue Ideen. Egal, welche Idee gerade aufkam, egal, wer sie vorschlug, egal, wie gut oder schlecht diese Idee auch war, irgendwo blieb sie immer in den Strukturen stecken und irgendwo fanden sich immer genug Bedenkenträger, die sich wie die roten Blutkörperchen im Blutkreislauf zusammenrotteten und den Eindringlich unschädlich machten. Die Idee könnte ja das Gleichgewicht der Organisation in Schieflage bringen.

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Dummerweise brauchte das Unternehmen exakt zu diesem Zeitpunkt viele neue Ideen. Die Flugzeugproduktion wurde gerade umgestellt und Boeing sah sich – in Vorbereitung auf das neue Modell, die Boeing 777 – vor massiven Herausforderungen. Produktionskosten und Produktionszeiten mussten um ungefähr fünfzig Prozent gesenkt werden und das in einer Organisation, die sich immun gegen Neues zeigte.

In den Neunzigerjahren gelang es, das Immunsystem zu bekämpfen. Die Boeing 777 wurde – trotz aller Verspätungen – erfolgreich auf den Markt gebracht. Nach den Abstürzen und der vorübergehenden Stilllegung der Boeing 737 Max im Jahr 2019 wurde in der Presse vielfach darüber spekuliert, ob das Immunsystem zurückgekehrt sei, ob ungewöhnliche Ideen und berechtigte Kritik an der Bauweise des Flugzeugs vom Immunsystem wieder wirksam bekämpft werden. So zitiert die ZEIT einen Angestellten mit den Worten: »Dieses Flugzeug wird von Clowns designt, die wiederum von Affen kontrolliert wurden.«

Ich bin im Zusammenhang mit Boeing erstmals 2010 auf den Begriff »Corporate Immune System« gestoßen. Heute hat der Begriff sogar eine eigene Seite bei Wikipedia (englische Ausgabe), wo es dazu heißt: »Der Begriff wird am häufigsten verwendet, um solche Prozesse zu beschreiben, die Innovation und unternehmerische Aktivitäten innerhalb von Organisationen ausbremsen.«

So spüren Sie das Immunsystem am eigenen Leib: Sie haben eine Idee und sie bleibt in den Strukturen stecken. Sie besprechen einen neuen Vorschlag, aber statt auf Begeisterung stoßen Sie auf Unverständnis: »Oh Gott! Da stört einer den Betriebsfrieden!«. Jetzt haben Sie zwei Möglichkeiten.

Möglichkeit 1: Akzeptieren und resignieren

»Das ist eben so. Unsere Organisation ist schwerfällig, mit neuen Ideen macht man sich keine Freunde.« Sie akzeptieren, dass man Ideen in Strukturen wie Ihren nicht umsetzen kann. Da kann man nichts dran ändern. Sie resignieren und ordnen sich bereitwillig unter. Es kann ja sein, dass sich die Märkte doch nicht so schnell ändern wie erwartet und die Konkurrenz ist ohnehin noch schlechter aufgestellt. Mentale Beruhigungspillen.

Möglichkeit 2: Das Immunsystem überwinden

Hier können Sie von der Natur lernen. Wie schafft es ein Virus, ein nahezu perfektes Immunsystem zu überwinden? Indem es den Reset-Knopf drückt und sich verändert. In der Coronakrise konnten wir das live miterleben. Für ein Virus gilt es unter anderem, die sogenannten Gedächtniszellen auszutricksen, die nach Krankheiten im Körper verbleiben und einmal bekämpfte Viren wiedererkennen. Genau wie im Unternehmen. Den Prozess, der bislang Ideen im Unternehmen verhindert hat, umgehen Sie. Und verändern ihn.

Falls Sie Option 2 wählen möchten, sind Sie hier richtig. Falls Sie Option 1 wählen, hören Sie hier auf zu lesen.

Was Unternehmen von Schnapsschmugglern lernen können

Boeing entschied sich Anfang der Neunzigerjahre dafür, Strukturen zu schaffen, in denen Ideen nicht nur willkommen waren, sondern mehr noch: In denen sie effektiv und radikal durchgesetzt wurden. Es war die Geburtsstunde des Moonshine-Shops. Einer Guerilla-Truppe innerhalb des Unternehmens, die nur eine einzige Aufgabe hatte: Vorbei an festgezurrten Strukturen Ansatzpunkte für neue Ideen zu finden und diese so gut es geht umzusetzen.

Bei der Schaffung dieser Guerilla-Einheit nahm sich Boeing ausgerechnet amerikanische Schnapsschmuggler zum Vorbild. Moonshine ist der Name für illegal geschmuggelten Schnaps, der während der Prohibitionszeit auf den Hinterhöfen von Chicago heimlich gebrannt wurde. Im Schutz des Mondscheins – daher der Name – wurde der Schnaps mithilfe von Guerilla-Taktiken an der Polizei vorbeigeschleust. Moonshine hatte einen großen Anteil daran, dass die Prohibition am Ende scheiterte.

Eine kleine Guerilla-Organisation, die vorbei an festen Strukturen Dinge tut, die innerhalb dieser Strukturen nicht möglich wären. Genauso beschrieb Boeing die Funktionsweise des Moonshine-Shops. Und so wurde die Abteilung gegründet. Ingenieure aus verschiedenen Bereichen wurden in einer kleinen verschworenen Truppe zusammengeschweißt und bekamen dort eine Aufgabe: Kosten und Produktionszeit um fünfzig Prozent zu senken. Das Ziel stand fest, die Wege dorthin waren der Kreativität der Mitarbeiter überlassen. Die Boeing-Ideenguerilla durchforstete das Unternehmen immer wieder auf der Suche nach Arbeitsabläufen, die zu kompliziert waren oder die zu lange dauerten.

Dabei griffen die Beteiligten oft zu ungewöhnlichen Lösungen. Lösungen, die innerhalb bestehender Strukturen wahrscheinlich keinerlei Chance gehabt hätten. Ein Problem von Boeing war beispielsweise die Verladung der Flugzeugsitze. In der alten Variante wurden die Sitze vom Hersteller auf Rollen angeliefert. Sie wurden dann in einen Container gerollt, der Container wurde nach oben gehievt und die Sitze wurden einzeln aus dem Container heraus in das Flugzeug hinein gerollt. Dieser Vorgang war aufwendig, er dauerte zwölf Stunden. Die Ideenguerilla überlegte sich, wie sich dieser Prozess beschleunigen lässt.

Geringe Budgets als Schutz vor Monsterlösungen

Ein wesentlicher Punkt der Methodik des Moonshine-Shops bestand darin, dass die Mitarbeiter praktisch kein Geld zur Verfügung hatten. Das sollte verhindern, dass sie sich teure Lösungen von Zulieferern einkaufen. Statt über Ausschreibungstexten zu brüten, sollten sie wirklich innovativ denken. Und so suchten sie zur Lösung nach Inspirationen in Bereichen, die mit dem klassischen Flugzeugbau eher weniger zu tun haben. »Wir haben auf einem Jahrmarkt angehalten und uns angesehen, wie die Wagen einer Achterbahn nach oben transportiert wurden«, erklärte Larry Larson, der Projektverantwortliche. »Wir haben Skilifte untersucht und überlegt, ob wir dieses System übernehmen können. Wir haben die Verladung von Zuckerrüben unter die Lupe genommen und sind darüber in den Bereich der Landwirtschaft gekommen.«

In der Landwirtschaft wurde das Team schließlich fündig. Die Ingenieure entdeckten ein Heuladegerät, mit dem Landwirte Heuballen in ihrer Scheune von unten nach oben transportierten. Das Heuladegerät wurde zum Synonym für die Arbeit des Moonshine-Shops. Innerhalb weniger Tage und zu einem Preis von tausendzweihundert Dollar ließen sich die Boeing-Mitarbeiter ein Heuladegerät schweißen und brachten es in die Flugzeugproduktion. Kostenersparnis gegenüber Lösungen von Zulieferern: Rund achtundneunzig Prozent. Das Ideenvirus hat das Immunsystem der Organisation besiegt.

So überwinden Sie das Immunsystem gegen Veränderungen

Anstatt das Bestehende zu verteidigen, hat Netflix den Reset-Knopf gedrückt und sich radikal neu erfunden. Erforderlich war dazu zunächst einmal ein Perspektivenwechsel: sich in die Rolle eines Angreifers zu versetzen, der das bestehende Geschäftsmodell attackiert. So wie es die Ingenieure von Boeing gemacht haben: Sie haben das Immunsystem ausgetrickst, in dem sie sich wie ein aggressives Virus verhalten haben. Der Angriff auf sich selbst ist eine der wirkungsvollsten Denktechniken, um einen effizienten Reset durchzuführen. Denn viele Unternehmen werden aus Bereichen bedroht, die sie bis vor wenigen Jahren überhaupt nicht als Bedrohung angesehen haben.

Die Musikindustrie machte es vor. Plötzlich kam MP3 auf den Markt. Die Industrie versuchte diese Entwicklung so lange wie möglich zu verhindern, schließlich ging es um die Existenz des Geschäftsmodells. Das Rennen machten schließlich Streaming-Dienste wie Spotify und Apple Music.

FinTechs, Unternehmen aus dem Finanzbereich, bedrohen die Geschäftsmodelle klassischer Banken.

Hersteller von Smartphones mit hochauflösender Kamera verdrängen Hersteller von Kameras und Fotoapparaten.

Für die Luftfahrtindustrie könnten Lösungen wie Zoom oder Teams von Microsoft in den nächsten Jahren als große Konkurrenz erweisen: Schließ-lich haben Unternehmen und ihr Management am eigenen Leib erfahren, dass man nicht zu jedem Business Meeting persönlich anreisen muss.

Wie funktioniert der Organizational Reset?

Ganz einfach: sie greifen gezielt die Schwächen ihrer Organisation an, indem Sie – so wie die Ingenieure von Boeing – einen Angriff auf sich selbst durchführen. Anstatt darauf zu warten, dass Sie von Angreifern irgendwann stark geschwächt werden, werden Sie selbst Ihr größter Feind. Bis heute ist mir der Satz von einem unserer Kunden, Geschäftsführer eines mittelständischen Maschinenherstellers und Weltmarkführer in seinem Segment, im Ohr. Für sein Unternehmen hat er die Losung ausgegeben: »Wir müssen jeden Tag versuchen, uns selbst zu vernichten.«

Beim Organizational Reset tun Sie genau das: Sie geben einer ausgesuchten Gruppe von Beschäftigten den Auftrag, der ärgste Feind des Unternehmens und der Strukturen zu werden. Sie sollen Strategien entwickeln, mit denen sie sich selbst überflüssig machen. Und diese Strategien anschließend als Chance für neue Geschäfts- und Organisationsmodelle betrachten.

Temporäre kreative Systeme: Was Sie von RTL, Netflix und Hollywood lernen können

Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie es Fernsehsender wie RTL schaffen, jeden Tag an unterschiedlichsten Orten unterschiedliche Reporter zu haben, die für die verschiedenen Magazine berichten? Heute passiert etwas in Buxtehude, morgen im österreichischen Villach und übermorgen am Titisee im Schwarzwald. Die Fernsehanstalten sind jedes Mal vor Ort. Ihre Übertragungswagen sind binnen weniger Stunden aufgebaut und die Berichterstattung läuft auf Hochtouren. Wie ist das möglich? Durch temporäre kreative Systeme, das gleiche Prinzip, nach dem Netflix-Serien und Hollywood-Filme produziert werden. Dort finden sich an einem Set Kameramänner und -frauen, Tontechniker, Beleuchter, Kostüm- und Castingexpertinnen, Stuntleute und Schauspieler. Jeder Teil dieses kreativen Systems übernimmt nur spezielle Aufgaben, und zwar die, für die er am besten geeignet ist.

Temporäre kreative Systeme machen träge Strukturen schlank und schnell

In vielen Unternehmen arbeiten fest angestellte Beschäftigte, die an Entwicklungsprojekten – beispielsweise für eine neue App oder neue besonders nachhaltige Produkte – sitzen. Möglicherweise verlangt das Entwicklungsprojekt gerade nach anderen Kompetenzen, die aber nicht eingekauft werden können, denn das Budget ist bereits vergeben. Wenn Sie als Führungskraft ein Team haben, beispielsweise ein Marketing-Team, wie stellen Sie es auf? Mit vier oder acht fest angestellten Beschäftigten, die dann für die jeweiligen Bereiche zuständig sind? Oder haben Sie nur zwei fest angestellte Beschäftigte und darum herum einen Pool von Textern, Grafikerinnen, Designerinnen oder Ideengebern in bestimmten Bereichen?

Die zweitere Variante, ein temporäres kreatives System, verhindert, dass Ihr Team immun gegen neue Ideen wird. Das israelische Unternehmen FiverR hat aus der Idee der temporären kreativen Systeme eine Geschäftsidee gemacht: Einen Online-Marktplatz für kreative Dienstleistungen. 2019 ging das Unternehmen an die Börse.

Ein temporäres kreatives System zu schaffen, bedeutet nicht, auf alle festangestellten Beschäftigten zu verzichten. Sie sind weiterhin wichtig: Es sind die Fachleute, deren Know-how das Unternehmen trägt. Es bedeutet, Luft für kurzfristige Projektverträge mit Menschen zu schaffen, die das für ein Projekt kurzfristig notwendige Wissen aus anderen Bereichen einbringen.

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