Digitalwirtschaft ohne Buzzwords ist kaum vorstellbar. Und sie sind praktisch. Denn Sie verknappen komplexe Sachverhalte. Und der entscheidende Nachteil ist, das Buzzwords einen großen Interpretationsspielraum zulassen – jeder versteht etwas anderes darunter. Disruption zählt wohl zu den momentan beliebtesten Buzzwords und gilt als Erfolgsformel für Wachstum…
Ist die Digitalisierung per se disruptiv? Bei genauer Betrachtung wird die Mogelpackung schnell entlarvt. Digitalisierung bedeutet nämlich zunächst einmal, das bestehende Geschäft einfach digital abzuwickeln. Im Klartext: „Wir machen das was wir schon immer machen – nur eben digital.“
Disruption ist ein hässliches Wort.
Disruption leitet sich von dem englischen Wort „to disrupt“ ab und bedeutet etwas „zerstören“ oder „unterbrechen“. Zerstörung, oder vielleicht etwas milder Unterbrechung oder Veränderung, wirken erstmal unbequem, machen Schluss mit Gewohnheiten und können gar Angst einflössen. Digitale Disruption bedeutet also ausbrechen, umkrempeln, abnabeln oder ablösen. Und ja! Manchmal eben auch zerstören. Kein Stein bleibt auf dem anderen. Revolution und Umbruch ist die Devise. Ein Geschäft wird gänzlich neu gedacht – selbstverständlich digital und kundenorientiert.
Digital-disruptive Unternehmen generieren neue Bedürfnisse.
Keine 15 Jahre ist es her, da hat der US-Amerikaner Steve Jobs mit seinem Unternehmen Apple ein Produkt auf den Markt gebracht, dessen Nutzen viele zunächst nicht erkannten. Als 2007 das erste I-Phone in den Regalen lag, war nicht zu ahnen, welche Bedeutung es innerhalb kürzester Zeit erlangen konnte. Heute ist ein Leben ohne Smartphone kaum mehr vorstellbar. Jobs hat die Stärke seines Unternehmens genutzt, intuitiv bedienbare und dabei noch schön anzusehende Produkte zu entwickeln und gleichzeitig ein plattformbasiertes Geschäftsmodell etabliert. Digital-disruptive Unternehmen befriedigen nicht nur bereits bekannte Bedürfnisse besser. Sie wecken Bedürfnisse, von denen die Kunden bislang noch keinen blassen Schimmer hatten. Das Geschäftsmodell drehen sie obendrein einmal von links auf rechts.
Digital-disruptive Unternehmen schaffen Dauerbindungen.
Wenn Google Maps keine Nutzer hätte, die von sich aus dazu beitragen, dass sich der Informationsgehalt erhöht (über Fotos, Referenzen, Verkehrstipps, Staumeldungen), also user generated content beisteuern, wäre dieser umfassende Informationsdienst nur halb so wirksam. Und nur halb so wertvoll.
Dass sich digitale Produkte sehr viel schneller von innen und von außen in ihrer Funktionsbreite verbessern und erweitern lassen, erzeugt einen immer breiteren Benutzerstrom, weil hier das Prinzip Gewohnheit durch Gewöhnung greift. Haben wir einmal die Benutzeroberfläche von digitalen Devices verinnerlicht, lassen wir uns nicht mehr davon abbringen. Dies führt dazu, dass die Nutzer ungebeten und freiwillig, von sich aus den Gebrauchswert enorm erhöhen. Das Unternehmen selbst kann sich freuen – sein Anteil reduziert sich weil die Community mit an/in seinem Unternehmen arbeitet. Benutzerkonten tun ein Übriges. Die komfortable Anwendung etwa bei Bestell- und Bezahlvorgängen, wenn wir auf vorgegebene Daten zurückgreifen können oder eine History unserer Bestellungen einsehen können, motiviert uns dazu, die betreffende Plattform als „unsere“ zu betrachten. In der Folge suchen wir sie häufig auf. Das Benutzerkonto stellt auch den Dreh- und Angelpunkt für den Anbieter dar. Hier kann er die Kommunikation mit dem Benutzer intensiv pflegen und ihm weitere Produkte, die der Nutzer bisher noch nicht nachfragte, vorschlagen. Er erweckt Neugier und Verlangen, etwa bei Bücherkäufern, die nun angeregt werden, sich auch einmal mit Audibles oder E-Books zu beschäftigen. Die Gleichung ist simple: Die Anzahl der Benutzerkonten ist der Treiber für den Wert einer Plattform.
Zusätzliche Dienste führen dazu, dass die Kundenwahrnehmung sich verändert. Facebook bietet dafür ein schlagendes Beispiel: Intensivere Kundennutzung führte zu einer veränderten Erwartungshaltung. In diesem Fall zu einer Integration von professionellen Profilen, gewerblichen und kommerziellen Darstellungen und schließlich folgerichtig auch zu Werbung und Produktkommunikation. Der Grundgedanke eines sozialen Netzwerks hat sich so ganz allmählich und schleichend gewandelt und im Bewusstsein der Besucher neu verdrahtet. Eine Art Gehirnwäsche. Und damit einher ging auch ein Wandel bei Wertschöpfung und Geschäftsmodell. Ein Wesensmerkmal, das digital-disruptive Unternehmen ganz entscheidend von denen der traditionellen Güterwirtschaft abgrenzt.
Digital-disruptive Unternehmen sind in Ökosystem-Plattformen eingebunden
Das Herz digitaler Ökosysteme bilden offene Plattformen, die High-End-Technologie einsetzen, um Menschen, Organisationen und Ressourcen innerhalb eines interaktiven Ökosystems zu vernetzen und den Austausch von Daten und Gütern ins Laufen bringen. Erst das vielfältige Angebot an Apps machte aus dem I-Phone das erfolgreiche Geschäftsmodell. Apple hat sich dabei voll auf seine Kernkompetenz konzentriert und die Fähigkeit zur Entwicklung leistungsfähiger Apps, genau denen überlassen, die davon etwas verstehen. Durch die Bündelung auf dem eigenen Marktplatz ist Apple aber immer noch Herr über das Geschehen und Gatekepper für das Hauptprodukt I-Phone.
Ökosystem-Plattformen nähren sich von einer großen Entwickler-Community, die wiederum durch ihre Applikationen das Ökosystem aufwerten. Daher sind offene Schnittstellen für Entwickler eine Grundvoraussetzung für lebendige Ökosystem-Plattformen. Sie sind wie die Milch im Müsli. Das iPhone ohne die Vielfalt an Apps? Undenkbar. Bildlich wäre dies eine staubtrockene Angelegenheit.
Digitale Disruption ist kein Schicksal, sondern eine Haltung
Apple hat im besten Sinne digital disruptiv gehandelt. Hat einen neuen Markt und ein neues Kundenbedürfnis aus der Taufe gehoben, hat Handys vorheriger Bauart fast vollständig vom Markt verdrängt und damit schlussendlich den Gesamtmarkt der Informations- und Kommunikationstechnologie nachhaltig verändert.
Unternehmen, die die digitale Transformation aktiv mitgestalten wollen, brauchen allerdings eine hohe Risikotoleranz. Scheitern nicht ausgeschlossen. Unternehmen die wirklich digital disruptiv unterwegs sind, folgen keinen Modeerscheinungen, sondern erkennen langfristige Trends, surfen auf dieser Welle zum Erfolg und gestalten ihre eigenen Märkte. Das erfordert manchmal einen langen Atem und der muss durch mutige Investoren ermöglicht werden. Echte digitale Disruption ist also nicht einfach nur ein digitales Kleidchen für bestehende Produkte und Geschäftsmodelle aus der analogen Welt. Für digital affine Führungskräfte sind digitale Transformation und disruptive Innovation Antrieb und digitale Disruption nicht nur ein Buzzword, sondern unternehmerische Haltung.
Prof. Dr. Dennis Lotter ist Agent Provocateur in Sachen digitale Transformation. Mit Elan und Leidenschaft jagt er die Schreckgespenster der Wirtschaft. Als Keynote Speaker und Trainer holt er Menschen aus ihren Komfortzonen und begleitet sie als Berater und Agile Coach in digitalen Veränderungsprozessen. Seine Mission: Unternehmen bewegen, sich selbst zu bewegen – stracks in Richtung digitale Zukunft.