Was brauchen Mitarbeiter, die am liebsten gehen würden?

Die Arbeitswelt könnte so schön sein: Mitarbeiter, die genau das machen, was sie gut können. Führungskräfte, die erkennen, wie ihre Mitarbeiter ticken, sie entsprechend an den passenden Arbeitsplätzen einsetzen und ihnen gegenüber Wertschätzung ausdrücken. Augenhöhe zwischen allen Beteiligten. Menschen, die viel leisten und dies gerne tun. Einfach, weil sie es wollen. Und deshalb fast schon automatisch Ergebnisse liefern, die auf jeder Ebene stimmen. Wenn es überall so liefe, dann hätten alle Organisationen schon die ersten wichtigen Voraussetzungen erfüllt, um eine Hochleistungsorganisation werden zu können.

Menschen benötigen für hohe
Leistung keine Kennzahlen.

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Mehr arbeiten, weniger leiden
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Doch was geschieht stattdessen in den meisten Unternehmen? Führungskräfte geben die Art und Weise vor, wie gearbeitet werden soll – nämlich so, wie sie selbst es tun. Sie behandeln die Mitarbeitenden alle gleich, anstatt sie als Individuen mit unterschiedlichen Talenten, Herangehensweisen und Bedürfnissen zu sehen. Kenn- und Ergebniszahlen sind das Maß aller Dinge. Sie bestimmen den Takt – und werden in der falschen Nutzung der Digitalisierung auch noch zur Vermessung der Mitarbeiter eingesetzt. Jeder klammert sich an seine eigenen Aufgaben- und Funktionsbereiche. Das, was im Prozess davor oder danach geschieht? Nach mir die Sintflut! Wer Fehler macht, wird dafür zur Rede gestellt: »Kein Problem, Herr Müller, dass hier was schiefgelaufen ist. Aber das darf auf keinen Fall noch einmal passieren – denn das würde ja bedeuten, dass Sie nichts daraus gelernt hätten, und das geht gar nicht!«

Um hohe Leistungen zu bringen, brauchen Menschen jedoch nicht in erster Linie Kennzahlen. Sie brauchen auch keine exakten Vorgaben, wie sie arbeiten sollen. Oder akribische Fehlerkontrollen. Menschen haben in Gemeinschaften – und nichts anderes als eine Gemeinschaft ist ein Unternehmen – nur ein wirklich großes Bedürfnis: Das nach Zugehörigkeit. Und diese Zugehörigkeit spüren sie am ehesten, wenn sie sich emotional eingebunden fühlen.

Wir wollen dazugehören

Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit gehört zum Menschsein wie der Schwanz zum Hund. Es hat mit Ängstlichkeit und ungesundem Anklammern nichts zu tun. Sondern es ist eine biologische Notwendigkeit: Wer in Urzeiten nicht mehr zur Gruppe gehörte, wer ausgestoßen wurde, der starb. Entweder weil er von wilden Tieren gefressen wurde, verhungerte, verdurstete oder an emotionaler Einsamkeit zugrunde ging. Und das war nicht nur im Pleistozän so, sondern gilt bis heute. Wenn Säuglingen menschliche Interaktion verweigert wird – kein Augen- und Hautkontakt, keine Mimik, keine Ansprache –, dann nützt es auch nichts, wenn ihre übrigen Grundbedürfnisse, wie beispielsweise die nach Nahrung, Wärme und Sauberkeit, gestillt werden: Sie sterben dennoch.

Ganz ähnlich geht es erwachsenen Menschen in den unterschiedlichen sozialen Systemen, in denen sie sich bewegen und zu denen natürlich auch Unternehmen gehören: Wenn sie sich dort emotional nicht eingebunden und nicht als Mensch, nicht als Individuum wahrgenommen fühlen, dann verhungern sie emotional. Da können sie noch so sehr ihre Arbeitsabläufe optimieren, von Meeting zu Meeting hasten und ihren geliebten Kennzahlen hinterherrennen. Es hilft alles nichts. Sie werden immer unter ihren Möglichkeiten bleiben. Erst sobald ihr Bedürfnis nach Nähe und Zugehörigkeit gestillt ist, laufen sie zu ihrer Bestform auf – und arbeiten nicht nur, ohne zu leiden, sondern liefern auch noch die qualitativ und quantitativ besten Ergebnisse. Dadurch reduzieren sich Fehlzeiten, Konfliktkosten und Projektabbrüche – was Milliardenverluste verhindert.

Was braucht eine Mitarbeiterin, die am liebsten gehen würde?

Dazu fällt mir eine Mitarbeiterin ein, die in einem mittelständischen Unternehmen einmal zu meinem Team gehörte. Frau Flommersfeld arbeitete in Teilzeit bei uns und säuberte morgens die Büros, bevor alle anderen zur Arbeit erschienen. Hin und wieder übernahm sie auch kleinere Zuarbeiten. Ich sah sie nur ab und zu, wenn ich früher als sonst ins Büro kam. Was mir dabei immer auffiel, und ich war nicht der Einzige, war, dass sie die schlechteste Laune von allen hatte, die ich je in diesem Unternehmen ein- und ausgehen sah. Nicht nur das. Sie verzeichnete auch die meisten Fehltage. Gleichzeitig hatte ich immer den Eindruck, dass sie mehr konnte, als nur Schreibtische abzuwischen und Papierkörbe zu leeren. Denn trotz ihrer schlechten Laune wirkte sie energiegeladen und wach, sie erledigte ihre Arbeit schnell und gründlich, ihr entging nichts. Eines Morgens fand ich ihre Kündigung auf meinem Schreibtisch. Am nächsten Tag ging ich extra früh ins Büro, damit ich sie persönlich um ein Gespräch bitten konnte.

Als wir uns am Besprechungstisch in meinem Büro gegenübersaßen, sagte ich zu ihr: »Frau Flommersfeld, ich habe zwar Ihre Kündigung bekommen, und ich sehe ja auch, dass Sie offensichtlich wenig Spaß an der Arbeit hier haben – aber was halten Sie denn davon, wenn ich Ihnen eine bessere Aufgabe gebe, anstatt Sie gehen zu lassen?«

»Erst sobald das Bedürfnis von Menschen nach Nähe und Zugehörigkeit gestillt ist, laufen sie zu ihrer Bestform auf – und arbeiten nicht nur, ohne zu leiden, sondern liefern auch noch die qualitativ und quantitativ besten Ergebnisse. Dadurch reduzieren sich Fehlzeiten, Konfliktkosten und Projektabbrüche – was Milliardenverluste verhindert.«

Frau Flommersfeld bekam große Augen. »Was wollen Sie? Mich befördern? Das kapiere ich jetzt nicht! Sie haben da meine Kündigung in der Hand. Ich will hier nicht mehr arbeiten.«

»Das habe ich verstanden. Ich habe allerdings den Eindruck, dass Sie mehr können, als frühmorgens Büros zu putzen. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wir gehen jetzt zusammen hinüber in die Produktion und ich stelle Sie der Schichtleiterin dort vor. Ich weiß, dass sie dringend jemand in der Qualitätskontrolle braucht, der die Qualität an verschiedenen Stellen des Produktionsprozesses überprüft. Ihre Arbeitszeiten wären allerdings ein bisschen anders als jetzt und Sie würden auch nicht mehr alleine arbeiten.«

»Oh, das würde mich überhaupt nicht stören, im Gegenteil. Dass ich immer alleine arbeite, war ja mit ein Grund für mich, zu kündigen.«

»Das habe ich mir schon gedacht«, antwortete ich. »Vielleicht probieren Sie einfach mal eine Woche lang aus, wie Sie mit der neuen Tätigkeit klarkommen. Vorausgesetzt, die Schichtleiterin nimmt Sie, natürlich. Und dann reden wir noch mal über Ihre Kündigung. Bis dahin tue ich einfach so, als hätte ich sie nie bekommen.«

Eine Woche später saß mir eine strahlende Frau Flommersfeld gegenüber. Wir redeten ein paar Minuten zusammen und es zeigte sich: Meine Rechnung war aufgegangen. Sie fühlte sich gesehen, eingebunden, sie sah einen Sinn in dem, was sie da nun täglich in der Produktion tat. Sie hatte Kontakt zu Kolleginnen und Kollegen, erhielt Wertschätzung, erreichte gemeinsam mit ihnen Ziele – sie war ein Teil des Ganzen geworden. Ihre Kündigung zerriss ich vor ihren Augen und warf sie in den Papierkorb.

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