Konservieren durch Optimieren – Wie sich Unternehmen selbst ausbremsen

Vollgas geben und zugleich die Handbremse anziehen. Disruptiv denken, aber nichts Bestehendes antasten. Mutig sein und pionierhaft handeln, aber kein Risiko eingehen. In den vergangenen Jahren haben wir zahlreiche Beispiele von Unternehmen gesehen, die Schwierigkeiten damit hatten, sich auf die Zukunft einzustellen. Erinnern Sie sich noch an »Zwanzig Prozent auf alles (außer Tiernahrung)«? Den »Mallorca Shuttle« und das Schokoladenherz beim Einsteigen ins Flugzeug? Oder »preisberühmt«?

Die Praktiker Baumärkte, Air Berlin und Schlecker haben in den vergangenen Jahren das gleiche Schicksal erlitten: Sie verschwanden vom Markt. Vom Arcandor-Konzern, bestehend aus der Warenhauskette Karstadt, dem Versandhaus Quelle und dem Reiseveranstalter Thomas Cook, sind nur noch Bruchstücke übrig.

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Diese Unternehmen haben es nicht geschafft, Zukunftsstrategien zu entwickeln und effektiv umzusetzen. Stattdessen haben sie das Bestehende immer weiter optimiert – mit zum Teil anspruchsvollen Innovationen und großen Erfolgen. Allerdings hatten die Optimierungserfolge eine Kehrseite: Unbewusst haben Sie das Bestehende konserviert.

Eines dieser Unternehmen habe ich im Rahmen eines Projekts zur Entwicklung von Innovationen begleitet. Es war Thomas Cook Deutschland. Das Projekt war erfolgreich, doch letztlich waren die Innovationen damals ein Kampf gegen den Abstieg. Lebensverlängernde Maßnahmen. Es hätte einen Reset gebraucht: Wie lassen sich Reisebüros in einer Zeit retten, in der die Digitalisierung Umsatz und Gewinne immer weiter verkleinert? Wie lässt sich das Kernprodukt eines Unternehmens – beispielsweise die günstige Pauschalreise nach Mallorca – länger am Markt halten, während gleichzeitig digitale Anbieter automatisch bestehende Angebote am Markt bündeln und der Zeitgeist sich unaufhaltsam ändert?

Back to the 90s …

Denken Sie bitte kurz zurück an Ihren letzten Pauschalurlaub. Sie haben über einen bekannten Reiseveranstalter gebucht und wurden nach der Landung mit dem Ferienflieger in ein Touristenhotel gebracht. Sie waren noch gar nicht richtig angekommen, da kam bereits die Einladung: Ein »Willkommensempfang mit der Reiseleitung.«

Als gelernter Pauschaltourist wussten Sie sofort: Oh Gott! Eine Werbeverkaufsveranstaltung. Der Ausflug in die Lederfabrik oder die Rundreise im überhitzten Bus mit Besuch eines »Original«dorfes der Ureinwohner. Oder der »einsame Traumstrand«, auf dem leider gerade zwanzig andere Touristengruppen den »schönsten Fleck der Insel« bevölkerten.

Jetzt überlegen Sie kurz. Wann genau war dieser Urlaub? Stimmt! Im Jahr 2021. Pauschalreisen sind immer noch das, was man liebevoll als »Back to the 90s« bezeichnen kann: Ein lebendiges Museum, wie Reisen früher einmal war.

  • Schlange stehen am Check-in-Schalter des kostenoptimierten Billigfliegers,eine zweistündige Busfahrt von Hotel zu Hotel, bei dem alle anderen Urlauber abgesetzt wurden,
  • der berüchtigte Empfang bei der Reiseleitung,
  • der ausgedruckte Aushang wann es wieder zur Abholung geht
  • und die noch längere Schlange beim Check-in am Flughafen der Urlaubsdestination.

Nicht zu vergessen die Souvenirs Made in China und die Animationsabende mit einheimischer Folklore. Diese Art des Pauschalurlaubs hat den klassischen Reiseveranstaltern jahrelang das Geschäft gesichert.

Doch die Digitalisierung bringt nicht nur neue technologische Möglichkeiten, sondern sie verändert Kundenbedürfnisse radikal. Airbnb ist nicht einfach nur ein Buchungsportal für Unterkünfte, es ist das Reiseprodukt des digitalen Lifestyles geworden. Die Pauschalreise in der heutigen Form wirkt hingegen wie ein Relikt aus analogen Zeiten. In einem Beitrag für das »manager magazin« habe ich 2019 die Situation von Thomas Cook kurz nach der Insolvenz analysiert.

Thomas Cook: Wie man vieles richtig machen und trotzdem scheitern kann

Es war zu Beginn der Zehnerjahre, dass ich mit Peter Fankhauser – damals Vorsitzender der Geschäftsführung der Thomas Cook Deutschland – und dem Topmanagement des Unternehmens Zukunftsstrategien entwickelt habe. Damals bereits war klar: Das Geschäft mit Pauschalreisen wird zunehmend schwieriger. Wenn man Peter Fankhauser, bis 2019 CEO von Thomas Cook, nicht vorwerfen kann, ist es, dass er dem tatenlos zugesehen hat. Das Topmanagement hat damals sehr viel richtig gemacht. Und ist trotzdem gescheitert. Wie passt so etwas zusammen?

Fankhauser war 2011 der Held der Tourismusbranche, weil er die niedrigen Margen im Pauschalreisegeschäft gerade gesteigert hatte. Das Tochterunternehmen Bucher Reisen war das interne Silicon Valley des Konzerns, dort wurden innovative digitale Lösungen entwickelt. Unter anderem hatte Fankhauser damals gerade eine disruptive Innovation gelauncht: Statt wie im analogen Zeitalter feste Hotelkontingente einzukaufen (und damit das Risiko zu erhöhen), wurden die Kontingente erst in der Sekunde eingekauft, in der Kunden eine Reise buchten.

Für damalige Verhältnisse war dieses Verfahren eine kleine Sensation. Auch, dass ein Touristikkonzern nicht nur Hotels vermitteln darf, sondern eigene Marken etablieren muss, hatte Thomas Cook erkannt. Die Folge: Der Reiseveranstalter launchte Sentido als eigenständige Hotelmarke. Mit Erfolg: Selbst kurz vor der Insolvenz hatte der Konzern angekündigt, den Anteil am Verkauf von unter zehn Prozent auf über dreißig zu steigern.

Fankhauser: »Immer hinter den nächsten Berg schauen«

Fankhauser war ursprünglich Offizier der Schweizer Armee und führte seinen Konzern entsprechend. »Du musst immer hinter den nächsten Berg schauen«, das war sein Leitmotiv. Wahrscheinlich deshalb hielt er sich bis zum Schluss an der Spitze des Konzerns. Fankhauser zögerte nicht, er packte an.

Doch ein Problem bekam er nicht in den Griff: Das Geschäftsmodell Pauschalreise ist keines, womit sich heute noch Geld verdienen lässt. Thomas Cook ist ein Opfer des radikalen digitalen Wandels geworden, der viel radikaler ist, als es sich viele vorstellen können. Die digitale Transformation beschränkt sich nicht nur auf die Frage des Vertriebsweges (in diesem Fall: online oder Reisebüro), sondern verändert das Konsumentenverhalten radikal. Stellen Sie sich vor, niemand würde mehr Autofahren wollen. Da hilft die größte Managementkunst in Automobilkonzernen wenig. Der Markt ist einfach weg. So ist es auch mit Pauschalreisen.

Die Geschichte der Pauschalreise

Warum eigentlich gibt es Pauschalreisen? Kaum eine Unternehmensgeschichte zeigt es eindrücklicher als die von Thomas Cook. Gegründet wurde der Konzern vom Baptistenprediger Thomas Cook, der 1841 das erste Mal eine Zugfahrt für fünfhundert Reisende (damals zu einem Treffen der Abstinenzbewegung) organisierte. Vierzehn Jahre später läutete er das Zeitalter des Pauschaltourismus ein, indem er für britische Touristen eine Europarundreise organisierte. Eine seiner größten Erfindungen war der Hotelvoucher, den Sie wahrscheinlich von vergangenen Urlaubsreisen noch kennen: Ein Stück Papier, auf dem stand, dass Sie tatsächlich ein bestimmtes Hotelzimmer gebucht haben.

Dieses Geschäftsmodell entstand in einer Zeit, in der Reisen und Reisebuchungen noch etwas waren, was nicht jeder Mensch tun konnte. Erinnern Sie sich kurz zurück an die Neunzigerjahre, als Sie entweder noch kein Internet hatten oder vor einem piependen Modem saßen. Konnten Sie da einfach ein Hotel in der Türkei buchen? Klar, Sie hätten die Auslandsauskunft anrufen und sich die Telefonnummer des Hotels geben lassen können. Sie hätten dort anrufen und per Fax ein Zimmer bestellen können. Aber das war kompliziert. Das Reisebüro um die Ecke war immer die einfachere Lösung. Die Kataloge waren bunt, die Buchung einfach.

Die Pauschalreise ist heute eine Problemlösung für ein Problem, das nicht mehr existiert. Und damit genauso ein Auslaufmodell wie das Faxgerät, das Warenhaus und die CD. Die beste Managementkunst hilft nichts, wenn das eigentliche Problem, das die Geschäftsgrundlage eines Unternehmens bildet, nicht mehr existiert.

Der einzige Vorteil, den klassische Reiseanbieter heute noch haben, ist der Preisvorteil. Wir buchen pauschal, weil es billiger ist. Genau das ist Thomas Cook zum Verhängnis geworden. Billiger bedeutet eben auch: weniger Marge.

Thomas Cook: So schmerzhaft war der digitale Wandel

Thomas Cook zeigt, vor welchen Herausforderungen Unternehmen angesichts des digitalen Wandels stehen: Sie müssen einerseits das Bestehende erhalten und es zugleich radikal zerstören. In meinem Buch »Digitale Gewinner« beschreibe ich diese sehr schwer zu meisternde Herausforderung.

Erfolgreiche Unternehmen schaffen es, den Widerspruch zu managen: Das Bestehende durch ständiges Optimieren so lange wie möglich am Leben zu erhalten und es zugleich durch etwas Neues zu ersetzen. Denn das Neue hat immer ein Problem: Niemand weiß so richtig, was dieses Neue eigentlich ist. Dazu ist Innovation mit einem hohen Risiko behaftet. Ob innovative Geschäftsmodelle jemals Gewinne abwerfen, ist fraglich. Dazu erfordert die Entwicklung radikaler neuer digitaler Geschäftsmodelle häufig ein komplettes Umdenken.

Tourismuskonzerne sind im Kern Logistikunternehmen, die Kapazitäten einkaufen, schick verpacken und an Touristen weiterverkaufen. Genau darin besteht ihr Know-how. Innovationen entwickeln? Disruptive digitale Lösungen erfinden? Das fällt schwer.

So wie der Tourismusbranche geht es inzwischen vielen Unternehmen: Sie sind gezwungen, ihre bestehenden Geschäftsmodelle radikal zu überdenken, ohne zu wissen, was das Neue sein könnte, wie und ob sich das Neue überhaupt rechnet und welche Kompetenzen sie dafür benötigen.

Dass Thomas Cook die Digitalisierung verschlafen hat, kann man Fankhauser nicht vorwerfen. Gescheitert ist Thomas Cook vielmehr daran, dass es nicht gelungen ist, den Widerspruch zu managen. Denn mit aller Managementkunst lässt sich ein Geschäftsmodell, das sein Fundament verliert, nicht mehr retten.

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