Normal ist das Unerwartete

Digitalisierung heißt: sich in der global city wiederfinden. Und im Grunde sind sich viele auf Unternehmerseite auch darüber im Klaren, dass die digitale Wirtschaft dieses Ausmaß an Ungewissem, an Unwägbarkeiten mit sich bringt. Doch ausgesprochen wird es selten. Dabei ist Unsicherheit an sich schon länger ein Thema, auch unabhängig von Fragen der Digitalisierung.

Mit Blick auf die digitale Wirtschaft ist dieser Fokus allerdings auszuweiten: Unerwartetes ist kein »Spezialfall« mehr, sondern das neue »Normale«. Neue Wettbewerber treten mit radikal neuen Geschäftsmodellen auf; Kundenbedarfe verändern sich grundlegend aufgrund von Marktsegment-Umbildungen; ganze Branchen ordnen sich neu. Entwicklungen, die in der digitalen Wirtschaft als normal anzusehen sind. Nur sind eben traditionelle Managementpraktiken wenig darauf ausgerichtet. Klassische Handlungsparadigmen gehen hier dahin, derlei Unwägbarkeiten möglichst zu vermeiden oder auszuschließen. Wenn das Unwahrscheinliche, Unerwartete dann eintritt, reagiert man »überrascht«.

Was tun in einer zunehmend fragilen Welt?

Zunächst einmal kann man sich Möglichkeiten des Umgangs mit diesen zunehmenden Unwägbarkeiten anschauen. Taleb differenziert hier mittels der Trias: Fragilität, Robustheit, Antifragilität.

  1. Das Fragile ist auf Normalbetrieb, Störungsfreiheit, angewiesen; an Chaos, an schwierigen Umständen, am »schwarzen Schwan«, zerbricht es. Diese Zerbrechlichkeit bezeichnen wir gemeinhin als Fragilität.
  2. Dann gibt es als zweite bekannte Möglichkeit die Robustheit: Das Robuste ist auf wenig überhaupt angewiesen – Störungen, Chaos, üble Umstände können ihm nicht viel anhaben. Doch Achtung: Manches auf den ersten Blick robust aussehende, etwa auf Standardisierung beruhende Vorgehen ist eigentlich bloß starr – und mit Unerwartetem schnell und massiv überfordert; dann stellt sich womöglich heraus: Es ist nicht robust, sondern fragil.
  3. Und schließlich gibt es, drittens, das Antifragile. Im Unterschied zum Robusten übersteht es Störungen nicht lediglich unbeschadet, sondern nutzt sie als Wachstumsfaktor, »nährt sich« geradezu am Chaos, wächst an der Unordnung.

Kennzeichnend für das Antifragile ist, was wir oft an lebenden Systemen, Lebewesen, wahrnehmen können: Auf Herausforderungen wird nicht nur durch Kompensation, sondern durch Überkompensation reagiert: Eine intensive Herausforderung, ein intensives Muskeltraining – bis zu einer Maximalbelastung – stärkt den Muskel.

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»Einige Dinge profitieren von Erschütterungen; wenn sie instabilen, vom Zufall geprägten, ungeordneten Bedingungen ausgesetzt sind, wachsen und gedeihen sie; sie lieben das Abenteuer, das Risiko und die Ungewissheit. Doch obwohl dieses Phänomen omnipräsent ist, gibt es kein Wort für das genaue Gegenteil von ›fragil‹. Nennen wir es ›antifragil‹. Antifragilität ist mehr als Resilienz oder Robustheit. Das Resiliente, das Widerstandsfähige widersteht Schocks und bleibt sich gleich; das Antifragile wird besser.« 

Diese Antifragilität, so Taleb, braucht es zunehmend, heute und künftig. In persönlicher Hinsicht, im Beruflichen – effektiv in allen wesentlichen Lebensbereichen. Denn sämtliche Entwicklungen, denen unsere Welt und wir in ihr ausgesetzt sind und sein werden, gehen in Richtung zunehmender Nichtlinearität und Fragilität.

»Der fragilisierende Effekt der gegenwärtigen Globalisierung lässt sich zweifellos auf Komplexität zurückführen und darauf, dass Vernetztheit und zivilisatorische Ansteckungsprozesse die Rotationen von ökonomischen Variablen deutlich beschleunigen.«

Die klassische Unternehmensantwort auf Unwägbarkeiten lautet: Risikomanagement. Es wird versucht, Risiken zu beschreiben, vorherzusagen und zu bewerten sowie Maßnahmen zu ihrer Minimierung zu definieren. Doch Risiken, die mit Chaos, mit Turbulenzen, mit seltenen Ereignissen zusammenhängen – die Wahrscheinlichkeit eines »schwarzen Schwans« –, all das entzieht sich dem klassischen Kompetenzbereich des Risikomanagements. »Fragilität ist vergleichsweise gut messbar, ganz im Gegensatz zu Risiken, speziell zu Risiken, die mit seltenen Ereignissen zusammenhängen. Wir können (Anti-)Fragilität einschätzen, ja sogar messen, wohingegen wir Risiken und die Wahrscheinlichkeit von Schocks und seltenen Ereignissen nicht kalkulieren können, wie gebildet wir auch immer sein mögen. Risikomanagement, wie es heute gehandhabt wird, ist das Studium eines Ereignisses, das in der Zukunft eintreten wird, und nur ein paar Wirtschaftswissenschaftler und andere Verrückte können aller Erfahrung zum Trotz behaupten, sie seien in der Lage, das zukünftige Vorkommen dieser seltenen Ereignisse ›messen‹ zu können.«

Was tun? Antifragilität ausbilden!

Taleb spielt nun eine Vielzahl an Möglichkeiten durch, Antifragilität auszubilden. Sei es auf individueller oder auf organisationaler, etwa auf Unternehmensebene. Die grobe Richtung – bitte nicht missverstehen als Checkliste – kann etwa so aussehen: Man setze hinsichtlich der Mitarbeiter – von der Führungsebene, vom Manager, bis zum einfachen Angestellten – auf die Verknüpfung von Eigen- und Unternehmensinteresse, auf Wachsamkeit und Training auf Entdeckergeist und antifragile Tüftelei statt einzig auf Effektivität, auf Optionen-Vielfalt, auf Stress als Indikator und Trainingsanreiz.

Eigen- und Unternehmensinteresse verknüpfen

Was mit Blick auf die Management-Ebene wohlbekannt ist, etwa unter der Bezeichnung »Agency-Problem«, gilt eigentlich grundsätzlich: Wenn das wohlverstandene Eigeninteresse der Mitarbeiter nicht deckungsgleich mit dem Unternehmensinteresse ist, sondern beides womöglich weit auseinanderklafft, macht das ein Unternehmen fragil: Das Agency-Problem fungiert dann quasi als Fragilitätstransfer – wenn etwa Mitarbeiter nicht im Interesse des Unternehmens handeln. Das kann eine Folge der vorhandenen Anreizsysteme sein; vielfach mangelt es etwa an einem Mechanismus, der Mitarbeiter direkt an den Folgen – positiv wie auch negativ – von ihnen getroffener Entscheidungen beteiligt. Das Verhältnis von Unternehmens- und Mitarbeitereigeninteresse ist ein Spannungsfeld, das höchste Aufmerksamkeit verdient: Inwieweit fördert die organisationale Ausrichtung hier Konflikte, etwa Zielkonflikte – was in einen Fragilitätstransfer resultieren kann –, oder im Gegenzug durch Verknüpfung von Unternehmens- und Eigeninteresse die Ausbildung von Antifragilität?

Wachsamkeit und Training

Ein Beispiel für fragilitätsfördernden Unfug sind für mich die jährlichen (oder ebenso auch monatlichen) Budgetplanungen in Unternehmen: In jedem Jahr bilden die Ausgaben des aktuellen Jahres die Grundlage für eine Prognose der Ausgaben im Folgejahr. Dabei wird eine Budgeteinhaltung belohnt, eine Budgetunterschreitung aber ebenso wie eine -überschreitung sanktioniert. Dieses Vorgehen wenden viele Unternehmen an, obwohl sie wissen, dass die Ausgaben des aktuellen Jahres im Grunde nichts mit dem zu tun haben, was im Folgejahr ausgegeben werden sollte oder vielleicht ausgegeben werden muss. Ebenso ist Unternehmen bewusst, dass es für einen Umsatzvergleich mit dem Vorjahr keinen tragfähigen Grund gibt – dennoch ist es vielfache Praxis. Gelebte Antifragilität ist es indes, wenn ein Unternehmen am Ende eines überaus erfolgreichen Geschäftsjahres das größte Sparprogramm der Geschichte auflegt. Das ist antifragiles Handeln: eine »Reinigung« zum Einfachen, eine Komplexitätsreduktion, Herausforderung der Mitarbeiter, Sensibilisierung und Training. Wobei Training im Sinne der Antifragilität heißt: Kompensation und, bestenfalls, Überkompensation. Dabei geht es im Training nicht etwa um Größe, Firmengröße, Umsatzgröße … – sondern als antifragil gilt vielmehr das Gegenteil: Kleine Strukturen sind in diesem Sinne besser als große. Es geht nicht um Größe, sondern um Fitness.

Die Ausbildung von Antifragilität bedeutet in gewissem Sinn tatsächlich: die Dinge sportlich nehmen. Es wird aktiv und bereitwillig der Status quo herausgefordert und hinterfragt, um diesen zu verbessern. Selbstkritik, das Stellen auch existenzieller Fragen, die möglicherweise auch ein organisationales Neu-Erfinden zum Ergebnis haben.

Redundanz, Optionen-Vielfalt

Unternehmen streben grundsätzlich zumeist erst einmal nach Effizienz und der Ausnutzung von Skaleneffekten – Redundanz wäre für diese Ziele hinderlich. Doch gerade wenn es um Antifragilität geht, können Redundanzen sinnvoll und wichtig sein. Fragil ist, was keine Optionen (mehr) hat; Antifragilität heißt: Optionen haben – als Geschäftsmodelle, Kunden, Investitionsmöglichkeiten, Personalressourcen, …

Entdeckergeist und antifragile Tüftelei

Antifragilität bedeutet auch, dem dezentralen netzwerkartigen Ausprobieren mehr Raum zu geben als dem Analysieren. So kann es durchaus sinnvoll sein, überflüssige Ressourcen im Unternehmen zu behalten und Freiräume für Mitarbeiter zu schaffen. Prominentes Beispiel ist etwa Google, das seinen Mitarbeitern 20 Prozent ihrer Arbeitszeit für ihre eigenen Projekte überlässt. Anders gesagt: Statt Rationalisierungen und Belehrungen liegt ein Fokus auf dem »antifragilen Tüfteln, wo Fehler klein und schnell vergessen sind«. Tüfteln, Interessen nachgehen, Basteln, Bricollage – Taleb bringt als Beispiel für den Nutzen dieser kreativen Freiräume ein historisches Phänomen: Englische Geistliche im 18. und 19. Jahrhundert hatten neben ihrer priesterlichen Tätigkeit ausreichend viel Zeit, um sich mit technisch-physikalischen Themen auseinanderzusetzen. Von den Ergebnissen ihres damaligen Tuns profitieren wir noch heute.

Stress seismografisch nutzen

Um herauszufinden, welche Bereiche des Unternehmens oder welche Geschäftssysteme fragil – und ebenso, welche antifragil – sind, ist Stress ein guter Indikator. Denn fragile Unternehmen halten Stressoren – intern wie auch extern – nahezu nicht aus. Antifragile Unternehmen hingegen nutzen – ebenso wie ihre Mitarbeiter – Stressoren als Trainingsanstoß. Auf diese Weise besteht die Möglichkeit, sich geeignet zu (re)positionieren, ohne im Detail verstehen zu müssen, was global vorgeht. Eine Haltung, die auch dazu beitragen kann, die Furcht vor dem Unerwarteten und Unbekannten zu reduzieren.

Resümee: Die eigene Lebenssituation ebenso wie das Unternehmen antifragil zu gestalten – dazu lädt die aktuelle und künftige Lage in der global city ein. Es bedeutet in gewisser Weise, wie der Volksmund sagt, aus der Not eine Tugend zu machen. Jähen Veränderungen, Unberechenbarkeiten und Störungen nicht nur standzuhalten, sondern an ihnen zu wachsen, sie zu Stärken umzumünzen – darum geht es. Eine sich stetig wandelnde Welt bietet stetig neue Gelegenheiten für den, der sie zu nutzen weiß.

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