Stellen Sie sich vor, Sie hätten glückliche Mitarbeiter, die jeden Tag gerne zur Arbeit kommen. Alle ziehen gemeinsam an einem Strang und inspirieren und unterstützen sich gegenseitig. Die gute Stimmung springt auf die Kunden über, die den Kontakt mit Ihrem Unternehmen als etwas Besonderes erleben. Bei neuen Herausforderungen sind alle motiviert dabei und finden schnell kreative und innovative Ideen. Fehlzeiten, Ausfälle und Konflikte müssen Sie mit der Lupe suchen.
Fluktuation und ungeplante Kündigungen gibt es nicht mehr. Bei gemeinsamen Aktionen finden sich ohne Probleme interessierte Freiwillige. Ist eine Stelle neu zu besetzen, fallen den Mitarbeitern passende Bekannte ein, die sich nach einer Empfehlung gerne bei Ihnen vorstellen, gut zur Stelle und zum Team passen und sich anschließend fast wie von selbst integrieren. Wenn die Mitarbeiter gefragt werden, was ihr Unternehmen so besonders macht, antworten sie mit strahlenden Augen: »Ich fühle mich hier auch als Mensch ernst genommen und von meinem Chef wertgeschätzt!«
Es gibt Unternehmen, in denen genau dies der Fall ist. Leider stellen sie aber noch immer eine Ausnahme dar. Als im Frühjahr 2021 die Welt eine erste Atempause nach dem Corona-Lockdown-Winter nahm, setzte in den USA die größte Kündigungswelle aller Zeiten ein; ein Jahr später fand die Great Resignation den Weg über den Atlantik und erreichte Deutschland. 2022 denkt hierzulande knapp jeder vierte Mitarbeiter darüber nach, sein Unternehmen in den nächsten zwölf Monaten zu verlassen. Beinahe jeder Zweite will sich in den nächsten drei Jahren neu orientieren (vgl. Werner 2022). Doch Kündigungen erfolgen nicht über Nacht. Verschiedene Zeichen weisen schon früh auf sich entwickelnde Schieflagen hin:
- Die Stimmung im Unternehmen oder Team verschlechtert sich von Jahr zu Jahr.
- Fluktuation und Fehlzeiten nehmen zu.
- Es wird immer schwieriger, neue Mitarbeiter zu gewinnen.
- Die Belastung der Mitarbeiter und die Bürokratie wachsen.
- Die Mitarbeiter beteiligen sich weniger an gemeinsamen Aktivitäten.
- Spannungen und Konflikte im Team nehmen zu.
- Die Kundenzufriedenheit sinkt, negatives Feedback und Beschwerden nehmen zu.
Nicht nur beim Arzt ist eine gute Diagnose die halbe Heilung. Die Ursachen für die beschriebenen Symptome sind vielfältig, verdichten sich jedoch häufig auf einen Punkt – und der heißt »Wertschätzung«.
Harte Fakten zur weichen Wertschätzung
Wertschätzung hört sich zunächst nach einem weichen Thema an, das geopfert werden kann, sobald der Wind rauer wird und die harten Zahlen in Gefahr sind. Ironischerweise liegt genau in diesem Fehlschluss die Ursache vieler Fehlschläge, denn:
Mangelnde Wertschätzung ist die Ursache vieler Übel, die Unternehmen aktuell bedrohen und herausfordern, darunter die Verschlechterung des Arbeitsklimas, lange Vakanzzeiten offener Stellen und ungewollte Kündigungen von Seiten der Mitarbeiter.
Auch wenn Wertschätzung kein Allheil- oder Wundermittel ist, wirkt sie jedoch oft wie ein Breitbandantibiotikum, das vielen Symptomen vorbeugt. Gegenseitige Wertschätzung ist ein gemeinsamer Nenner, ein stabiles Fundament, das es braucht, um gemeinsam etwas aufzubauen. Kurz: Wertschätzung ist nicht alles, aber ohne Wertschätzung ist alles nichts.
In unserer komplexen, vielschichtigen Wirtschaftswelt und in Zeiten des Fachkräftemangels und der Great Resignation führt an Wertschätzung kein Weg vorbei, wenn Unternehmen auch zukünftig noch am Markt bestehen möchten.
Hier ein paar harte Daten zur weichen Wertschätzung: Sie …
… ist für Mitarbeiter das wichtigste Charakteristikum guter Arbeit.
So gaben 74,3 Prozent der Mitarbeiter bei einer Softgarden-Studie (2018) an, dass ihnen bei ihrem neuen Arbeitgeber am wichtigsten sei, wertgeschätzt zu werden und sich willkommen zu fühlen. Das wurde jedoch leider nur in 44,2 Prozent aller Fälle auch nach dem Wechsel so erlebt. Und so geht die Suche weiter und das Personalkarussell dreht sich.
… ist eine zentrale Voraussetzung für Kreativität und Innovation und damit für die Wettbewerbsfähigkeit einer Organisation.
Um große Projekte zu stemmen, braucht es mehr als nur brillante Mitarbeiter. Wie die Aristoteles-Studie von Google (vgl. Rozovsky 2015) zeigt, ist psychologische Sicherheit am Arbeitsplatz der kritische Erfolgsfaktor, damit Spitzenteams entstehen. Psychologische Sicherheit zeichnet sich durch Respekt, Anerkennung und Wertschätzung aus. Ohne Wertschätzung kein Safe Space, ohne Safe Space keine Kreativität und Innovation.
… macht Unternehmen fit für die Zukunft der Arbeit und für New Work.
In der vernetzten Gesellschaft braucht es neue Formen der Zusammenarbeit, um den Anforderungen erfolgreich zu begegnen. Frederic Laloux beschreibt in »Reinventing Organizations« (2015), dass sich evolutionäre Unternehmen durch drei Durchbrüche auszeichnen: Ganzheit, evolutionärer Purpose und Selbstorganisation. Alle drei sind direkt mit Wertschätzung verbunden: Wertschätzung des ganzen Menschen (Ganzheit), Wertschätzung sämtlicher Stakeholder (Purpose) und Wertschätzung der Fachkompetenz sowie Entscheidungsfähigkeit der Mitarbeiter an der Basis (Selbstorganisation). Eine mitarbeiterzentrierte und wertschätzende Firmenkultur legt die Grundlage, um erfolgreich in instabilen und komplexen Umfeldern zu agieren.
… erhöht die Attraktivität als Arbeitgeber, verbessert die Mitarbeiterbindung und senkt die Fluktuation.
Die Erfahrungen vieler Unternehmer zeigen, dass sich die Arbeitgeberattraktivität signifikant verbessert, die Mitarbeiterbindung steigt und die Fluktuation sinkt, wenn sie sich klar zu ihren Mitarbeitern bekennen, ihr Menschenbild und ihr Verständnis von Führung aktualisieren und eine neue Kultur einführen. Die prominentesten Beispiele sind die Bodo Janssens Hotelkette Upstalsboom und der deutsche Drogist dm. Werden die Mitarbeiter dagegen nicht wertgeschätzt, steigen die Kündigungen. Im Fokus steht dabei die Führungskraft. Laut Fredmund Malik, Europas bekanntestem Managementexperten verlassen 80 Prozent der Mitarbeiter ihr Unternehmen aufgrund des Verhältnisses zu ihrem Vorgesetzten.
… reduziert Fehlzeiten und Krankheitstage.
Auch die jährlich durchgeführten Engagement-Untersuchungen des Gallup-Instituts zeigen: Mitarbeiter kommen wegen des Unternehmens, bleiben wegen des Jobs, aber sie gehen wegen des direkten Vorgesetzten. Engagement, Fehlzeiten und Krankheitstage der Mitarbeiter hängen direkt von der Führung ab. Führungskräfte nehmen ihre Fehlzeiten, Krankenquoten und Fluktuationsquoten mit. Wertschätzende Kommunikation ist ein zentraler Aspekt, um den Kontakt zu den Mitarbeitern und die Beziehung zu verbessern.
… verbessert das Miteinander und hält Unternehmen und Teams in Krisenzeiten zusammen.
Eine Robert-Half-Studie zum Thema »Glück bei der Arbeit« (vgl. Half 2016) belegt, dass der Vorgesetzte für die Beziehung und die Stimmung im Team verantwortlich ist. Wertschätzende Führung verbessert das Miteinander und stärkt den Teamgeist, der die Grundlage bildet, damit die Gruppe in schwierigen Zeiten zusammenhält und nicht auseinanderbricht.
… ist die Voraussetzung dafür, dass Vertrauen entsteht.
Ob beruflich oder privat: Über kaum einen Punkt herrscht so große Einigkeit wie darüber, dass Vertrauen die Grundlage bildet für gelingende und nachhaltige Beziehungen. In seinem Bestseller »Das Wunder der Wertschätzung« beschreibt Prof. Dr. Reinhard Haller (2019: 180), dass Wertschätzung die direkte Voraussetzung ist, damit Vertrauen überhaupt erst entstehen kann.
… beugt physischen und psychischen Krankheiten vor.
Ein Defizit an Wertschätzung ist ein Stressor ersten Ranges, der unter anderem zu Ängsten, Frustrationen, Burn-out, Depressionen, aber ebenso zu Rückenschmerzen und erhöhten Entzündungswerten führen kann (vgl. Bartens 2018).
… erhöht die Kundenzufriedenheit, die Umsätze und das Wachstum.
Wertschätzung von Seiten der Führungskräfte wird vom Mitarbeiter zum Kunden weitergetragen und schlägt sich dadurch direkt auf das Betriebsergebnis nieder. Für die Studie von Heidrick and Struggles (2021) wurden weltweit fünfhundert CEOs über die Erfolgstreiber ihrer Unternehmen befragt. Jene, die bewusst die Firmenkultur in den Mittelpunkt stellten, erreichten ein Wachstum, das mit 9,1 Prozent mehr als doppelt so hoch war wie das der übrigen Unternehmen mit nur 4,4 Prozent. Um die erforderliche Kultur zu etablieren, setzten die erfolgreichen Unternehmen bewusst auf Wertschätzung der Mitarbeiter und auf mehr Kontakt auf Augenhöhe durch hierarchieübergreifende Dialoge.
Wertschätzung auf dem Prüfstand
Wenn Wertschätzung solch ein wichtiger Erfolgsfaktor ist, warum wird sie dann nicht viel konsequenter genutzt? Die Antwort ist einfach: Wer nicht weiß, dass er ein Problem hat, denkt auch nicht darüber nach, etwas zu ändern. Eine McKinsey Studie zeigte 2021, dass von den Top 4 Gründen, wegen derer Mitarbeiter schließlich ihr Unternehmen verlassen, die Arbeitgeber nur den viertwichtigsten richtig einschätzen: Mangelnde Work-Life-Balance. In Bezug auf die Top 3 tappten die Unternehmen dagegen völlig im Dunkeln. Diese sind mangelnde Wertschätzung durch die Organisation, mangelnde Wertschätzung durch den direkten Vorgesetzten und ein mangelndes Zugehörigkeitsgefühl. In Bezug auf Wertschätzung und Anerkennung trügt regelmäßig die eigene Überzeugung. Wie eine Studie der Initiative Kraftwerk Anerkennung zeigt, sind 81 Prozent der Führungskräfte der Meinung, sie gäben häufig Anerkennung. Aber die Absicht des Handelns muss nicht mit ihrer Wirkung übereinstimmen. Die vermeintlich gezeigte Anerkennung muss vom Mitarbeiter auch als solche wahrgenommen und empfunden werden, um zu wirken. Das ist jedoch in der Regel nicht der Fall, denn ganze 60 Prozent der Mitarbeiter beurteilten die Wertschätzungsbereitschaft ihrer Vorgesetzten als sehr mäßig.
Auch wenn es unangenehm ist, sollten sich Führungskräfte beim Thema Wertschätzung lieber nicht auf ihren ersten Eindruck und ihr Bauchgefühl verlassen. Wie weit Selbst- und Fremdbild auseinanderklaffen können, zeigen anschaulich das Buch »Die stille Revolution« und der gleichnamige Dokumentarfilm, in dem der Unternehmer Bodo Janssen beschreibt, wie ihn als junger Unternehmer die Ergebnisse einer Mitarbeiterumfrage erbarmungslos in die Realität katapultierten, nachdem er zuvor in der Illusion gelebt hatte, »ein guter Chef« zu sein.
Janssen nahm sich die Rückmeldungen seiner Mitarbeiter zu Herzen, arbeitete an sich und schreibt seither mit einem wertschätzenden Führungsstil eine fulminante Erfolgsgeschichte. Dabei gibt er offen zu, dass Wertschätzung und Mitarbeiterorientierung kein sozialromantisches Klimbim sind, sondern knallhartes Businesskalkül, damit die Zahlen stimmen. Trotzdem kommt sie von innen, und so gibt der Erfolg ihm Recht und beweist, dass zufriedene Mitarbeiter und erfolgreiches Wirtschaften miteinander vereinbar sind.
Wer sich die sehenswerte Doku anschaut, erlebt nicht nur Gänsehautmomente und tiefe Berührungen, wenn erkennbar wird, wie sich das ganze Leben der Mitarbeiter durch eine wertschätzende Führung verändert, sondern er sieht auch, dass Janssens Kalkül aufgeht. Die um 80 Prozent gestiegene Mitarbeiterzufriedenheit führte zu einer um 98 Prozent gestiegenen Gästezufriedenheit und einer Verdoppelung des Umsatzes in den folgenden drei Jahren. Gleichzeitig sanken die Fehlzeiten von 8 Prozent auf unter 3 Prozent, während die neue Führungskultur zu einem so starken Imagezuwachs führte, dass die Anzahl der Bewerbungen um 500 Prozent stieg (vgl. Scherer 2016: 242). Fachkräftemangel bei Upstalsboom? Fehlanzeige!
Christian A. Bernhardt (*1975) ist Hochschuldozent für Kommunikationspsychologie, langjähriger Berater, Trainer und Speaker. Als Experte für den Fachkräftemangel betreute er über 500 Unternehmen bei der Personalgewinnung und der Verbesserung der Mitarbeiterbindung. Sein Fachbuch zur nonverbalen Kommunikation im Recruiting erreichte 2019 die Amazon-Bestsellerliste im Bereich Personalmanagement und wurde 2022 ins Englische übersetzt.
Er hält Trainings und Vorträge in Unternehmen und verschiedenen Universitäten in Deutschland und der Schweiz und berät Unternehmen bei der Einführung einer neuen Kommunikationskultur, Stärkung des Miteinanders und Entwicklung von Strategien gegen den Fachkräftemangel.