Konfliktmaximierung – Neun Stufen zum großen Knall

Stell dier eine Welt ohne Meetings vor. Keine gemeinen Dauerschwätzer und Selbstdarsteller. Effektives und Effizientes Arbeiten bleibt wohl ein Traum. Eine alltägliche Situation – zum Kotzen. Doch haut man auf den Tisch? Oder lässt man es sein? Konsequenzen hat beides. Doch irgendwie muss der Frust raus – der erste Schritt zum großen Knall ist getan …

Stell dir vor … Du sitzt – mal wieder – im Meeting. Eine Welt ohne Besprechungen, denkst du dir manchmal, das wäre was Feines. Dann könntest du ja mal richtig arbeiten. Aber nein, die Firma hat entschieden: Regelmäßiger Austausch im Team ist wichtig und richtig. Heute also das neunte Meeting der Woche: Redundanz hoch drei. Und niemand sagt was. Effektivität geht anders, Effizienz auch.  

Es kotzt dich an. Ja, es kotzt dich richtig an. Am liebsten würdest du mit der Faust auf den Tisch hauen. Aber das tust du natürlich nicht. Du hast Angst vor den beruflichen Konsequenzen.

Logisch. Doch auch deine Untätigkeit hat Folgen: Sie lässt deinen Ärger kontinuierlich ansteigen. So weit, dass du glaubst jeden Moment vor Wut zu platzen. Der Kollege redet und redet, dass es dich geradezu körperlich schmerzt. »Lange wird das nicht mehr gut gehen«, sagst du dir. – Da endlich: die ersehnte Pause. Du ergreifst sofort die Gelegenheit für ein privates Gespräch mit Nora. Sie denkt ähnlich über Stefan, das weißt du genau. Und schon geht‘s los. Du lästerst, was das Zeug hält, und sie nickt und feuert dich an. Du spürst Freude und Erleichterung, denn geteiltes Leid ist halbes Leid.

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Irgendwann hast du genug. Es kickt dich nicht mehr. Das bloße Lästern kann dich nicht mehr entlasten. Steigst du aus? – Nein, im Gegenteil: Du brauchst mehr. Wie ein Junkie, der die Dosis erhöhen muss, eskalierst du, ohne es zu merken. Eben noch im Stillen mit der Kollegin gelästert, beginnst du nun mit dem Bloßstellen. Denn jetzt möchtest du Stefan kränken. Und zwar vor allen. Also endlich raus damit in der Teamsitzung, was bisher nur Nora hören durfte: »Sag mal, lieber Kollege wirst du hier eigentlich nach der Länge deiner Redebeiträge bezahlt?«

Und damit hast du den Konflikt von Stufe 4 auf Stufe 5 angehoben. Bei insgesamt neun Eskalationsstufen ist das schon ganz beträchtlich. Was auf den einzelnen Stufen passiert und warum es wichtig ist, die innewohnende Dynamik von Konflikten zu kennen, erfährst du im nächsten Kapitel.

Die neun Eskalationsstufen im Überblick (nach Glasl)

Stufe 1: Verhärtung
Aufeinanderprallen unterschiedlicher Meinungen oder Verhaltensweisen.
Beispiel: Andrea bemerkt, dass Nandor nicht (mehr) grüßt oder E-Mails nicht mehr weiterleitet.

Stufe 2: Debatte und Polemik
Sichtbarwerden des Konflikts (offene Streits).
Beispiel: Bettina: »Was fällt dir ein?«; Markus: »Stell dich nicht so an!«

Stufe 3: Taten statt Worte
Rückzug der Beteiligten, die ihr Ding durchziehen, ohne miteinander zu reden.
Beispiel: Bernd verschränkt die Arme und beschließt, nichts mehr zu sagen. Edda verlässt daraufhin lautstark den Raum.

Stufe 4: Sorge um Image und Koalition
Suche nach Verbündeten und Hineinziehen von Dritten (Allianzen).
Beispiel: Thorsten beschwert sich über Annika beim Schulleiter; Annika über Thorsten beim Elternabend.

Stufe 5: Gesichtsverlust
(Öffentliches) Bloßstellen der Gegenseite durch Übergriffe aller Art (Vorwürfe, Provokationen etc.).
Beispiel: Toni schaut demonstrativ auf die Uhr, als Mona zu spät zur Besprechung eintrifft. Mona ahmt Tonis verlegenen Gesichtsausdruck nach.

Stufe 6: Drohstrategien
Drohungen mit drastischen Konsequenzen.
Beispiel: Walter kündigt an, nicht mehr an Meetings teilzunehmen, wenn Evi ihn noch einmal unterbricht; Evi droht an, sich beim Personalrat über Walter wegen Mobbing zu beschweren.

Stufe 7: Begrenzte Vernichtungsschläge
Erste Zerstörungsaktionen zur Ausschaltung des anderen.
Beispiel: Jenny klaut oder löscht Unterrichtsmaterialien von Christian; Christian schlitzt die Reifen von Jennys Auto auf.

Stufe 8: Zersplitterung
Vernichtungsaktionen, um die Gegenpartei zu erledigen.
Beispiel: Aneta sendet Drohbriefe an Klaus und macht Telefonterror.

Stufe 9: Gemeinsam in den Abgrund

Finale Vernichtungsschläge – auch zum Preis der Selbstvernichtung.

Beispiel: Die Beteiligten führen lange, teure Gerichtsprozesse.
Bei seiner Untersuchung von Konfliktdynamiken hat Glasl folgende grundlegenden Dynamiken beobachtet:

  • Konflikte haben die Tendenz zu eskalieren (von 1 nach 9).
  • Nicht alle Konflikte durchlaufen alle Phasen, und nicht alle Phasen sind immer voneinander trennbar.
  • Elemente der früheren Phasen können auch in späteren Phasen auftauchen.
  • Beteiligte Parteien können sich auf unterschiedlichen Ebenen befinden.
  • Je weiter der Konflikt eskaliert, desto schwieriger ist es, ihn zu lösen (Stufen 1 bis 3: win-win; Stufen 4 bis 6: win-lose; Stufen 7 bis 9: lose-lose)

Wenn du dir das Durchlaufen aller neun Stufen an einem konkreten Beispiel betrachten möchtest und gerne Filme schaust, dann empfehle ich dir die Beziehungsdramen Der Rosenkrieg und Gott des Gemetzels.
Praktisch bedeutet das … Ich habe vier Anregungen für dich, wie du an deinen Wahrnehmungen, deinem Denken und deinem Verhalten arbeiten kannst:

Nimm die Lupe, nicht das Fernglas

Schule deinen Blick für Konfliktpotenziale. Egal, welche Rolle du gerade innehast, ob Moderator, Beobachter, Entwickler oder Umsetzer, sei immer auch Konfliktvorbeuger. Stell deine Antennen auf Empfang für alle erdenklichen Konfliktmerkmale, die dir das vorherige Kapitel vorgestellt hat. Behalte jederzeit die sechs Merkmale im Auge: die drei inneren (Worte, Stimme, Körpersprache), genauso wie die drei äußeren (Körper, Geist und Seele). Denn nur wenn du dich auf alle sechs Ebenen geeicht hast, kannst du sich anbahnende Konflikte in frühen Phasen wahrnehmen und ihnen entgegensteuern.
Benutze also Lupe, statt Fernglas, und mach es dir zur Aufgabe, schon die kleinsten Anzeichen von Unstimmigkeiten, Interessenskollisionen oder Antipathien zu erfassen.

Erkenne Lästern als Wendepunkt und Schwelle zum Destruktiven

Die ersten drei Stufen der Konflikteskalation, also Verhärtung, Debatte und Polemik sowie Taten statt Worte, sind noch nicht weiter kritisch und meist unvermeidbar. Denn da, wo Menschen zusammentreffen, kommt es früher oder später zwangsläufig zu Differenzen, und wo Unterschiede auftreten, gibt es Konflikte. Ob »Verhärtung« als Stufe 1, »Debatten und Polemik« als Stufe 2 oder »Taten statt Worte« als Stufe 3 – die Erscheinungsformen ähneln sich und sind nicht weiter tragisch. Gruppen können sich aus diesen Phasen in der Regel selbst befreien und wieder zu einem offenen, wertschätzenden und konstruktiven Miteinander zurückkehren.

Verfolge gnadenlos den Grundsatz »Störungen haben Vorrang«

Dieser Grundsatz entstammt der Themenzentrierten Interaktion nach Ruth Cohn und anderen (www.ruth-cohn-institute.org/tzi-konzept.html). Stell dir vor, du sitzt mit deinen Kollegen in einem Workshop und spürst aufkommende Verstimmungen. Jetzt liegt es an dir: Hälts du die Klappe oder bringst du den Mut auf, deine Beobachtungen und Empfindungen offen anzusprechen? Eine schwierige Entscheidung. Wenn du dich für den ehrenhaften zweiten Weg entscheidest, wirst du dir nicht nur Freunde machen. Im Gegenteil. Denn wer aus der Gruppe wird es wohl begrüßen, die Sachebene zu verlassen, um auf der Beziehungsebene schwer greifbare Verstimmungen zu klären? Es passt nicht in unsere Leistungsgesellschaft, die Leitbilder Effektivität und Effizienz einfach über Bord zu schmeißen, nur weil jemand sich gerade nicht so gut fühlt. Das Leben ist schließlich kein Ponyhof.
In den meisten Fällen wirst du mit deinem Ich-möchte-mal-was-zur-Gruppenatmosphäre-sagen alleine sein. Und weil du wahrscheinlich keine Lust auf Ablehnung hast, wirst du vielleicht klein beigeben und eine innere Stimme in dir wird deine Sorge vor Eskalation unterdrücken. Verständlich. Einerseits.
Andererseits: Wie steht’s mit deiner Verantwortung? Ich möchte dich darin bestärken, die erwachsene Aufrichtigkeit zu wählen und anzusprechen, was du beobachtest hast. Vielleicht danken es dir manche gleich, andere vielleicht später – und womöglich auch niemand jemals. Was dir jedoch keiner nehmen kann, ist deine Integrität, in einem wichtigen Moment Verantwortung für die Gruppe übernommen zu haben und etwas Unpopuläres, aber Erfolgskritisches eingebracht zu haben.

Lass das Kind nicht in den Brunnen fallen

Neben dem Ob gibt es auch die Frage nach dem Wann, dem passenden Moment. Denn Störungen irgendwann mal anzusprechen, reicht leider nicht. Sprich sie so früh wie möglich an. Getreu dem Motto: »Wehret den Anfängen«. Denn je später du ein Stopp-Zeichen sendest, desto schwieriger wird die Klärung. Und manchmal wird es sogar zu spät sein. Denn nicht alles, was zu Bruch gegangen ist, kann wieder repariert werden. Es ist wie beim Braten im Ofen: Wenn du das erste leise Zischen und den ersten zarten Qualm ignorierst, kann es schnell vorbei sein mit dem üppigen Abendessen. Denn was einmal verbrannt ist, kann nicht mehr entbrannt werden. Ein Zu-früh kann es nicht geben, ein Zu-spät schon.

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