Komplexität mit der passenden Komplexität meistern

Zugegeben – die Überschrift ist etwas reißerisch gehalten. Wer oder was definiert den Begriff meistern? Doch er erscheint noch am geeignetsten, um den Umgang mit Komplexität zu beschreiben. Denn es geht nicht um eine mechanistische Kontrollvorstellung, sondern darum, eine Organisation zu gestalten, die mit den vielfältigen Veränderungen in der Um- und Inwelt Schritt halten kann. Und wer ein komplexes System lenken möchte, sollte zunächst eine Vorstellung davon haben, wie viele Zustände ein System einnehmen könnt

Damit verbunden ergeben sich weitere Fragen: Was will ich überhaupt lenken? Was kann ich überhaupt steuern? Dies sind zwar einfache, aber keine trivialen Fragen. Schon bei der Behandlung dieser Kontexte stößt man wieder auf den Begriff der Wechselwirkungen, die gemeinerweise auch wieder miteinander wechselwirken können.

Kann man Komplexität messen?

Im Folgenden möchte ich die Metapher vom »Spiel« verwenden, um den Zusammenhang von Komplexität, Regeln und daraus resultierenden möglichen Zuständen eines Systems darzustellen, sowie einen in der Kybernetik gebräuchlichen Begriff einführen, damit diese ominöse Komplexität etwas greifbarer wird.

Das Spiel der Könige

Schach ist ein Spiel, dem gemeinhin eine hohe Komplexität nachgesagt wird. Zwei menschliche Gehirne sitzen einander gegenüber und versuchen die verschiedenen möglichen Zustände der jeweiligen Spielsituation vorauszudenken – und dabei gleichzeitig die Denkweise des Spielgegners zu berücksichtigen. Im Wesentlichen geht es darum, den entscheidenden Spielzug weiter »vorgedacht« zu haben, um den Gegner zu besiegen. Es geht also darum, die möglichen Zustände der eigenen Spielfiguren und die des Gegners parallel im Kopf zu jonglieren. Profis sehen übrigens das Muster auf dem Brett und nicht die einzelnen Stellungen, so wie es Amateure normalerweise machen.
Das Konzept der möglichen Zustände eines Systems wird in der Kybernetik unter dem Begriff Varietät zusammengefasst. Damit erhalten wir eine brauchbare Bezeichnung, um Komplexität (zumindest zum Teil) messen zu können.

Zurück zum Schach: Im Spiel der Könige sind geschätzt 10 50 Zustände im Spiel möglich – eine durchaus ansehnliche Zahl: Hundert Oktillionen! Diese Anzahl an Zuständen ergibt sich aus 64 Feldern, zwei Spielerfarben und sechs Figuren, welche sich auf unterschiedliche Weise auf dem Brett bewegen dürfen. Hinzu kommen noch ein paar Sonderregeln wie zum Beispiel die Rochade. Man könnte meinen, dass aus relativ wenigen Zusammenhängen ein ungeheurer Möglichkeitsraum erschaffen wurde. Ein Wert von Hundert Oktillionen klingt nicht nach Ponyhof.

Da geht noch was

Das japanische Brettspiel Go bietet aber noch ganz andere Dimensionen. Angeblich soll der Möglichkeits-Raum von Go in der Größenordnung von circa 2,08 × 10180 liegen. Der Unterschied des Exponenten beträgt 10130! Also Oktillionen von Oktillionen. Heidewitzka! Das erfüllt auf jeden Fall den Tatbestand der Kenngröße für Komplexität = Varietät, denn das sind wirklich viele Zustände in einem Spielsystem.

Wie entsteht nun diese enorme Anzahl an möglichen Zuständen im Go? Dafür braucht es ein Brett mit 19 × 19 Feldern, zwei Farben, einem Steintyp und drei Regeln.

Aus diesen relativ wenigen Elementen heraus explodiert es dann vollends, wenn man den Entscheidungsbaum bei Go heranzieht: Die Varietät beträgt 10370 (!!!). Nur zum Vergleich: Astrophysiker schätzen, dass circa 1090 Atome im sichtbaren Universum existieren … Exponenten bringen die Neuronen wahrlich zum Brutzeln. 

Fazit: Aus einer geringen Anzahl von Elementen und Regeln entsteht eine höhere Varietät (Systemzustände). Es genügen wenige Komponenten, um eine sehr hohe Komplexität zu erzeugen. Dies erklärt auch, warum es einer jahrzehntelangen Erfahrung bedarf, um wirklich gut Go zu spielen. Denn der erfahrene Spieler sieht nicht mehr einzelne Steine, sondern Stellungsmuster, die er intuitiv zu lesen versteht.

Varietätsmanagement

Aus der Spieltheorie wissen wir, dass schon kleinste Änderungen an Regeln, Variablen oder sonstigen Komponenten erheblichen Einfluss auf die Varietät haben. Und genau dies ist die eigentliche Aufgabe eines Managers: Zuerst die »Spielbedingungen« zu begreifen und danach die Initiative zu ergreifen. Hin zu einem gesamtheitlichen Verständnis der Bedarfe und Bedürfnisse von Mensch und Organisation, und weg von einem hektischen Rumhantieren an einzelnen »Methoden-Ventilen« die im Zweifel alles nur noch verschlimmern.
Wie erlangt man Kontrolle?
Für diese Frage hat Ross Ashby (britischer Mathematiker und Psychologe) bereits in den 50er-Jahren eine grundsätzliche Antwort entwickelt:
»Komplexität wird mit Komplexität bewältigt.«

Das klingt vermutlich spontan unlogisch für Sie, wo doch zuvor die Rede von der Auswahl von Zuständen und dem Selektionszwang war. Doch zur Bewältigung einer komplexen Situation ist es (meistens) erforderlich, die eigene Komplexität zu erhöhen. Ein Beispiel aus dem Alltag:
Angenommen Sie wollten ein Haus bauen, wären aber nur dazu in der Lage, die Planung, die Elektrik und das Dach selbst zu realisieren. Dann wären nicht alle Fertigkeiten vorhanden, um das Haus zu bauen. Sie müssten zur Erreichung des Ziels weitere Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten hinzuziehen, um alle benötigten Gewerke des Hauses umsetzen zu können. Die »Anzahl der erforderlichen Zustände des Controllers« muss zur Situation beziehungsweise zum Kontext passen.

Dieses Beispiel beschreibt im wesentlichen die Funktionsweise von Ashbys Gesetz der erforderlichen Varietät.

Varietät (Controller) ≥ Varietät (Context)

Mit anderen Worten

Immer dann, wenn ein Kontext vorliegt und man in diesem ein Ziel erreichen möchte, braucht man eine entsprechende Varietät, die zum Kontext passt, damit man das Ziel erreichen kann. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass die eigene Varietät nicht unendlich hoch sein muss. Gleiches gilt auch für das zuvor aufgeführte Schach/Go-Beispiel. Hier muss die Varietät des Spielers höher als die des Gegners sein, um das Spiel zu gewinnen. Das beschreibt dann auch die Kunst des vernetzten Denkens, dem es gelingt, die erforderliche Energie zur Lösung einer Aufgabe aufzuwenden, aber eben auch nicht zu viel, da dies Verschwendung bedeuten würde. Nichtsdestotrotz braucht es aber auch Puffer, um in dynamischen Umfeldern Reserven in petto zu haben, falls sich die Planung als unnütz erweisen sollte. Wieder einmal zeigt sich auch an dieser Stelle, dass der Umgang mit Komplexität ein Sowohl-als-auch erfordert und das Austarieren der verschiedenen Anliegen und sich widersprechenden Ziele fortlaufend gefragt ist.

Lesen Sie auch Teil 2: Das Grundmuster allen Problemlösens

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