Hauptsache digital

“Wir müssen digitaler werden!” ist der Schlachtruf allerorts. Nach dem wirklichen Nutzen fragt niemand mehr. Tafeln werden durch Smartboards ersetzt, Prozesse werden solange digitalisiert, bis sie mehr Arbeit als vorher verursachen. Hauptsache digital!

Bei der Digitalisierung geht es um Technologiethemen. Zum Beispiel darum, neue, nämlich digital gesteuerte Produktionsanlagen anzuschaffen oder mit digital unterstützten Abläufen beispielsweise den Aufwand für die Unternehmenssteuerung drastisch zu reduzieren … – das ist ein klassisches Missverständnis; eng verwandt mit dem Irrglauben, Digitalisierung könne als Technologie quasi out-of-the-box gekauft werden.

»Die Zukunft macht leicht Narren aus den Unbelehrbaren, die sich zu lange an alte Gewissheiten klammern.«

Gary Hamel (* 1954); US-amerikanischer Ökonom und Unternehmensberater

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Jeff Immelt (CEO von GE) dazu: »I thought it was all about technology … I was wrong … We’ve had to drill and change a lot about the company … It’s infected everything we’re doing«. Gefragt ist bei der Digitalisierung zudem das menschliche (Augen-)Maß. Neuheit allein oder die Sorge, den Anschluss zu verpassen, taugen als Maßstab nicht.

»Damals, in den 1980ern …«

Die Grundannahme, die Digitalisierung sei mit einem entsprechenden Investitionsvolumen in Informationstechnologie zu meistern, berührt Erinnerungen aus der Anfangszeit der Computerisierung der Arbeitswelt – etwa in den frühen 1980ern. Damals lautete die entscheidende Frage, wenn es um die eigene Teilhabe am informationstechnologischen Fortschritt ging, gleichgültig, ob Unternehmen oder Privatperson: Einen Rechner kaufen – ja oder nein? Mit einem Rechnerkauf machte man – seinerzeit in gewissem Sinne tatsächlich – einen entscheidenden Schritt Richtung Zukunft. Und obendrein wurde man auch noch mit einem persönlichen Prestigegewinn als fortschrittsgläubiger »early-adoptor« belohnt. Doch: Heute ist die Lage komplexer.

Viel hilft leider nicht viel

Technologiefixierung, Technikgläubigkeit … – das resultiert für Unternehmen in erster Linie in Investition – gleichgültig, ob in eine Anwendung zum digitalen Dokumentenmanagement oder in eine Facebook-Kampagne. Wie wenig Erfolg versprechend so etwas sein kann, zeigt beispielsweise die Internet- oder Social-Media-Präsenz nicht weniger kleiner oder mittelständischer Unternehmen, etwa manch eines lokalen Handwerkers: oftmals eine schlecht gepflegte, mit dem Unternehmensgegenstand nicht wirklich in Verbindung stehende digitale Projektionsfläche. Besser: Sich zuallererst der lokalen Kundschaft widmen – den bisherigen und künftigen Kunden –, mittels Empfehlungen und Referenzen. Lebt ein Unternehmen von etablierter Stamm- und/oder Laufkundschaft, ist die Sinnhaftigkeit einer eigenen Internetpräsenz grundsätzlich zu hinterfragen. Zumindest als erster Schritt ist das nicht unbedingt für jeden das Beste; manchmal kann eine (gut gemachte) Visitenkarte im Internet mehr helfen als eine schlechte und schnell veraltende Homepage oder Social-Media-Präsenz.

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Eine Investition in BigData, Social Media oder mobile Anwendungen zahlt sich nicht per se aus, sondern sie will in engem Zusammenhang zur Geschäftstätigkeit des Unternehmens gesehen, dort eingebunden und nutzbar gemacht werden. Deshalb gilt: Ihren Anfang hat eine erfolgreiche digitale Transformation in der wirklichen Welt, im Analogen. Sie hat deutlich mehr mit dem organisationalen Aufbau, den Prozessen und insbesondere der Führung und Strategie eines Unternehmens zu tun als mit Technologie oder IT-Infrastruktur. Statt also Technik als Allheilmittel zu begreifen und Unternehmen Übertechnisierung aufzuoktroyieren, sollte die Gelegenheit genutzt werden, über das Wesentliche zu sprechen: über das »Wer«, also über Menschen, die diese Technik schließlich anwenden sollen, und über das »Warum«, also Werte beziehungsweise Ziele. Erst daraus entwickelt sich dann die geeignete IT-Anwendung, und gerade darin liegt oft die Wettbewerbsdifferenzierung.

Systemische Sicht- und Herangehensweisen

Es ist häufig der Einsatz spezifischer Technik, von dem Unternehmen sich Wettbewerbsdifferenzierung erhoffen – doch wirkt sich diese gleichermaßen häufig eben nicht im gewünschten Maß aus. Denn, um das noch einmal zu unterstreichen: Die Technik allein bewirkt gar nichts – der Gesamtzusammenhang ist entscheidend! Dass man beispielsweise die Funktionsweise eines technischen Gerätes begreift, heißt noch lange nicht, dass man auch abschätzen kann, wofür es verwendet werden kann. Für die Zeit der Industrialisierung gibt es das Beispiel mit der Dampfmaschine (Bunz 2012, 67 f): Das technische Verständnis dieser Erfindung half keineswegs dabei, vorherzusehen, welche neue Kulturtechnik sich mit ihr etablieren würde.

Es ist stets der gesamte Kontext, der entscheidet; das ist der Grund dafür, dass systemische Sicht- und Herangehensweisen für die erfolgreiche Partizipation an der Digitalisierung so hilfreich sind – denn sie leisten genau das, was es braucht: eine Perspektive, welche die unternehmerischen Bereiche Input, Output, Personal, Organisation und Technologie nicht isoliert, sondern integriert und interdisziplinär betrachtet.

Nicht der technologiefixierte Tunnelblick, sondern die umfassende Perspektive auf das Unternehmen ist gefragt. Das heißt konkret: Es gilt für einzelne Fachbereiche, stärker als bislang ganzheitlich zu denken und angrenzende Fachbereiche, aber besonders die IT, in ihre Planungen einzubeziehen. Für die IT bedeutet es im Umkehrschluss: agilere Anpassung an die Anforderungen aus dem Business, schnellere Umsetzung. Geschmeidige Kooperation von IT und Non-IT – es gilt klare Regeln für diese Zusammenarbeit zu formulieren.

Dass es nicht allein die Technik, sondern ganz entscheidend deren Anwendung ist, mittels derer Wettbewerbsvorteile generiert werden, zeigt beispielsweise die Unterminierung der Vergleichbarkeit von Preis-Leistungsmodellen. So können mit entsprechender algorithmischer Unterstützung dynamisch änderbare Preismodelle – basierend auf Zeit, Wettbewerbssituation und Nutzerverhalten – kreiert werden. In etlichen Branchen gibt es dieses Vorgehen schon, beispielsweise bei der Buchung von Hotelzimmern. Die Preise sind flüchtig und individuell; aus Nutzersicht unterliegt der Preisfindung kaum mehr eine nachvollziehbare Logik. Leistungsangebote werden – obwohl grundsätzlich vielleicht kaum differenzierbar – durch eine Anpassung an die Kundenbedürfnisse derart modifiziert, dass eine Leistung aus Kundensicht exakt zum eigenen Nutzungsprofil passt; höhere Such- und Set-up-Kosten minimieren opportunistisches Verhalten auf Kundenseite.

»Digital Natives«, »Industrie 4.0«, »FinTech«

»Eine Idee, die als Wahrheit abgewirtschaftet hat, kann als Schlagwort immer noch eine schöne Karriere machen.«

Hans Krailsheimer (1888 – 1958); deutscher Schriftsteller

Big Data, Cloud-Computing, Internet 4.0, Design Thinking, Internet of Things … – das sind nur einige wenige von vielen Schlagworten, mit denen die digitale Transformation beglückt. Zwar weiß niemand genau, was eigentlich gemeint ist; aber es klingt gut. Und wenn man solange eine Versionsnummer anhängt, entsteht die gewünschte konsensuale Unklarheit. Versuchen Sie es einfach mal mit »Big Data 3.0« – so etwas gibt es zwar der Sache nach nicht; gleichwohl: Ihre Zuhörer werden an Ihren Lippen hängen. Nahezu beliebigen Begriffen eine Softwarehauptversionsnummer beizugesellen, scheint eine Art Königsweg zur Aufmerksamkeitsgenerierung zu sein. Zunächst erfolgte es noch mit deutlichem Augenmaß. Internet 1.0 – existierte scheinbar nie. Web 2.0 – war lange vorherrschend. Web 3.0 – wurde übersprungen. Nun endlich gibt es die erwachsene Version – wahlweise als Web 4.0, Internet 4.0, Industrie 4.0 oder gesellschaftlich weiter gefasst als Arbeit 4.0 oder Leben 4.0. Vergessen wurde nur: Unsinn 4.1.

Buzz-Words – Schlagworte – sind beliebt wegen ihrer Beliebigkeit. Die Verständigung mittels Schlagworten hat den Vorteil, dass man weniger zu den Inhalten vordringt. Nahezu jeder Politiker kann beispielsweise entspannt über Gerechtigkeit oder Sicherheit plaudern, während diese Begriffe tatsächlich bei der Linken und der CSU doch sehr unterschiedlich gefüllt werden. Insofern lässt sich mit einem Begriff aus der politischen Rhetorik festhalten: Buzz-Words eignen sich besonders für Schaufensterreden: jene Vorträge, bei denen es nicht um Inhalte, sondern um Show geht.

Geht es indes um Inhalte, sind Buzz-Words aufgrund ihrer Missverständlichkeit, vorsichtig gesagt, kontraproduktiv. Wenn beispielsweise Überlegungen zu Industrie 4.0 oftmals nur auf die Erwägung einer weiteren Fertigungsautomatisierung hinauslaufen, dann ist das nicht sachgerecht und problematisch: Auf diese Weise verspielen Unternehmen Chancen gegenüber dem internationalen Wettbewerb, denn der Tunnelblick auf die Technik nimmt die Sicht auf das Gesamtunternehmen. Daher eignen sich Buzz-Words oftmals nicht für eine wirklich hilfreiche Debatte – sie verschleiern lediglich die Realität.

Zum Beispiel: »Digital Natives«

Nehmen wir zum Beispiel das Buzz-Word »Digital Natives«. Es bezeichnet eine bestimmte Generation, und gleichzeitig vollzieht es so – gerade mit Blick auf die digitale Wirtschaft – Kompetenzzuschreibungen.

Nun ist eine gewisse intergenerationelle Abgrenzung gewissermaßen »biologischer Auftrag«. Dass eine jüngere einer älteren Generation Rückständigkeit, Überholtheit, veraltetes Denken vorhält, ist nichts Neues. Klassischerweise begegnet die Elterngeneration dem mit Generosität: Man weiß um diese Abgrenzungsmechanismen, war schließlich selbst mal jung, und weiß vor allem auch, was man selbst damals eben noch nicht wusste. Doch mit der Digitalisierung und den Digital Natives verhält es sich ein wenig anders: Statt Generosität gibt es, überspitzt gesagt, Minderwertigkeitskomplexe und daraus resultierend so etwas wie Gefügigkeit und fast so etwas wie Anbiederung. Älter zu sein, scheint plötzlich tatsächlich zu heißen: rückständig und unwissend zu sein – nicht nur aus Sicht der Nachgeborenen, sondern aus der eigenen Perspektive. Die Älteren fühlen sich herausgefordert, zu demonstrieren, dass sie eben auch Digital Natives sind – irgendwie. Wenn Großmütter plötzlich Fotos vom Mittagessen per WhatsApp an die Enkel senden oder altehrwürdige Manager jeden Unfug auf Twitter verbreiten – dann hat das manchmal den Charakter des Nicht-Authentischen, des Sich-Fügens, der – sachlich unbegründeten – Subordination.

Tatsächlich ist es so, dass es in der digitalen Wirtschaft gerade nicht die Digital Natives sind, die auf der Kommandobrücke stehen und das Schiff steuern. Interessanterweise werden die zurzeit erfolgreichsten Internetunternehmen überwiegend von Menschen der 1950er- und 1960er-Geburtsjahrgänge geführt: Sie sind durchgängig ohne Digitalisierung aufgewachsen, also dem Alter nach keine Digital Natives, allenfalls Digital Immigrants. Es gibt offenbar keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Geburtsjahrgang und dem optimalen Umgang mit digitaler Komplexität und Unternehmenserfolg.

Wenn das Etikett »Digital Native« nicht für Kompetenz im Umgang mit digitaler Komplexität und unternehmerischen Herausforderungen steht – wofür steht es dann?

Es steht für eine Medienkompetenz, die in erster Linie Klick- und Bedienkompetenz ist, auf dem frühzeitigen Umgang mit digitalen Produkten gründend (ICILS 2013). Verbunden ist diese selbstverständliche Leichtigkeit im Klicken und Bedienen mit einer in den sozialen Medien antrainierten Fähigkeit des Ich-Marketings (JIM 2014). Das alles sind Eigenschaften, die gerade heute ausgesprochen nützlich sein können. Doch ein Irrtum ist es, die nützlichen Klick-, Bedien- und Selbstmarketingfertigkeiten beispielsweise mit Geschäfts-, Komplexitäts-, Sach- und Sozialkompetenz zu verwechseln.

»Die Alten denken antiquiert, sind rückständig und überholt – das weiß doch jeder. Wirklich?«

Die Sache hat indes – mindestens – zwei Seiten. In kritischen Beiträgen über Digital Natives hat es den Anschein, als handle es sich um eine Generation aus Pippi Langstrumpfs und Michels aus Lönneberga – nur dass Pippi und Michel sich nun nicht mehr mit Pferd, Affe und Ziegen, sondern mit ihrem Smartphone vergnügen. Auch das ist ein Irrtum. Wer so denkt, lässt sich von Äußerlichkeiten blenden. Auch die Behauptung, diese Generation flüchte sich, wenn es mal eng wird, lieber in ein Bällebad, statt eine inhaltliche Auseinandersetzung zu führen, hat zwar Witz – aber inhaltlich weiter bringt sie nicht.

Hinter den Etiketten: »FinTechs« & Co.

Grundsätzlich ist es mit den Buzz-Words im Kontext der Digitalisierung ein wenig wie im Märchen »Des Kaisers neue Kleider«: Nicht wenige hochbedeutsam klingende Begrifflichkeiten, die manch gestandenen Mittelständler verschrecken mögen, entpuppen sich bei kritischer Würdigung als Luftblasen – etwa als Marketingzuschreibungen durch Berater, Verbände, Produktanbieter.

Zusammengefasst: Es geht bei der Beschäftigung mit den Marketing-Begriffen der Digitalisierung um unsere »mentalen Muster«. Wir stehen immer wieder in der Gefahr, Dinge für wahr zu halten, nur weil sie oft genug wiederholt wurden – gleichgültig, von wem. Wir neigen dazu, Etiketten  überzubewerten – gerade, wenn wir mit gänzlich neuen und teils auch veritablen Herausforderungen konfrontiert sind. Wenn wir bei einem Gamer automatisch von einem männlichen Teammanager ausgehen, liegen wir damit falsch; wenn wir bei Generation Y von einem informatisch gebildeten Menschen ausgehen, ebenfalls; und wenn wir glauben, »Big Data« sei »the next big thing«, erneut.

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