Wir können im Netz Fakten tanken, wir können in der digitalen Welt Sinnvolles, Lehrreiches, Merkwürdiges oder wirres Zeug entdecken – nahezu das komplette Inventar des menschlichen Daseins. Alles ist zu jeder Zeit für jeden zugänglich. Doch das alles ist noch kein digitales Lernen. Digitales Lernen ist mindestens ein Missverständnis. Denn salopp ausgedrückt, beginnt Lernen zwischen den Ohren und das ist verdammt analog.
Wissen ist analog und bleibt ein Fels in der Brandung digitaler Verwahrlosung
Matthias Horx (Zukunftsforscher)
Der Segen hat allerdings auch eine Kehrseite. Die Menge an Informationen führt zu einer unüberschaubaren Flut von Reizen. Egal, womit wir uns beschäftigen, eine Ablenkung ist nur einen Klick weit entfernt. Wir fühlen uns oft überfordert, verirren uns im Wust an Informationen und merken, dass kaum etwas im Gedächtnis hängen bleibt. Wir lernen also nichts! Womit wir beim Thema wären.
Das Thema „Digitales Lernen“ ist allgegenwärtig. Es taucht in Büchern, Artikeln, in Zeitschriften sowie TV-Beiträgen auf. Diese Veröffentlichungen buhlen um die Aufmerksamkeit von Menschen, welche sich für Lehren und Lernen interessieren, und suggerieren, dass es „digitales Lernen“ gibt.
Und das ist ein kolossaler Irrtum oder, milder ausgedrückt, ein Missverständnis.
Es steckt noch viel Steinzeit in uns!
Doch zunächst einmal der Reihe nach. Im Verlauf der Evolution ist unser Gehirn auf eine Größe von etwa 1,4 Kg gewachsen. Der Mensch lernte die Vorzüge der Gemeinschaft zu nutzen, vollbrachte beachtenswerte kulturelle Leistungen, lernte fliegen und Auto fahren. Er „erfand“ die Sprache. Sie war so etwas wie das „Katapult in die moderne Welt“, so der Neurowissenschaftler Lutz Jähncke. Sprache und später auch die Schriftsprache waren die Treiber für eine neue Entwicklungsstufe. Das Verhaltensrepertoire unserer Spezies ist dadurch enorm erweitert worden.
Unser Gehirn besteht in seiner jetzigen Formation seit etwa 60 Tausend Jahren. Es hat viele vorwärtstreibende Innovationen hervorgebracht und dem Homo sapiens eine zuvor nie dagewesene Entwicklung beschert. Inzwischen befindet sich der Mensch am Ende der Nahrungskette.
Zwar hat sich unsere Spezies von ihren ursprünglichen biologischen Fähigkeiten im Laufe der Evolution weit entfernt, doch eines ist geblieben, das Hirn ist ein analoges Organ. Analoges Arbeiten und analoge Erfahrungen sind für Körper und Gehirn überlebenswichtig.
Seit kurzem wird unser Denkorgan mit einer digitalen Welt konfrontiert, auf die es nicht vorbereitet war. Während die Evolution des Menschen in einem langen, eher trägen Prozess verlief, ist die technische Entwicklung der letzten Jahrzehnte und damit auch die Digitalisierung unseres Lebens, sprungartig erfolgt. Zeitlich betrachtet ist das ein Wimpernschlag der Menschheitsgeschichte.
Kurz gesagt: Der Mensch ist mit einem grundlegenden Verhaltensmuster ausgestattet, das ihm ein vertrauenswürdiges Zusammenleben in einer Gruppe sichert, welches ihm Kontaktmöglichkeiten von Angesicht zu Angesicht ermöglicht und das ihn zu dem gemacht hat, was er heute ist. Wir sollten nicht vergessen, dass In unserem Gehirn noch in vielen Bereichen die Steinzeit steckt. Das gilt auch für das Lernen.
Wie lernt ein analoges Gehirn? Die einfachste Antwort lautet: So wie seit ewigen Zeiten.
Gehirne machen kein Download!
Jeder Lernprozess unseres Gehirns ist kein Schnellschuss, sondern ein längerer Prozess. Über die fünf Sinne gelangen die Impulse ins Gehirn. Dort erhalten sie eine emotionale Färbung und werden zu einem „stimmigen“ Gesamtbild geformt. Verschiedene Areale „entscheiden“, was weiter geschieht. Löschen, verändern, speichern? Was das Prädikat nützlich und wertvoll erhält, wird dauerhaft gespeichert. Eine Konsolidierung der Impulse und damit eine dauerhafte Speicherung erfolgt im Schlaf. Erst wenn der Lernstoff bei Bedarf erneut aufgerufen wird, ist der Lernprozess beendet. Bis zum nächsten Impuls, der wiederum die Netzkonfiguration verändert. Was benutzt wird, verstärkt sich, was unbenutzt bleibt, wird schwächer. Die „Hardware“ Gehirn ist durch die „Software“ (sämtliche geistige Aktivitäten) einem permanenten Umbau ausgesetzt. Man nennt das Neuroplastizität.
Wie die Gehirnforschung zeigt, hinterlässt jede geistige Aktivität Spuren im Hirn, genauer in den Nervenzellen. Davon besitzen wir etwa 86 Milliarden. Die Nervenzellen verknüpfen sich miteinander und dienen der Informationsverarbeitung. Eine Nervenzelle bildet etwa 1.000 synaptische Kontakte aus und empfängt durchschnittlich etwa 10.000 Verbindungen.
Jede geistige Aktivität verändert die neuronalen Verbindungen. Wir nennen das Lernen. Diese Vorgänge laufen grundsätzlich bei jedem Lernprozess ab. Egal, was gelernt wird.
Für das Gehirn gibt es keine Downloads.
Wir lernen analog!
Wir erkennen demnach, dass wir zwar problemlos digitale Informationen aufnehmen können, so wie es auch mit Printmedien üblich ist, aber das hat mit digitalem Lernen nichts zu tun. Was ist gemeint, wenn das Schlagwort „Digitalisierung“ verwendet wird? Was verstehen viele Pädagogen und Bildungsexperten unter „Digitalisierung des Unterrichts“? Es herrscht ein diffuses Verständnis, was gemeint ist.
Mit Digitalisierung des Lernens ist nicht das Lernen an sich, sondern die Auseinandersetzung mit digitalen Medien im Unterricht gemeint. Hier verschwimmt häufig die Unterscheidung. Der Leitmedienwechsel vom Buch zum Computer ist oft herausfordernd. Wird der Zuwachs an digitalem Equipment klassische Medien im Bildungsumfeld zunehmend verdrängen? Untersuchungen ergaben, dass ein Großteil der Lehrkräfte bereits digitale Medien benutzt.
Doch wie wirkt sich der Einsatz digitaler Medien auf die Lernleistung aus? Konkrete Studien, welche den Lerneffekt durch digitale Medien im Unterricht untersuchten, gibt es wenige und die wenigen sind ernüchternd. Eine Untersuchung an einer US-Militärakademie sowie Studien an einigen Universitäten ergaben, dass der Einsatz beispielsweise von Laptops die Lernleistungen verschlechtern.
Woran liegt das? Informationen, die wir am Bildschirm lesen, nehmen wir anders wahr als in gedrucktem Format. Beim Lesen in einem E-Book gerät die räumliche und zeitliche Orientierung von Inhalten eher durcheinander als beim Lesen eines gedruckten Buches.
Wir sollten aber Lerninhalte nicht verwechseln mit Lernwerkzeugen. Weder digitale noch analoge Lernmaterialien haben einen Selbstzweck in sich. Das Gehirn merkt sich ohnehin am besten, wenn es die Lerninhalte aktiv erarbeitet.
Auch wenn uns die „Digitalisierung des Lernens“ noch lange beschäftigen wird, eine neue Technologie revolutioniert nicht die grundlegenden Prinzipien des Lernens. Wie Gehirne seit tausenden von Jahren arbeiten, lässt sich nicht im Handumdrehen verändern. Das Analoge wird zukünftig sogar an Bedeutung gewinnen, wenn der Hype nachlässt. „Ein gut eingesetztes Schulbuch“, so der Neurowissenschaftler Dr. Henning Beck, „bringt mehr als eine durchschnittliche Lern-App.“
Im Silicon-Valley, wo die Digitalisierung maßgeblich entwickelt wurde, werden die Kinder von Bill Gates, Steve Jobs und anderen auf vollständig analoge Schule geschickt…
Michael Kühl-Lenjer verknüpft langjährige Vertriebs-, Führungs- und Trainingserfahrungen mit aktuellen Erkenntnissen der Gehirnforschung. Als Business-Trainer und Kommunikationsberater unterstützt er Unternehmen und Ausbildungsinstitute dabei, neurowissenschaftliche Aspekte in ihre Aus- und Weiterbildung einfließen zu lassen. Michael Kühl-Lenjer ist Mitglied in der Akademie für neurowissenschaftliches Bildungsmanagement (AFNB) und bezieht seine neurobiologischen Kenntnisse direkt von Wissenschaftlern.