Die klassische Linienorganisation ist längst ein Oldtimer. Und nun geht es mehr und mehr auch der Matrixorganisation an den Kragen. Aber was folgt danach? Können Organisationen ohne Hierarchie und feste Strukturen überhaupt überleben? Und welche Rolle spielt Führung im Unternehmen der Zukunft?
Lars G. arbeitet in einem mittelständischen Industrieunternehmen als Projektmanager. Sein Job ist es, Aufträge von der Konstruktion über die Fertigung bis hin zur Auslieferung zu begleiten und dafür zu sorgen, dass Qualität, Kosten und Zeitplan stimmen. Das Unternehmen hat bisher vorwiegend standardisierte Produkte gefertigt. Die Endprodukte ließen sich meist modular zusammensetzen. Keine Routine zwar, aber immer noch überschaubar. Jetzt hat sich das Marktumfeld aber derart verändert, dass immer mehr Kunden Speziallösungen nachfragen, die ein eingehendes Customizing erfordern. Zudem ändert sich das technologische Umfeld und die Konkurrenz schläft nicht.
Dazu braucht Lars nun eigentlich so etwas wie einen kleinen Think Tank mit Leuten aus Entwicklung, Produktion und Vertrieb sowie Kollegen aus dem Projektmanagement. Das aber ist nicht so einfach, denn das Unternehmen besteht eher aus Inseln von Zuständigkeiten. Wissensaustausch ist schwierig, denn Wissen ist ja bekanntlich Macht und überhaupt: „Was geht mich dein Projekt an, wenn ich selbst genug mit meinen Projekten beschäftigt bin?“ Nun ist Lars aber kein Einzelfall. Vielen Kollegen geht es ähnlich. Doch jeder hockt auf seiner Insel und verteidigt tapfer deren Küste. Alltag in der Matrix. Mitarbeiter sind gefangen im Netz aus disziplinarischer Zuständigkeit und Projektverantwortung. Konkurrenz um Ressourcen und Macht zwischen den Verantwortungsträgern behindern marktorientiertes Handeln und kosten Zeit. Tagesordnung in vielen Unternehmen.
Jenseits von Hierarchien
Insbesondere kleine Startups kennen dieses Problem nicht. Sie agieren wesentlich flexibler. Und sind damit größeren Mitbewerbern oft nicht nur eine Nasenlänge voraus. So hat das 2003 gegründete amerikanische Startup Tesla Motors innerhalb weniger Jahre die großen Autokonzerne im Bereich Elektromobilität locker abgehängt. Überall dort, wo Flexibilität und Kreativität gefragt sind, greifen herkömmliche und starre Prozesse meist nicht mehr. Insbesondere im Bereich Forschung und Entwicklung sind interdisziplinäre Teams gar nicht mehr wegzudenken. In einem volatilen Marktumfeld ist Agilität unverzichtbar. Kein Wunder, dass sie vor allem in der IT-Branche boomt.
Was aber zeichnet agile Unternehmen besonders aus? Dazu gibt es zahlreiche Aussagen in der Literatur. Im Kern sind es aber vor allem folgende Eigenschaften:
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Vernetzung statt Hierarchie: Jenseits formeller Strukturen gibt es Austausch quer über alle Ebenen und Bereiche. Transparenz und Wissensaustausch sind selbstverständlich. Die Idee mancher Manager, neue Ideen in die gegebenen Strukturen zu pressen, zeigt weniger deren Führungsstärke als mehr deren mangelndes Verständnis komplexer Systeme. Die erfordern nämlich cross-functional Networking jenseits von Hierarchien und formellen Verantwortlichkeiten.
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Flexibilität der Prozesse statt Best Practice-Lösungen: Die Idee, Aufgaben immer innerhalb gegebener Prozesse zu erledigen, mag dort funktionieren, wo diese Aufgaben sich tatsächlich gut in Standards abbilden lassen. Dort und nur dort greifen Best Practice Lösungen. Mit zunehmender Komplexität von Markt und Technologie funktioniert das immer weniger. Hier sind oftmals spontane Entscheidungen nötig, die von gegebenen Prozessen abweichen. Das ist in Unternehmen ein Problem, die sich mit einem überzogenen Qualitätsmanagement oder zu starr definierten Prozessen ein zu enges Korsett gebaut haben.
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Schnelle Entscheidungen statt langwieriger Verfahren: Entschieden wird dort, wo die Kompetenz sitzt und das ist nicht unbedingt dort, wo die disziplinarische Verantwortung liegt. Das bedeutet, dass Manager Entscheidungsbefugnis an Projektteams oder an einzelne Mitarbeiter abgeben. Das bedeutet aber auch, dafür Verantwortung zu übernehmen, wenn die Dinge anders laufen als erwartet.
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Führung durch Moderation statt durch Manipulation: „Ober schlägt Unter“ ist ein geflügeltes Wort in hierarchischen Organisationen. Der Chef hat in Zweifelsfall immer Recht. Und er versucht, seine Mitarbeiter davon zu überzeugen. Nicht so in agilen Unternehmen. Dort wandelt sich seine Rolle. Er wird zum lösungsorientierten Moderator, der Mission, Vision und Strategie des Unternehmens im Blick hat und dafür sorgt, dass Entscheidungen innerhalb dieses Rahmens getroffen werden. Nur ist er dabei nicht mehr Dirigent sondern eben Moderator oder Coach.
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Vertrauenskultur: Arbeit in agilen Teams erfordert Beziehungspflege auf Basis von Vertrauen. Nur dort, wo Menschen integer handeln, Vereinbarungen einhalten, sich gegenseitig unterstützen und offen miteinander kommunizieren, kann Vertrauen wachsen. Das bedeutet aber nicht, dass es in agilen Teams keine Kontrollmechanismen und kein Benchmarking mehr gibt. Kontrolle im Sinne von Monitoring ist unverzichtbar, wenn Organisationen bestimmte Standards erfüllen wollen. Aber Kontrolle, die von Misstrauen getrieben ist, braucht niemand.
Neues Mindset, neue Führung
Ob ein Unternehmen agil ist, entscheidet nicht die Geschäftsführung, sondern das Mindset der Organisation, also die Grundhaltungen und Einstellungen von Management und Mitarbeitern. Und das unterscheidet sich grundlegend von konventionellen Unternehmungen. Während direktives Management, aber auch das sinnvermittelnde transformationale Management mit dem Begriff Führung immer noch das Bild des „Big Leader“ als wichtigste, gestaltende und treibende Kraft im Unternehmen verbindet, werden in agilen Unternehmen im Idealfall alle zu Gestaltern und treibenden Kräften. Entscheidungen werden nicht qua Autorität getroffen, sondern entstehen aus einem Diskurs oder werden sogar an einzelne Mitarbeiter delegiert. Das Management gibt lediglich den Rahmen vor. Jeder Einzelne hat damit aber immer auch das Ganze im Blick. Kooperation geht damit vor Konkurrenz, Außenfokus vor Innenfokus. Silodenken und die wenig wertschöpfende Beschäftigung mit sich selbst gibt es in der Organisation der Zukunft nicht mehr.
Und Führung bedeutet auch nicht mehr Überzeugen, Anweisen, Delegieren und Feedback geben. Sondern Führung bedeutet nunmehr, Menschen darin zu begleiten, ihre Potentiale für die Organisation optimal zu entwickeln und dafür zu sorgen, dass gute Entscheidungen für gute Lösungen getroffen werden. Was eine gute Lösung ist, bestimmt aber nicht mehr der Manager, sondern der Kunde. Gute Lösungen sind das Ergebnis eines iterativen Prozesses. Gute Lösungen wachsen. Und dazu gehört auch eine Kultur des Irrtums. Teams der Zukunft erkennen, dass Scheitern immer eine Chance zum Lernen ist. Führung zielt daher nicht mehr darauf ab, die richtige Billard-Kugel im richtigen Loch zu versenken, sondern Führung ist die Gabe, mit mehreren Bällen geschickt jonglieren zu können.
Keine „lästige Demokratie“
Kritiker wenden ein, dass diese „lästige Demokratie“ Unternehmen eher lähmt als beschleunigt. Partikulare Entscheidungsprozesse seien zu lang. Das Gegenteil ist aber der Fall, denn oft sind es eben zeitraubende, starre, über mehrere Hierarchieebenen verlaufende Entscheidungsprozesse, die in traditionellen Unternehmen für viel mehr Trägheit sorgen. Vergleichende Studien konnten zeigen, dass agile Teams schneller zu besseren Lösungen kommen als konventionelle Teams. Dazu tragen wohl auch neuartige Kommunikationskonzepte wie z.B. Scrum,, Design Thinking und World Café bei.
Lars G. überlegt sich derweil übrigens, seinen Job zu wechseln. Er hat sich bei einem sehr agilen Mitbewerber beworben und er hat mit seiner Expertise und seinem Elan auch gute Chancen, den Job zu bekommen. Schade für seinen derzeitigen Arbeitgeber.
Dr. Constantin Sander hatte eine mehrjährige Karriere in der naturwissenschaftlichen Forschung hinter sich, als er in die Wirtschaft wechselte und dann in einem mittelständischen Unternehmen die Marketingleitung übernahm. Kommunikative Prozesse faszinierten ihn schon lange und so absolvierte er neben dem Job zunächst eine Ausbildung zum NLP-Master und später zum Integrativen Coach. Er betreibt in Heidelberg eine Coachingpraxis und berät Firmen im Marketing. Am liebsten geht er mit seinen Klienten in den Wald: „Dort gibt’s keine Wände, sondern Bäume, die fast in den Himmel wachsen. Und daher auch genug Inspiration für die manchmal eingeschränkte Wahrnehmung.“