Die Lüge von der Eigenverantwortung

Endlich eine glückliche Belegschaft. Eine, die traumhafte Produktivität bringt – mit satten Profiten. So predigen es die Evangelisten der New Work. Klingt doch toll! Den Zentralschlüssel dazu liefern sie gleich mit: Eigenverantwortung und Selbstorganisation. Doch das ganze Gerede von der Eigenverantwortung isT eine Lüge.

Die große Lüge von der Eigenverantwortung der New Work Marketer

Nicholas Taleb stellt in seinem Buch »Skin in the Game« folgende Frage: „Stellen sie sich vor, sie haben eine schwere Verletzung und müssen operiert werden. Zur Auswahl stehen ein eloquent charmanter Chirurg, der einem Modemagazin entsprungen sein könnte und einer, der flapsig daherredet und aussieht wie ein Metzger. Welchen wählen sie aus?“ Anhand von Versuchen mit ähnlichen Vergleichen zeigt er auf, dass die Mehrheit den Arzt aussucht, der dem Klischee entspricht. Also dem ersten Kandidaten. Taleb bezieht Stellung und meint, er würde sich immer für den Schlachter entscheiden. Warum? Weil Chirurgie ein anspruchsvoller Beruf ist. Und er vertraut lieber dem, der sich seine Position mit einer hohen Wahrscheinlichkeit hart erkämpfen musste (dem Metzger), als einem Menschen, dem ein Teil der Karriere einfach aufgrund von Vorurteilen zugeschrieben wurde. Und was hat das jetzt bitte mit der Lüge von der Eigenverantwortung zu tun? Ganz einfach, die Unternehmerinnen und Unternehmer glauben den falschen Leuten.

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Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass die allermeisten – nicht selten selbsternannten – New-Work-Agilitäts-Unternehmensdemokratie-Experten aus Marketing-Agenturen kommen oder ehemalige Journalisten sind? Überprüfen Sie bei Gelegenheit einfach einmal die Vita einer Autorin / eines Autors, der Ihnen mit eingängigen Worten darlegt, was in Ihrer Firma zu tun ist, damit neues Arbeiten entsteht. Sie treffen in der weiten Mehrheit auf Menschen, die Kommunikation und/oder Journalismus gelernt haben. Ihr Arbeitsplatz findet sich hauptsächlich auf der Bühne als Redner oder am Schreibtisch in Agenturen, Redaktionen beziehungsweise ihrem Homeoffice. Das sind Leute, die sich gut darauf verstehen, Sachverhalte nachvollziehbar zu erklären, von denen sie kaum eine praktische Ahnung haben. Oder anders gesagt, die Ihnen, im guten Glauben, etwas verstanden zu haben, einen wichtigen Teil der Wahrheit vorenthalten. Das machen sie, da der Zusammenhang sonst schnell zu kompliziert für eine eingängige Sprache wird. Ein häufig anzutreffendes Beispiel davon ist das Thema Eigenverantwortung.

Die Lüge von der Eigenverantwortung entlarvt

Wer für die Geschicke einer Firma rechenschaftspflichtig ist, sollte vorsichtig sein, Eigenverantwortung per se zu fordern. Denn was bedeutet das? Das Wort fasst zusammen, dass jemand a) weiß, was er tut und b) für die Konsequenzen daraus gerade steht. Soweit so gut! Jetzt lassen Sie uns das mal auf eine konkrete Situation im Arbeitsalltag anwenden.

Es ist Viertel vor vier am Nachmittag. Der Monteur Franz stellt auf seiner Baustelle fest, dass ihm die Dübel ausgegangen sind. Er hat jetzt zwei Möglichkeiten. Erstens, er fährt zum nächsten Baumarkt und holt eine Schachtel der Befestigungshelferlein. Das sind ungefähr zwanzig Minuten Weg hin und zurück. Dann noch eine dreiviertel Stunde Montage. Das heißt, um kurz vor fünf ist er mit der Montage fertig und auf dem Heimweg. Alternativ kann er einen Materialschein ausstellen und auf der Stelle seine Arbeit abbrechen. Das Formular füllt er im Handumdrehen aus. Sprich, er ist in wenigen Augenblicken, ohne Fertigstellung der Arbeiten, auf dem Sprung in den Feierabend. Aufräumen muss an irgend einem anderen Tag irgendjemand. Vielleicht er, vielleicht ein Kollege. Egal, wie er sich entscheidet, solange er die Konsequenzen für sein Tun trägt, handelt er eigenverantwortlich.

So leid es mir tut: Das ist die Realität, die ich kenne. Natürlich gibt es viele Typen von Mitarbeitenden. Einige mögen sich für Variante eins entscheiden, je länger die Menschen allerdings »im Job« sind, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie das frühere Nachhausekommen wählen. Und ja, das ist selbstverantwortlich! Das Beispiel soll zeigen, im Kern geht es um etwas ganz anderes.

Um was es wirklich geht

Die Kritik der Evangelisten stimmt. Die vorherrschende Arbeitsorganisation des zwanzigsten Jahrhunderts verhindert systematisiert Eigenverantwortung. Damit klammert sie auch die Chancen aus, die in ihr liegen. Firmen, die ihren Mitarbeitenden genau vorschreiben, was sie wann, wie und wie lange zu tun haben, sind mechanistisch. In ihnen sind Menschen auf ihre Fähigkeiten reduziert, als Objekt dem Prozess zu dienen. Viele vergessen, exakt so will es das Scientific Management. Es idealisiert folgenden Zusammenhang: »Einige wenige denken und entwickeln daraus Vorgaben. Der Rest hält sich diszipliniert an die Anweisungen. Die Manager sind verantwortlich. Die Masse erfüllt.« 

So lange sich die Rahmenbedingungen, in denen die Firma unterwegs ist, träge verändern, ist das ein wahres Erfolgsrezept. Doch genau das ist heute kaum noch der Fall. Da klingt es einleuchtend, bei den Menschen ihre Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Handeln abzurufen. Im einen Moment erkennen die Theoretiker diesen Fakt und schon rufen sie laut: „Heureka!“ und erklären die Situation als gelöst. Doch wie wir am einfachen Beispiel von oben verstehen, haben sie es nur verkompliziert. Denn wer versucht, eine mechanistische Organisation durch die Anwendung von komplexen Elementen, wie etwa eigenverantwortlichen Mitarbeitern, zu optimieren, bekommt in den allermeisten Fällen als Ergebnis schlicht ein heilloses Durcheinander.

Verstehen Sie mich bitte richtig, ich befürworte Eigenverantwortung! Soll sie allerdings zum Erfolgsfaktor Ihres Betriebs werden, benötigen Sie ein komplett anderes Organisationssystem. Ich nenne diese Firmen adaptive Organisationen. Sie treten willentlich aus dem Mechanismus von formal festgelegten Führenden und Geführten aus. Sie verlassen die funktionsorientierten Silos. Sie verstehen, das Planung nur den Zufall durch den Irrtum ersetzt. Sie formulieren die Sehnsucht vom Artikelanfang messerscharf:

»Wie schaffen wir es, dass unsere Mitarbeitenden die Bedürfnisse des Unternehmens in ihrer gelebten Eigenverantwortung im Sinne der Firma berücksichtigen?«

Das gelingt, indem Sie die Menschen die Firma in sämtlichen Belangen mitgestalten lassen. Alle beschließen die Strategie. Betroffene verändern ihre Prozesse. Einzelne übernehmen die Verantwortung für ihren Alltag. Doch mit dem Gestalten fängt es nur an. Adaptive Organisationen versuchen erst gar nicht, Unheil von den Mitarbeitenden fernzuhalten. Sie zeigen ihnen anhand eines transparenten Controllings auf, wo es droht. Was dann zu tun ist, entscheiden die Menschen selbst. Ohne Anweisungen von oben. Und sie stehen dafür gerade, was dabei heraus kommt. Das ist Eigenverantwortung, die funktioniert. Das ist Eigenverantwortung, die sinnvolle Produktivität schafft. Das ist Eigenverantwortung, die Mitarbeitende ernst nimmt. Das sorgt für eine zufriedene, zugewandte Belegschaft.

Und so frage ich. „Sollten wir uns wirklich weiterhin damit belügen, dass Eigenverantwortung ein unverantwortliches Organisationssystem verbessern soll, wenn es in unserer Macht liegt, selbstwirksam zusammen zu arbeiten?“ Ich weiß: „Wir können das besser!“

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