Regelbrecher brauchen Nerven aus Stahl

Regeln sind durchaus sinnvoll, doch manchmal hinderlich. Es gibt immer wieder Situationen die ein beherztes Eingreifen notwendig machen und den Regelbruch notwendig machen. Doch das erfordert Mut, sich gegen Regeln, gegen den Mainstream und vielleicht sogar gegen die eigenen Zweifel zu stellen.

Am 15. Januar 2009 geschah etwas, das viele Menschen ein Wunder nannten: Einhundertfünfundfünfzig Menschen saßen an Bord eines Airbus A320 auf dem Weg von New York nach Charlotte, North Carolina – und plötzlich Ausfall beider Triebwerke kurz nach dem Start über New York nach einer Kollision mit Wildgänsen. Flugkapitän Chesley Sullenberger ahnte schnell, dass er keinen Flughafen mehr für eine Notlandung erreichen würde. Er fasste eine unglaubliche Entscheidung: Notlandung auf dem Hudson River. Der Siebenundfünfzigjährige schaffte das schier Unmögliche: Er landete den Airbus auf dem Hudson River und rettete allen einhundertfünfundfünfzig Menschen an Bord das Leben.

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Die Weltpresse hat schnell von einem Wunder gesprochen – für Psychologen war jedoch klar, dass der Pilot eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat, was mentale Stärke bedeutet. Ein Pilot, der von jetzt auf gleich aus seiner Routine gezerrt wurde und auf den Punkt genau in der Lage war, seine Leistung abzurufen. Hier war jemand, der entgegen allen Umständen in einem Bruchteil einer Sekunde die richtigen Entscheidungen getroffen hat.

Warum erzähle ich diese Geschichte, wo sie doch mit Regelbruch im eigentlichen Sinne nichts zu tun hat?

Doch, hat sie. Regelbrüche reißen uns aus Routinen raus. Man tut Dinge, die man noch nie gemacht hat, schwimmt gegen den Strom und verlässt die Komfortzone. Will man hier bestehen, braucht es eine starke Psyche. Mentale Stärke ist ein Eckpfeiler des Regelbruchs. Wer psychisch nicht stark ist, wird am Regelbruch im wahrsten Sinne des Wortes zerbrechen.

Aber was genau ist mentale Stärke eigentlich?

Mentale Stärke ist die Fähigkeit, im entscheidenden Moment unter den gegebenen Bedingungen die bestmögliche Leistung abzurufen. Dafür bedarf es maximaler Konzentration und der Fähigkeit, alle Störfaktoren und Ablenkungen mental auszublenden. Dem mentalen Bereich liegt dabei eine ganz einfache Erkenntnis zugrunde: Nämlich, dass wir unser Unterbewusstsein durch unsere Gedanken derart beeinflussen können, dass dadurch in unserem Kopf über Erfolg oder Misserfolg unseres Tuns entschieden wird.

Wir Menschen kommen zwar aus Gefühlen heraus erst ins Handeln, aber für unsere Gefühle sind unsere Gedanken verantwortlich. Es ist ein ganz einfaches Prinzip: Positive Gedanken sorgen für positive Gefühle und negative Gedanken für negative Gefühle. Wer morgens wach wird und niedergeschlagen ist, Ängste verspürt, Antriebsprobleme hat oder aber vor Motivation strotzt, hatte vorher einen Gedanken, der genau dieses Gefühl verursacht – und mit diesem Gefühl handeln wir.

Am Anfang von all dem, was wir machen, steht immer ein Gedanke, und dieser Gedanke hat Macht. Jeder kann es selbst ausprobieren: Laufe einmal über einen schmalen Schwebebalken in zwei Metern Höhe und lasse deinen Gedanken freien Lauf – wie du einen falschen Schritt machst, das Gleichgewicht verlierst, vom Balken fällst und auf den Boden aufschlägst. Hast du diese Gedanken, kommt die Angst. Dein Herz fängt an zu pochen, der Blutdruck steigt, Muskeln verspannen sich, jegliche Gelassenheit und Souveränität gehen von jetzt auf gleich verloren und die einfachsten Dinge gelingen nicht mehr. Von dem Moment an ist jeder Schritt ein absolutes Risiko.

Nimmt man die identische Ausgangssituation, nur dass der Balken diesmal auf dem Boden liegt, ändert sich der Ablauf radikal: Keine negativen Gedanken, keine Angst und der Balken wird ohne zu zögern überquert. Diese Differenz hat nicht etwa was mit der Höhe der Balken zu tun – diese Differenz ist Ausdruck einer unterschiedlichen mentalen Verfassung. Laufen wir über den Balken in zwei Metern Höhe, fangen wir ganz automatisch an nachzudenken, und die Gedanken sind selten positiv. Laufen wir über den Balken am Boden, haben wir die Gewissheit, dass uns nichts passiert, und schalten den Kopf aus. Dabei ist es genauso einfach, den Schwebebalken zu überqueren wie den Balken, der am Boden liegt. Was es so schwer macht, sind unsere Gedanken.

Doch was hat das Ganze mit Regelbruch zu tun?

Die zwei Balken sind lediglich eine Metapher. Der Balken am Boden steht für die stupide Befolgung von Regeln. Man befindet sich in seiner Komfortzone, wo das Grundbedürfnis Sicherheit oberste Priorität hat – Sicherheit, die in Regeln gefunden wird.

Der Schwebebalken symbolisiert den Regelbruch. Er findet außerhalb der Komfortzone statt. Das Risiko zu scheitern und negative Konsequenzen davonzutragen ist stark erhöht, der Ausgang ungewiss.

Genauso, wie viele Menschen mental nicht in der Lage sind, den Schwebebalken zu überqueren, sind sie es auch nicht, Regeln zu brechen. Nicht weil sie es nicht wollen, sondern weil sie außerhalb ihrer Komfortzone nicht handlungsfähig sind.

Vielen Menschen versagen in den entscheidenden Situationen die Nerven. Bei der alles entscheidenden Kundenpräsentation, dem Vortrag vor Investoren, dem Bewerbungsgespräch für den Traumjob oder eben dem Regelbruch. Die Gründe dafür sind schnell gefunden: »Ich hatte einen schlechten Tag.« Diese Begründung erfährt von der Mehrheit Akzeptanz, denn sie wird ähnliche Situationen erlebt haben und zu gleicher Erkenntnis gekommen sein. Was schön klingt, ist nicht mehr als eine Ausrede. Die unbequeme Wahrheit ist eine andere: Man hatte keinen schlechten Tag – man war nicht in der Lage, sein Leistungsvermögen abzurufen, und ist am inneren oder äußeren Druck zerbrochen. »Am Kopf gescheitert«, wie man so schön sagt. Diesem Druck sind Rulebreaker ganz besonders ausgesetzt. Die Erwartungshaltung an sie ist oftmals immens hoch. Dennoch schaffen sie es, mit diesem Druck umzugehen, ihn zu kanalisieren und in Energie umzuwandeln.

Aber wie machen sie das?

Sie arbeiten mit den richtigen Zielen. »Richtige Ziele« stehen hier als Synonym für Ergebnisziele und Handlungsziele. Diese beiden Ziele sind entscheidend für die mentale Verfassung.

Ergebnisziele sind objektive, quantitative und messbare Ausgänge. »Ich will den Kunden gewinnen« oder »Ich möchte dieses Jahr befördert werden«, um nur zwei Beispiele zu nennen. Ergebnisziele sind wichtig. Wir leben in einer ergebnisorientierten Welt und am Ende des Tages zählt immer nur das Ergebnis. Niemand wird mit Gratulationen und Jubelarien überhäuft, sollte er ein erhofftes Ergebnis nicht erreicht haben.

Hier wird der entscheidende Fehler begangen: Es wird sich zu sehr auf das Ergebnis fokussiert. Dieses Vorgehen führt zu innerem Druck, womit sich jeglicher Handlungsfreiheit beraubt wird. Mit jeder Situation, in der man sich von seinem Wunschergebnis entfernt, wird der Druck stärker. Irgendwann gesellt sich die Angst dazu, das Ergebnis gar nicht zu erreichen, und man ist nicht mehr in der Lage, sein volles Leistungsvermögen abzurufen. Teilweise wird der Druck so stark, dass er in einem regelrechten Blackout mündet.

Mental starke Menschen sind genauso ergebnisorientiert, legen aber nicht den Fokus darauf. Der eigentliche Antrieb für sie ist nicht die Freude am Ergebnis, sondern die Leidenschaft für das, was sie machen. Rulebreaker lieben es zu verändern, zu transformieren, zu zerstören, aufzubauen und Herausforderungen zu bewältigen. Diese Leidenschaft ist unabhängig vom Ergebnis.

In einem zweiten Schritt arbeiten sie mit Handlungszielen, die ihnen aufzeigen, wie sie ein Ergebnis herbeiführen können. Sie sind der Weg zum Ziel.

Handlungsziele versus Ergebnisziele

Handlungsziele sind leistungs- und verhaltensorientiert und obliegen unserer eigenen Kontrolle. Ergebnisziele hingegen liegen nur selten in unserer Hand. Genau darauf fokussieren sich mental starke Menschen: Auf das, was sie selbst beeinflussen können. Eine geringfügige Änderung des Fokus, aber die Auswirkungen sind enorm. Stell dir vor, du hast ein Verkaufsgespräch, das für dich und deinen Arbeitgeber immens wichtig ist. Der Kunde ist speziell und du weißt, dass er einen Hang zum Außergewöhnlichen hat. Deswegen entscheidest du dich, alle Regeln der strategischen Verkaufsführung zu brechen und anders an das Gespräch heranzugehen. Allein dadurch befindest du dich schon in einer mentalen Ausnahmesituation. Hast du dann noch ununterbrochen den Gedanken »Ich muss den Kunden gewinnen« im Kopf, kannst du das Gespräch und den Regelbruch vergessen. Der mentale Druck wird so stark, dass du eine schlechte Performance abliefern wirst. Gelingt es dir aber, diesen Gedanken durch erarbeitete Handlungsziele mental vollständig auszublenden, wirst du eine überragende Performance abliefern und wahrscheinlich den Kunden überzeugen.

Was nach einem einfachen Prinzip klingt, ist in Wirklichkeit ein Eckpfeiler mentaler Stärke. Die Bedeutung dieser Ziele ist für das Unterbewusstsein enorm. Wem es gelingt, Ergebnisziele durch Handlungsziele mental auszublenden, der vermeidet mentalen Druck. Selbst wenn Situationen kommen, die einen vom eigentlichen Ergebnis entfernen, bleiben die definierten Handlungen gleich. Man bleibt ruhig und konzentriert sich auf das, was aktiv beeinflusst werden kann.

Chesley Sullenberger wäre mit Sicherheit nicht in der Lage gewesen, den voll besetzten Airbus A320 auf dem Hudson zu landen, wenn er sich nur auf das Ergebnisziel »nicht abstürzen« konzentriert hätte. Das Ergebnis war klar, was er brauchte, war ein Plan – und den hatte er. Für solche Szenarien gibt es Ablaufpläne, die die Piloten in Simulatoren regelmäßig trainieren. Er wusste, was zu tun ist, konzentrierte sich darauf und tat es.

Ein weiterer Punkt im mentalen Training ist die Gedankensteuerung. Uns Menschen ist es nur möglich, maximale Leistung zu erbringen, wenn wir gedanklich zu hundert Prozent bei dem sind, was wir gerade machen. Auch das ist für den Regelbruch eine wichtige Erkenntnis. Negative und ablenkende Gedanken sind fatal und minimieren unsere Leistungsfähigkeit.

Wissenschaftler und Quantenphysiker haben herausgefunden, dass jeder Mensch sechzigtausend Gedanken am Tag hat. Entscheiden, welche Gedanken in unser Bewusstsein kommen, können wir nicht. Besonders negative Gedanken kündigen sich vorher nicht an. Sie kommen einfach, auf brutale Art und Weise. Dem sind wir hilflos ausgeliefert. Aber – und das ist das Entscheidende – wir können immer entscheiden, welche dieser Gedanken wir zu Ende denken und welche nicht. Das lässt sich trainieren. Haben wir einen negativen Gedanken, müssen wir ihn umgehend abbrechen und durch einen positiven ersetzen. Je öfter das gemacht wird, desto positiver wird die Gesamtheit der eigenen Gedanken.

Positives Denken ist für eine starke Psyche Grundvoraussetzung

Jeder Gedanke hat Macht und mit dieser Macht können wir spielen. Das bedeutet ganz konkret: Erfolge werden mental durchlebt, bevor sie tatsächlich da sind. Was auf den ersten Blick verrückt klingt, ist das Fundament mentaler Stärke. Dem liegt eine psychologisch-wissenschaftliche Erkenntnis zugrunde: Unser Körper macht nur das, was unser Kopf ihm sagt. Vor einigen Jahren gab es ein hochinteressantes Experiment, das ausführlich im renommierten »Journal of Neuropsychology« beschrieben wurde (Clark/Mahato/Nakazawa/Law/Thomas 2014: 12). Dabei wurden drei Gruppen für eine Versuchsdauer von vier Wochen getestet. Die Teilnehmer der ersten Gruppe hatten die Aufgabe, den kleinen Finger anhand einer bestimmten Übung physisch anzuspannen. Gruppe zwei sollte exakt die gleiche Übung nicht physisch ausführen und in Gedanken visualisieren. Gruppe drei war lediglich eine Kontrollgruppe und machte gar nichts von beidem.

Nach der Versuchsdauer von vier Wochen hatten die Teilnehmer der ersten Gruppe im kleinen Finger einen Kraftzuwachs von dreißig Prozent. Gruppe zwei, die ausschließlich visualisierte, hatte einen Kraftzuwachs von zweiundzwanzig Prozent. Gruppe drei, die gar nichts von beidem machte, hatte einen Kraftzuwachs von null Prozent.

Das Ergebnis ist umso erstaunlicher, wenn man sich vor Augen hält, dass Gruppe zwei im wahrsten Sinne des Wortes nicht einen Finger krumm gemacht hat. Und die Bedeutung des Experiments ist klar: Das Gehirn kennt nicht den Unterschied zwischen dem, was wir uns nur in Gedanken ausmalen, und dem, was wir tatsächlich körperlich ausführen.

Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute: Jeder von uns beherrscht die Strategie der Visualisierung nahezu perfekt. Die schlechte Nachricht: Die meisten setzen sie ausschließlich zu ihrem Nachteil ein. Wie oft hast du dir vor wichtigen Situationen oder Herausforderungen schon mal vorgestellt, was alles schieflaufen kann?

Es wird gedanklich das absolute Worst-Case-Szenario durchgespielt und man schaut sich selbst beim Scheitern zu, ähnlich wie zu Beginn des Kapitels auf dem Schwebebalken stehend. Und dann wundern wir uns, dass es auch genauso kommt. Bestätigung finden wir in der Aussage: » Ich habe es ja gewusst.«

Negative Denkmuster, allen voran Worst-Case-Szenarien, sind tödlich – ganz besonders vor dem Regelbruch. Wer sich hier gedanklich nur mit dem Scheitern auseinandersetzt, hat bereits entschieden, mit dem Regelbruch zu scheitern. Wer sich allerdings auf den erfolgreichen Regelbruch konzentriert und die positiven Veränderungen, die aus diesem resultieren, visualisiert, der erhöht die Wahrscheinlichkeit des erfolgreichen Regelbruchs um ein Vielfaches. Ein erfolgreicher Regelbruch bedarf erfolgreicher Gedanken.

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