Mia san mia – So entstehen Eliten

Wenn unser innerer Antrieb nach Geltung so stark ist, dass wir Gleichgesinnte suchen, entsteht ein Phänomen, das sich in Gruppenbildung, Lobbying oder Eliten zeigt. Unbewusst suchen wir nach Gemeinsamkeiten, um stärker zu werden und uns von anderen abzuheben. Als in jüngerer Zeit ein Politiker in Österreich zu verstehen gab, er müsse nun »wie der Pöbel reisen«, nachdem er seinen Diplomatenpass abgeben musste – da wurde klar, wie der Aufstieg auf der Karriereleiter zu einem Elitedenken führen kann. Eine Freundin pflegt stets zu sagen: »Manche Menschen können mit Macht einfach nicht umgehen.« Ich spinne diesen Faden weiter: Wer mehr Macht bekommt, als seine Persönlichkeit mit allen Selbstzweifeln verträgt, verliert den Respekt vor anderen. Diese Macht finden wir jedoch nicht nur dort, wo Menschen beruflich Karriere machen.

Mein Mann und ich waren vor einiger Zeit im schönen Grado in Italien. Die erste Sommersonne genießen, bevor sie auch unsere Gefilde erwärmt, das war unser Ziel. Wir waren mit diesen Plänen nicht allein, wie wir bald feststellten. Jede Menge Landsleute älteren Semesters (damit meine ich nicht Italiener, sondern meine eigenen) schienen sich just zu jener Zeit dort einzufinden. In Gruppen versammelten sie sich in den Cafés und am Strand. Die Unterhaltungen waren laut und wurden zwanglos über mehrere Tische oder Strandliegen hinweg geführt. Man nahm sich kein Blatt vor den Mund, auch nicht, wenn das Personal der deutschen Sprache nicht mächtig war. In österreichischem Dialekt wurden Bestellungen aufgegeben und ungeduldig reagiert, wenn die Kellnerin nachfragen musste. Die Reisegruppen hatten andere Gäste vollkommen ausgeblendet. Einzig sie und ihre Gruppe schienen zu zählen. Bestimmt machten sie das nicht mit Absicht, aber ihr Verhalten war deshalb nicht minder respektlos.

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Bei allem Respekt
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Frekkies, die Kabaner oder die XYnier

Beruflich können wir dieses Phänomen beobachten, wenn die Mitarbeitenden von der Unternehmenskommunikation das Wir-Gefühl schon per Namensgebung geimpft bekommen. Im Sinne des Employer Branding werden bindende Maßnahmen ergriffen. Manche verpassen dem Firmennamen einfach ein Suffix, und schon haben wir die Frekkies, die Kabaner oder die XYnier – je nach Unternehmensname. Das schweißt zusammen und impliziert Zugehörigkeit. Dagegen spricht nichts, solange sich die Mitglieder aus freien Stücken mit dieser Kultur identifizieren. Immerhin geben sie damit ein Stück Individualität im Sinne der Gruppe ab, gleichsam der Bezeichnung »Wir Deutschen«, »Wir Müllers« oder »Wir Frauen«.

Wir, ihr – so gelingt Spaltung

Dieses Gruppenschild können wir immer vorhalten, wenn wir mehr Stärke brauchen. Es hat aber auch eine andere Seite: Wenn die einen inkludiert werden, werden die anderen automatisch exkludiert. Rhetorisch ist die Technik »Wir-ihr« ein hervorragendes Mittel zur Spaltung, das leider sehr oft eingesetzt wird, sowohl in der Politik als auch im gesellschaftlichen Kontext. »Wir-ihr« erzeugt Positionen, aus denen heraus argumentiert wird. Das Gemeinsame in der Gruppe wird betont, die Unterschiede zu anderen werden hervorgehoben und dramatisiert. Nichts ist einfacher als das, versuchen Sie es. Sie werden zu jeder Person, die Sie kennen, ein Merkmal finden, das Sie unterscheidet. Und Sie werden zu jeder Person, die Sie kennen, ein Merkmal finden, das Sie gemeinsam haben. Nun bilden Sie willkürlich eine Gruppe und heben Sie eine Gemeinsamkeit hervor, zum Beispiel Alter, Geschlecht, Art des Berufes, Anzahl der Geschwister oder einfach ein gemeinsames Interesse. Betonen Sie das Gemeinsame bei jeder Gelegenheit. Sie bemerken umgehend, wie sich Ihre Gruppe von anderen abspaltet oder sogar abhebt. So werden Eliten gebildet.

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Die Gefahr dabei ist, dass der Respekt vor nicht Zugehörigen verloren geht. Der Effekt wird noch verstärkt, wenn bewusst unklar kommuniziert oder durch die Wahl der Worte Angst geschürt wird: »Es lässt sich nicht sagen, wie viele Flüchtlinge noch in unser Land strömen werden.« Das klingt ganz anders als: »Es gibt noch keine Prognose, wie viele Menschen in unserem Land Zuflucht suchen.« Die Wahl der Worte hat eine große Macht, deren sich Politik und Medien bedienen, um Bilder in unseren Köpfen zu schaffen. Der Kontext, in denen man Botschaften darstellt, wird wissenschaftlich als Framing (übersetzt etwa Rahmungs-Effekt) bezeichnet. Wir können uns dieser Manipulation nur schwer entziehen, da wir ihr ständig ausgesetzt sind und sie gar nicht erst realisieren. Eine vielseitige Bildung und die (Selbst-)Erlaubnis, Dinge kritisch zu hinterfragen, ist ein möglicher Ausweg. Achten wir darauf, lieber noch einmal nachzuhaken, statt Aussagen automatisiert abzunicken – egal, ob am Stammtisch, im Betrieb oder im Freundeskreis: »Worauf begründet sich diese Aussage?« Damit muss die sich äußernde Person eine weiterführende Erklärung abgeben und kann sich schwerer mit hohlen Phrasen herausreden.

Respektloses Verhalten: Eingreifen oder ignorieren?

Bleibt zuletzt die Frage: Wie gehen wir mir respektlosem Verhalten um? Lohnt es sich überhaupt, aufzustehen und das Wort zu erheben? Es ist wohl wieder eine persönliche Frage, die einen philosophischen Ansatz enthält. Schließlich geht es nicht nur um uns selbst, sondern auch um unsere Mitmenschen. Weiter vorne haben wir bereits über Altruismus gesprochen und am Beispiel des barmherzigen Samariters erklärt, welche Gründe es gibt, anderen Respekt entgegenzubringen und zu helfen.

Nun betrachten wir unser Handeln in Situationen, in denen wir Respektlosigkeit direkt in unserem Umfeld erleben. Hätten wir eingreifen müssen? Und vor allem: wie, um nicht gleich ins Dramadreieck zu rutschen? Oft wird es von der respektlos behandelten Person selbst nicht goutiert, wenn sich jemand einmischt. Ich habe beobachtet, wie Paare sich in die Haare bekommen und ein Partner respektlos oder übergriffig wird. Mischt sich eine fremde Person ein, so bekommt diese eine barsche Zurückweisung – und zwar von beiden Streitparteien: »Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten!«

Die Angst vor Zurückweisung

Oft ist es die Angst vor Zurückweisung, die andere abhält, einzugreifen. Oder es ist reine Bequemlichkeit; schließlich hat man selbst schon genug Sorgen. Tatsächlich ist der Grat schmal. Sich in fremde Angelegenheiten einzumischen, wird nicht gerne gesehen, man wirkt als aufdringlich oder altklug, wenn man Ratschläge erteilt. Eine elegante Art des Einmischens ist Aufmerksamkeit: Wenn Sie respektloses Verhalten orten, so signalisieren Sie durch Ihren Blick und Ihre Körpersprache, dass Sie es sehr wohl wahrnehmen und beobachten. Überlegen Sie für sich, was Sie bewirken, wenn Sie etwas sagen. Wenn Sie sich entscheiden einzugreifen, so tun Sie es bedacht und nicht aus dem Affekt. Sonst spiegeln Sie unbewusst die Emotion der anderen und heizen möglicherweise die Lage noch mehr auf.

Um ein letztes Mal auf Lisas Fall zurückzukommen: Ja, verdammt noch einmal, die Teilnehmer hätten eingreifen müssen. Und zwar nicht um Lisas willen, sie ist erwachsen, es gab keine Gewalt und sie kann sich selbst verteidigen; sondern um einer guten Kommunikationskultur willen. Wollen Sie, dass in Ihrer Gruppe ständig eine Person fokussiert und gebissen wird? Sicher nicht. Das ist keine Kultur, in der solide Gespräche und Ergebnisse erzielt werden. Gruppendenken und ungesunde Kohäsion sind die Folge – das Gegenteil optimaler Resultate.

Ganz im Sinne Friedrich Glasls und seiner Konfliktforschung: Je früher wir einschreiten, desto höher sind die Chancen, noch zu einem respektvollen Umgang zurückzukehren. Wichtig dabei ist, dem Angreifer trotz seiner Respektlosigkeit im ersten Zug die Würde zu lassen – und damit die Möglichkeit, selbst sein Verhalten zu ändern. Ist dies nicht der Fall, so wird das Verhalten direkt angesprochen und die Person aktiv zur Änderung aufgefordert. Betont wird dabei stets das gemeinsame Interesse, zum Beispiel ein bestimmtes Ziel zu erreichen oder eine Gesprächskultur zu etablieren. Mit dem gemeinsamen Interesse verhindern Sie ein Einzementieren in Positionen und geben immer wieder eine Chance, die Position ohne Gesichtsverlust zu ändern.

Wegsehen ist auch keine Lösung

Ich weiß, das sieht auf dem Papier einfacher aus, als es in der Praxis ist. Doch Wegsehen ist keine Lösung, schon gar nicht, wenn wir selbst Respekt erwarten. Wir bekommen das zurück, was wir einzahlen. Greifen wir beherzt, aber respektvoll ein, so bringt es uns Ansehen. Packen wir jedoch gleich die Brechstange aus, lösen wir vielleicht schnell, aber sicher nicht nachhaltig einen Konflikt. Erinnern Sie sich an Ihre Kindheit, was Erwachsene von Ihnen verlangten, wenn Sie in einen Streit mit einem anderen Kind verwickelt waren? Wenn es Ihnen ging wie mir, wurden Sie ausgeschimpft, ermahnt und dann kam die gefürchtete Anweisung: »Und jetzt gebt euch die Hände und vertragt euch wieder!« Ich fand das so entsetzlich, dass ich mich als Kind nach wenigen Monaten weigerte, den Kindergarten weiterhin zu besuchen. Ein Mädchen hatte mir jeden Tag meine Jause weggenommen und mir die Wurst aus dem Brot geklaut. Sie war gehässig, biss und kratzte mich, wenn ich mir zurückholen wollte, was mir gehörte. Nach einigen Tagen hielt ich es nicht mehr aus und holte unter Tränen die Kindergärtnerin zur Hilfe. Genervt stellte sie das Mädchen und mich gegenüber und hielt uns beiden eine gehörige Standpauke – ihr, weil sie »böse« war und mir, weil ich gepetzt hatte. Danach mussten wir uns vor versammelter Gruppe die Hände reichen und uns entschuldigen. Ich war damals fünf Jahre alt und erinnere mich heute noch haargenau, so einschneidend war dieser Eingriff, der Respekt schaffen sollte und dabei Narben hinterließ.

Dieses Ereignis ist einer der Gründe, weshalb ich Fairness und den Umgang mit Respekt und Macht bis heute sehr genau beobachte. Meine Erfahrung ist, dass radikales Eingreifen aus einer Emotion heraus immer Spuren hinterlässt – sowohl als übertrieben und vorschnell ausgesprochenes Lob als auch als aggressiv und enttäuscht geäußerter Tadel. In beiden Fällen wird affektiv gehandelt und es ist keine Klarheit vorhanden. Klarheit kann nur durch Innehalten und Fokussieren aufgebaut werden, niemals durch Hitzköpfigkeit.

Klartext

#1 Wenn Menschen in Gruppen zusammenkommen, besteht immer eine Tendenz zur Kohäsion. Das bedeutet, dass sich Gemeinsamkeiten finden und immer stärker herausbilden.

#2 Dieses Phänomen führt dazu, dass sich einzelne Personen hervortun und durch ihre Dominanz einen Steuerungseffekt haben. Die Gefahr ist, dass die Gruppe nicht mehr stark genug ist, respektloses Handeln zu beurteilen und einzugreifen.

#3 Wenn sich der Fokus innerhalb einer Gruppe auf eine einzelne Person richtet und diese respektlos behandelt wird, sollte das keinesfalls toleriert werden.

#4 Je früher ein Eingreifen in respektlose Handlungen stattfindet, desto weniger Emotion ist im Spiel und desto einfacher lassen sich Konflikte noch abwenden.

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