»Das hast du gut gemacht!«, »Heute siehst du aber großartig aus!«, »Ohne dich hätte ich das nicht geschafft!« – Sätze voll von Lob und Anerkennung. Wenn sie ehrlich gemeint sind, können sie unser Urbedürfnis nach Selbstwerterhöhung befriedigen. Denn wir spüren in ihnen das Vertrauen, was uns entgegengebracht wird. Wir können uns so selbst als kompetent, wertvoll und von anderen wertgeschätzt wahrnehmen. Allerdings kommt es auch immer auf die Situation an, in der wir uns befinden.
Stellen Sie sich vor, Sie und Ihr bester Freund wandern in einer Wüste und haben sich verirrt. Sie finden kurz vor dem Verdursten nach zwei Tagen endlich ein Wasserloch. Noch bevor Sie einen Schluck Wasser trinken können, sagt Ihr Reisepartner: »Stopp! Ich möchte dir etwas sagen!« Ungläubig halten Sie inne. »Ich möchte dir ›Tausendmal Danke!‹ sagen. Du bist phänomenal und hast mir das Leben gerettet.« Ich gebe Ihnen Brief und Siegel, dass Sie sich in diesem speziellen Moment für dieses Kompliment nicht interessieren werden. Sie werden sich auf das Wasserloch stürzen und einfach trinken. Erst wenn Sie beide aus dieser lebensbedrohlichen Situation gerettet sind, werden Ihnen diese Worte der Anerkennung und Wertschätzung etwas bedeuten. Es ging Ihnen in der Wüste nicht darum, ein Lob zu bekommen. Sie haben das Wasserloch gesucht, um ihr Grundbedürfnis nach Wasser zu stillen. Bei Ihren nächsten Handlungen ging es ausschließlich darum, gemeinsam in Sicherheit gebracht zu werden. Erst, wenn Sie von den Rettungskräften aus der Wüste in Ihr normales Leben zurückgebracht werden, verschieben sich Ihre Bedürfnisse wieder Richtung Anerkennung und Wertschätzung – so wie zu Beginn des lebensgefährlich gewordenen Wüstenausflugs. Denn ursprünglich sind Sie dorthin ohne jede Not gefahren. Sie mussten nicht in der Wüste wandern. Sie wollten in der Wüste wandern, um sich etwas zu beweisen (»Ich kann das«). Sie wollten ein selbst gestecktes Ziel (»die Wüste durchwandern«) erreichen. Wenn Sie Mitglied eines Wanderklubs sind, ging es Ihnen vielleicht auch um die Anerkennung der anderen Klubmitglieder (zum Beispiel »Topleistung!«). Nur ist leider etwas schiefgegangen. Durch das Verirren sind Sie in eine gefährliche Lage geraten, die Ihre Bedürfnislage völlig auf den Kopf gestellt hat.
Der Psychologe Abraham Maslow hat hierzu ein sechsstufiges Modell der Motivation entwickelt, die sogenannte Maslowsche Bedürfnispyramide, von der Sie sicherlich schon etwas gehört haben. Es lohnt sich, einen Blick darauf zu werfen. In dem Wüstenausflugsbeispiel sind Sie in diesem Modell von der vierten auf die erste Stufe gefallen.
Wie Sie dem Modell entnehmen können, stellen die physiologischen Grundbedürfnisse (Wasser, Nahrung, Wärme) die erste Stufe dar. Sind sie gestillt, folgen nach Maslow in der zweiten Stufe die Sicherheitsbedürfnisse (zum Beispiel Schutz, Angstfreiheit) und danach auf der dritten Stufe die sozialen Bedürfnisse (zum Beispiel Liebe, Zuneigung). Erst auf der vierten Stufe der Pyramide stehen Anerkennung und Wertschätzung. Wichtig ist die Erkenntnis, dass die Bedürfnisse auf jeder Stufe vollständig befriedigt werden müssen, bevor die nächste Stufe erreicht werden kann.
Was Selbstwert mit psychologischen Grundbefürfnissen zu tun hat
Für ein besseres Verständnis des eigenen Selbstwerts will ich hier auf unsere psychologischen Grundbedürfnisse eingehen. In der jüngeren Forschung ging der Psychotherapeut Klaus Grawe der Frage nach, welche das sind. Er spricht deshalb von Grundbedürfnissen, weil jeder Mensch nach ihnen strebt. Sie sind nach seinem Verständnis essenziell, um zufrieden und in einer Balance mit sich selbst leben zu können. Verkümmern hingegen diese seelischen Grundbedürfnisse ungestillt, kann sich kein echtes Selbstvertrauen entwickeln. Nach seinen Forschungsergebnissen handelt es sich bei den seelischen Grundbedürfnissen bei jedem Menschen um diese vier Bereiche:
- Bindung und Zugehörigkeit,
- Orientierung und Kontrolle,
- Lustgewinn und Unlustvermeidung und
- Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz.
Das erste Bedürfnis lautet »Bindung und Zugehörigkeit« und beschreibt unseren Wunsch, zu einer Gruppe dazuzugehören. Dabei geht es um Zuwendung und positiven Kontakt zu anderen Menschen. Das Gefühl nach Zusammengehörigkeit macht uns innerlich zufrieden und wirkt sich unmittelbar auf unser Selbstwertgefühl aus. Deswegen gibt es zum Beispiel Fußball-Fans, die fanatisch hinter ihrem Verein stehen. Auch ein Unternehmen kann die gewünschte Identifikation und Bindung bieten.
Das Bedürfnis nach Kontrolle und Orientierung zeigt unseren Wunsch, unser Leben selbstständig zu gestalten, zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen zu können, insbesondere unseren Tagesablauf zu beeinflussen und zu bestimmen, wo wir mit wem zusammenarbeiten. Aus diesem Grund entscheiden sich immer mehr Menschen, zum Beispiel ihr eigenes Unternehmen zu gründen oder nur innerhalb einer Organisation als Freelancer zu arbeiten.
Besser Lust statt Frust
Lustgewinn und Unlustvermeidung liegen in unserer menschlichen Natur. Deshalb mögen viele Kinder zum Beispiel nicht ihr Zimmer aufräumen oder Gemüse essen. Allerdings lernen wir mit zunehmendem Alter, dass es für die Erreichung bestimmter Ziele notwendig ist, viel Disziplin und Überwindung auf uns zu nehmen, damit wir später lustvolle Erfahrungen machen können (Belohnungsaufschub). Diejenigen, die den Belohnungsaufschub am besten beherrschen, kommen in der Regel am weitesten im Leben. Deutlich wird das zum Beispiel bei Studenten: Sie verlängern aus freien Stücken ihre Ausbildungszeit und nehmen damit länger aufgrund geringeren Einkommens Entbehrungen auf sich als Altersgenossen, die zum Beispiel eine Lehre absolviert haben und danach sofort beginnen, für Geld zu arbeiten. Allerdings lockt die Studenten die Aussicht, später durch bessere Einkommen das anfängliche Einkommensdefizit im Vergleich zu Nicht-Studierenden wieder wettzumachen. Oft genug geht diese Strategie auch auf.
Das von Grawe als Selbstwertschutz und Selbstwerterhöhung bezeichnete seelische Grundbedürfnis entspricht der vierten Stufe – Anerkennung und Wertschätzung – in dem Maslowschen Pyramidenmodell. Der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, stellte fest: »Alles, was wir tun, hat zwei Motive: den Sexualtrieb und das Verlangen nach persönlicher Geltung.«
Diese Auffassung betont meines Erachtens zu sehr die Bedeutung der Sexualität und dürfte überholt sein. Mittlerweile wird von der aktuellen Forschung der Selbstwert als zentrales menschliches Bedürfnis angesehen. So sagte schon der Philosoph und Pädagoge John Dewey, ein Zeitgenosse von Freud: »Der stärkste Antrieb in der menschlichen Natur ist der Wunsch, bedeutend zu sein.« Dieser treibt uns an, einen Schulabschluss zu machen, eine Ausbildung zu absolvieren, ein Unternehmen zu gründen, ein Buch zu schreiben, an Sportwettkämpfen teilzunehmen, den Gipfel des Mount Everest über die Todeszone zu besteigen, ins Weltall zu fliegen et cetera. Alles dient dem Wunsch, etwas zu sein oder etwas darzustellen. Es geht aber nicht nur um die oberen Zehntausend. Mitarbeiter jeder Hierarchiestufe sind davon überzeugt, ohne sie würde es nicht gehen. Ein Klient hatte mir einmal erzählt, ein Unteroffizier hätte ihm mit voller Überzeugung gesagt: »Wir (Unteroffiziere) sind das Herzstück der Streitkräfte; ohne uns geht gar nichts!« Die da oben (Leutnant und aufwärts) hätten also keine Ahnung. Jeder will eben bedeutend sein. Und in gewisser Weise ist die Annahme der eigenen Bedeutung auch richtig, jeder steuert etwas zum Ganzen bei.
Den Selbstwert stabil halten
Letztlich sind alle Menschen bestrebt, ihren eigenen Selbstwert mindestens stabil zu halten und zu schützen. Verletzungen des eigenen Selbstwerts werden mit Leidensdruck assoziiert. So suchen wir alle beständig weiter nach Anerkennung, um etwaige emotionale Verletzungen aus der Vergangenheit zu kompensieren. Eigentlich hört dieser Prozess nie auf. Man könnte das mit einem Fahrstuhl vergleichen, der mal rauf-, mal runterfährt. Wenn es gut läuft, führt die Bewegung des Selbstwertfahrstuhls nach oben.
So menschlich dieses Streben ist, so können daraus erhebliche Störungen resultieren – und zwar insbesondere, wenn diese Sehnsucht nach Anerkennung übertrieben wird. Menschen, die in diesem Bereich unterversorgt sind, sind bereit, fast alles zu tun, um gemocht zu werden. Damit überfordern sie aber nicht nur sich selbst, sondern auch ihr Umfeld. Schlimmer noch, die anderen spüren das instinktiv und verweigern ehrliche Anerkennung und Wertschätzung. Daraus können bei den Betroffenen sogar selbstsabotierende Verhaltensweisen entstehen, wie zum Beispiel Harmoniesucht, bei der alles versucht wird, um Konflikte zu vermeiden, auch wenn man sich selbst verleugnen muss. Dies erklärt das Phänomen des Schleimers, den es in (fast) jedem Unternehmen gibt. Er versucht alles, um sich bei seinem Chef gut darzustellen und mutiert so zum willigen Ja-Sager.
Bevor Sie jedoch beunruhigt sind oder sich fragen, ob Sie Gefahr laufen, durch Ihre starke Harmonie-Orientierung sich selbst zu verlieren und in eine Harmoniefalle zu geraten, kann ich Sie beruhigen. Sie können etwas dagegen tun. Wie Sie aus der Falle herauskommen können, können Sie in die »Harmoniefalle« nachlesen.
Dr. Yana Fehse ist Diplom-Psychologin, Mindset-Coach und Key-Note-Speakerin. Ihre Mission ist es, möglichst vielen Menschen zu zeigen, wie Sie ein unerschütterliches Selbstvertrauen entwickeln und festigen können. Denn nur wer an sich selbst glaubt, hat die Energie, um außerordentliche Ziele in seinem Leben zu erreichen. Sie beschäftigt sich seit über 10 Jahren intensiv mit den Themen Selbstvertrauen und mentale Stärke. Yana Fehse war u.a. als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt sowie als Personalleiterin und Dozentin im Bereich Wirtschaftspsychologie tätig.