Die Harmonie-Falle

»Wie bitte? Harmonie als Falle? Was soll an Harmonie schlecht sein?« So oder ähnlich sind die Reaktionen meiner Coachees, wenn ich sie mit ihremProblem konfrontiere. Dabei ist Harmonie grundsätzlich nichts Schlechtes,sondern durchaus erstrebenswert. Wer überflüssige Konflikte und Auseinandersetzungen klug umschifft, kann ein gutes Leben führen. Doch  wie viel Harmonie können wir wirklich vertragen, ohne das sie für uns toxisch wird?

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Lebenslanges Abwägen

Die Antwort lautet: Es kommt darauf an. Letztlich befinden wir uns alle lebenslang in einem ständigen Abwägungsprozess – und das jeden Tag unzählige Male: Ständig haben wir mit Situationen beziehungsweise Verhaltensweisen anderer zu tun, die eine Reaktion von uns erforderlich machen. Das beginnt morgens, wenn der Wecker klingelt und Sie feststellen, dass zum Beispiel Ihr Teenager-Kind das Bad blockiert – und endet, wenn Sie todmüde ins Bett gehen, Ihr Ehegatte aber noch lesen möchte. Was nehmen wir noch hin? Wann protestieren wir? Unser Leben scheint ein permanenter Balanceakt zwischen Hinnehmen beziehungsweise Ja-Sagen und Protest, Widerstand und Nein-Sagen zu sein.

Was Harmoniesüchtige auszeichnet

Harmoniesüchtigen fehlt die Fähigkeit, sich abzugrenzen. Selbst in Situationen, in denen ein Nein oder zumindest kritisches Nachfragen beziehungsweise Zurückhaltung angebracht wären, verzichten sie um des lieben Friedens willen auf eine mögliche Konfrontation und sagen Ja. Dahinter steht der Drang, auf jeden Fall zu verhindern, aus der jeweiligen Gemeinschaft – zum Beispiel Betrieb oder Familie – ausgeschlossen zu werden, um den damit verbundenen Schmerz zu vermeiden. Bei jeder Zurückweisung werden die gleichen Areale im Gehirn aktiviert, die auch bei physischen Schmerzen betroffen sind. Es gibt Studien, in denen nachgewiesen wurde, dass allein der Gedanke an Zurückweisung unser Schmerzzentrum im Gehirn aktiviert. Das nennt man soziale Schmerzen. Einer der stärksten sozialen Schmerzen ist der Liebeskummer. Und dieser kann bekanntlich den stärksten Menschen den Boden unter den Füßen wegziehen. Eigentlich ist das Vermeidungsverhalten nachvollziehbar – wer hat schon Lust auf Schmerzen? Aber Harmonie um jeden Preis ist trotzdem keine gute Option.

Was die Falle bedeutet

Wer in die Harmoniefalle tappt, brockt sich einen Haufen Probleme ein.

Kein Respekt

Eigentlich ist es fies und gemein, aber je mehr man sich bemüht, es allen recht zu machen, desto weniger Respekt genießt man. Oder anders herum: Wer eine eigene Meinung hat und auch bereit ist, dafür einen Konflikt zu riskieren, ist zwar unbequem, setzt sich aber durch und bleibt in respektvoller Erinnerung – wenn auch vielleicht als »harter Knochen«.

Helfersyndrom

Dem Harmoniesüchtigen kommt ein »Nein« nicht über die Lippen, wenn man ihn um einen Gefallen bittet. Ein »Nein« fühlt sich für ihn falsch an, weil er nicht egoistisch sein will. Damit ignoriert er aber nicht nur seine eigenen Bedürfnisse, sondern macht sich zum Opfer: Die anderen durchschauen diese Schwäche und können häufig nicht der Versuchung widerstehen, diese Harmoniesucht auszunutzen. Gefallen werden eingefordert, selbst wenn es dafür keinen echten Grund gibt.

Es liegt auf der Hand, dass der aus der Überforderung und deren Begleiterscheinungen resultierende Stress bei dem Betroffenen zu einem Burn-out oder anderen Erkrankungen führen kann.

Erfolgsbremse

Das dritte Handicap ist vielleicht das schwerwiegendste – zumindest wirtschaftlich gesehen: Weil der Harmoniesüchtige unsicher und zurückhaltend auf andere wirkt, wird er häufig übersehen und bleibt auf der Karriereleiter stehen. Sein offenbar mangelndes Selbstvertrauen qualifiziert ihn in den Augen der Entscheidungsträger nicht für Führungsaufgaben.

Der Weg aus der Falle

Wenn Sie jetzt beim Lesen das Gefühl haben, dass Sie auch im Übermaß auf Harmonie fixiert sind, gibt es eine Lösung:

Zunächst einmal sollten Sie sich in einem ersten Schritt klarmachen, dass Sie nach einem tief in uns Menschen verankerten biologischen Reflex handeln – nur haben Sie das gesunde Maß überschritten. Das kann man korrigieren. Es gilt, Ihre Harmoniesucht (= Übermaß) auf eine Harmonieorientierung (= gesundes Maß) zurückzusetzen. Dabei ist es sicherlich keine gute Lösung, sein Verhalten einfach ins Gegenteil zu verkehren, also immer »Nein« statt »Ja« zu sagen. Damit würden wir zu vielen Menschen vor den Kopf stoßen. Besser ist es, eine Methode zu wählen, die das Ausleben des Harmoniebedürfnisses in gewissen Grenzen ermöglicht: Jeder Gefallen, der mit einem zeitlichen Aufwand von weniger als zwei Minuten erledigt werden kann, kann (muss aber nicht!) erledigt werden. Alles, was mehr Aufwand erfordert, lehnen Sie ab oder denken darüber nach, ob Sie die Zeit wirklich investieren können oder wollen.

Wenn zum Beispiel Ihr Vorgesetzter Sie bittet, für den erkrankten Kollegen kurzfristig einzuspringen und morgen die Präsentation vor der Geschäftsleitung zu übernehmen, ist klar, dass der Aufwand deutlich über zwei Minuten liegt.

Sie könnten sagen: »Vielen Dank, dass Sie an mich gedacht haben. Ich muss aber erst einmal meinen Kalender checken und melde mich gleich wieder.« Gönnen Sie sich bewusst eine Bedenkzeit, um sich gedanklich zu sammeln und in Ruhe Ihre fünf Kontrollfragen zu formulieren und zu beantworten.

Diese fünf Kontrollfragen können Sie bei jeder Situation anwenden – und die Antworten abwägen.

#1 Was bedeutet ein Ja für mich?
Mein Vorgesetzter ist zufrieden, weil er bekommt, was er will. Nur riskiere ich meinen guten Ruf, wenn die Vorbereitungszeit zu kurz ist und die Präsentation misslingt. Vielleicht verlangt mein Vorgesetzter weitere Aufgaben von mir, wenn es gut läuft. Vielleicht kann ich einen Karrieresprung machen.

2# Was bedeutet ein Nein für mich?
Mein Vorgesetzter ist vielleicht verärgert, und er wird mich vielleicht in eine Diskussion verstricken. Vielleicht sinnt er auf Rache bei anderer Gelegenheit.

#3 Was ist fair?
Es kann zum Beispiel sein, dass niemand anderes einspringen kann. Ich habe Zeit und beherrsche die Aufgabe. Vielleicht ist neulich der Erkrankte auch einmal für mich eingesprungen.

#4 Kann ich damit leben?
 Vielleicht ist Ihnen sogar sehr daran gelegen, die Präsentation als Gelegenheit zu nutzen, sich sichtbar gegenüber der Geschäftsleitung zu präsentieren. Vielleicht geraten Sie aber mit anderen wichtigen Terminen in Kollision.

#5 Was kann ich verhandeln?
Vielleicht können Sie jemand anderen empfehlen, die Aufgabe zu übernehmen, weil diese Person besser im Thema ist oder Ähnliches. Vielleicht ist die Aufgabe eine gute Gelegenheit, auf eine Gehaltserhöhung zu sprechen zu kommen.

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