Ich bin ein Problem – Eine Selbsterkenntnis

Ich bin neoliberaler Kapitalist. Weiß, Mitteleuropäer, christlich erzogen und ein Mann. In der Summe verkörpere ich das Zentrum des Ursprungs nahezu aller gegenwärtigen und zukünftigen Probleme auf diesem Planeten. Dieses Eingeständnis fällt mir schwer.

Gerne will ich mich rausreden. Will auf andere zeigen, die noch viel schlimmer sind. Will nach vorne schauen und vergessen, was meine Vorfahren anrichteten. Will der Angst ausweichen, was nötige Veränderungen für Konsequenzen mit Blick auf meine Existenz bedeuten. Will weghören, von der Schuld gegen mein Geschlecht, meine Hautfarbe, meine kulturelle Prägung, mein Vermögen.

Blick in die Zukunft

Und dann denke ich an unsere Kinder. Unseren Sohn, unsere Tochter. Sie sind jetzt Teenager. Sie treffen Entscheidungen für ihr Sein. Sie freuen sich auf ihr Leben. Und ich schaue auf die Rahmenbedingungen, die diese Sehnsucht füllen sollen. Eine Bildung, in der sie ihre Neugierde stillen wollen. Eine Arbeitswelt, in der sie sich erfüllen wollen. Eine Gesellschaft, in der sie dabei sein und herausragen wollen. Jede:r will normal, doch niemand will gewöhnlich sein. Ich trage keine Verantwortung für ihr Leben. Sonst nähme ich ihnen ihre Menschlichkeit. Für die Gegebenheiten, die sie vorfinden, bin ich allerdings sehr wohl mitverantwortlich. Da kann ich nur feststellen. Bisher reicht das, was ich tat, nicht. Es gibt noch viel Luft nach oben.

Der Kanon des Scheiterns

Zugegeben, ich bin schon lange ausgestiegen beim Tageschauglotzen. Ich meide  betreute Lagebesprechungen am Abend. Ich klicke Politiker:innen weg, die mir erklären, was erst später geht. Ich kündigte alle meine Schlaupresseabos. Stattdessen zahle ich gerne GEZ. So lausche ich am Morgen eineinhalb Stunden dem Deutschlandradio. Ich lese jeden Tag den Artikel von Perspective Daily. Ich höre im Monat fünf oder mehr Hörbücher. Darunter sind neben Fantasy, Cyberpunk und Krimis sicherlich ein Drittel Sach- und Fachliteratur. Ich unterhalte mich mit Menschen. Das mache ich, um informiert zu bleiben. Und ich erkenne ein Muster. Die Schar derer, wächst, die unsere Zwänge genau kennen. Doch neben den Populisten, die einzig für Aufregung leben, finden die Lösenden jenseits des öffentlichen Medienraums statt. Lösungen, die wirken, sind dabei keinesfalls immer hart. Sehr, sehr häufig sind sie allerdings undramatisch. Ja, mir kommt gar das Wort «langweilig» in den Sinn. Und genau hier liegt der Hase im Pfeffer. Denn das verfehlt meine Sucht nach Drama.

Fakten, die mir Angst machen, die mich unter Druck setzt, mein Verhalten zu verändern, führen in neun von zehn Fällen zu NICHTS. Dabei bieten sie Unmengen an Stoff für gute Geschichten. Alan Deutschman hat zu diesem Phänomen ein ganzes Buch geschrieben.

Was zählt

Er beschreibt auch, das Fakten, aus denen heraus jemand mit mir in Beziehung geht, damit ich gar keine Angst bekomme und stattdessen lerne, wie ich mich sinnvoll anders verhalte, in sieben von zehn Fällen zu Verhaltensänderungen führen. Lass Dir das auf der Zunge zergehen.

Wer dir Druck auf Basis von Angst macht, hat kein Interesse an dir.

Gebhard Borck

Also achte ich darauf. Wer mir Druck auf Basis von Angst macht, hat kein Interesse an mir. Diese Menschen suchen nach Vorteilen für sich selbst. Dabei ist es egal, ob es sich um Klimawandelleugner:innen, Politiker:innen, Kapitalist:innen, Baumbesetzer:innen oder Klimaaktivist:innen handelt. Sie alle werfen mir vor, dass ich nichts oder zu wenig oder etwas Dummes oder gar das Falsche machen. Keine:r unterstützt mich, mein Verhalten tatsächlich zu verändern. Damit lassen sie mich allein. Das führt zu meiner ohnmächtigen Untätigkeit bei dem, auf was es existenziell ankommt. Ich fürchte, das macht mich zu einem Bestandteil der Mehrheit.

Knapp vorbei ist auch daneben.

In all dem Aktionismus zeigen meine Finger stets auf andere. Auf die Medien. Auf die Politiker. Auf die Community-Präsident:innen. Und das ist gut so, denn andernfalls – Achtung Ironie – fänden tatsächlich Veränderungen statt. Leider würden sie das Leben ein wenig verblassen lassen. Stell Dir Katar vor ohne Zwangsarbeit. Banken ohne Milliardenbetrug. Den Tatort ohne Mord.

Wo bliebe da die Spannung?

So verhalten sich fünf Prozent der Staaten gegenüber Religionen aktiv ablehnend. Die Übrigen stehen neutral dazu, favorisieren eine Glaubenslehre oder haben sogar eine Staatsreligion wie Katar. Deshalb ist bei der Hälfte ein Ideologie-Streit an der Tagesordnung. Wir Europäer verfügen über knapp achtzig Prozent des Prokopfvermögens in der Welt. Das ist jede Schlagzeile wert, ist es doch Grund für Kriege, Ausbeutung und Flucht auf dem ganzen Planeten. Mehr als neunzig Prozent aller Knastinsassen sind Männer. Schell ist klar, warum es so viel wichtiger sein muss, testosterongesteuert frei zu sein, als sich für das Gemeinwohl zurückzunehmen.

Seit über zwanzig Jahren bin ich, um im Bild zu bleiben, trockener neoliberaler Kapitalist. Ich zwinge mich, jenseits von weisungshierarchischen Strukturen zu arbeiten. So behalte ich die Verantwortung. Ich strebe nach Klarheit. So vermeide ich schmerzvolle Konflikte. Ich teile Einkommen. So halte ich mich von Ausbeutung fern. Ich schreibe meine Erkenntnisse frei in Büchern heraus. Das schützt mich vor Rückfällen. Ich stelle wiederholt fest, das ist zu langweilig. Es findet keine Resonanz im Lärm des aufmerksamkeitsdefizitären Hyperaktionismus. Der zwar kaum etwas verändert, allerdings alle unterhält. Bis vor acht Monaten suchte ich nach Wegen, im Marktgeschrei mit dem Wichtigen durchzudringen. Ohne Erfolg. Mit der Erkenntnis kam die Ruhe. Ich ging weg vom Marktplatz. Weg vom Lärm. Weg von den Selbstdarsteller:innen. Seither finde ich sie in den Gassen. Die Resonanz für das, was Leben, lebenswert macht. Die eigene Pflicht so zu organisieren, dass mehr Zeit für den Genuss der Kür bleibt. Wenn Du genug davon hast, Deine Seele auf dem Markt der Eitelkeiten zu verkaufen, geh um die Ecke. Vielleicht treffen wir uns in einem der Hinterhöfe. Dort, wo Leben wahrhaftig ist. Verlass die Communities und werde Teil vom Movement.

Dir gefällt dieser Lichtblick, dann lies hier die anderen.

Teilen

Dieser Artikel kann nicht kommentiert werden.