Die Transformation zur intelligenten Organisation

Mittlerweile dämmert es den meisten Führungskräften: Der tayloristische Ansatz des allwissenden Managements und der perfekt planbaren Umsetzung wird den Ansprüchen einer immer komplexer werdenden Welt nicht mehr gerecht. Vielleicht können Sie diese Rede von der Komplexität nicht mehr hören, doch ich muss Ihnen gleich zu Beginn auf den Wecker gehen.

Denn ob der Tatsache, dass die üblichen Schlagworte die Runde machen, so liegt diesem Phänomen der sich steigernden sozialen, wirtschaftlichen und technologischen Komplexität ein tief greifender Wandel zugrunde. Das ruft natürlich allerhand Auguren auf den Plan, und so ist die Rede von Agilität, Disruption oder der digitalen Transformation.

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Die intellligente Organisation
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Diese exponentiellen Entwicklungen berühren mittlerweile alle Bereiche eines Unternehmens, sodass die Aufregung im Umfeld der Organisationsentwicklung und der Organisationsgestaltung nicht größer sein könnte. Innovations- und Lernlabore erfreuen sich einer großen Beliebtheit, hofft man doch damit ein Unternehmen in die richtige Richtung steuern zu können und endlich »innovativer« zu machen. Gleichzeitig ist jedoch bei vielen Menschen eine Überforderung festzustellen, als ob gerade Menschen in großen Organisationen »zu Ende verändert« sind. Es treten Lähmungserscheinungen auf, welche die dringend benötigte Lebensfähigkeit für das System verhindert.

Denn ob aller Dynamik und Veränderung, so gibt es doch Erkenntnisse, die für alle Organisationen, zu allen Zeiten Gültigkeit aufweisen. Sehr viele dieser Einsichten sind im Viable System Model von Stafford Beer beschrieben worden. Das Wissen für den Umgang mit organisatorischer Komplexität ist bereits seit 1959 verfügbar – aber leider nicht in der Form bekannt, wie es das Modell meines Erachtens verdient. Insofern ist es für einen Kundigen des Modells recht amüsant zu beobachten, welcher Hype rund um die Begriffe wie »Holakratie«, »Tribes«, »Adhockratie« oder sonstige Versuche entstanden ist, um Organisationen angeblich neu zu erfinden. Es stellt den nachvollziehbaren Wunsch dar, (wieder) Lebendigkeit sowie Innovations- und Lernfähigkeit im Alltag für die Menschen erlebbar zu machen und die wahrgenommene Starre angesichts der Herausforderungen in der Umwelt endlich anzugehen. Viele dieser neuen Ansätze versammeln sich unter den Begriffen »New Work«, »Future of Work« oder dem »partizipativen Management«.

In diesem Zusammenhang kommt ein Menschenbild zum Vorschein, das von einem selbstbestimmt handelnden Individuum erzählt, welches seinen Platz in einer Gemeinschaft finden möchte, um eine besondere Form der Verbundenheit und Sinnerfüllung zu spüren. Diesem Ideal schließe ich mich gerne an, doch bei der Anwendung moderner Methoden werden häufig keine strukturellen Veränderungen vorgenommen, sodass die zugrunde liegenden Ursachen nicht behandelt werden und nur eine Symptom-Kosmetik betrieben wird. Etwas frech gesagt: Man optimiert das System unter schlechten Rahmenbedingungen, anstatt die Rahmenbedingungen zu ändern.

Das Mülleimer-Modell

Genau hier setzt für mich ein gewisses Unbehagen ein, denn die jeweiligen modernen Maßnahmen erscheinen mir nur punktueller Natur zu sein, sodass der Mensch in der Komplexitätsfalle hängen bleibt. Für sich genommen sind viele aktuelle Methoden sehr wirkmächtig, nur werden diese nicht im Gesamtzusammenhang betrachtet und eingesetzt. Diese historisch alles andere als neue Erkenntnis beschreibt das Mülleimer-Modell sehr schön. Verkürzt besagt es, dass Unternehmen immer wieder für die runde Ablage arbeiten, da diese drei fundamentale Probleme nicht in den Griff bekommen:

Problematic preferences

Das Problem wird nicht erkannt, allen voran die Frage, wie das Problem zum Problem wird. Die qualitativen und quantitativen Zielvorgaben sind nicht verständlich und wirken daher nicht. Die Akteure erkennen ihre Präferenzen erst spät im Prozess und/oder wechseln ihre Präferenzen mehrmals.

Unclear technology

Die Akteure kennen die organisatorischen Regelungen und Strukturen der Entscheidungsprozesse zu wenig. Dadurch verzögern sich Entscheidungen, sodass der Entscheidung-Handlungs-Zyklus zu lange dauert. Es besteht nur ein rudimentäres Verständnis davon, welche Mittel welche Zwecke erfüllen sollen. Es ist wahrscheinlich, dass die Akteure durch Ausprobieren lernen, aber nicht die zugrunde liegenden Ursachen für das Funktionieren von Mitteln begreifen. Das kollektive Wissen ist permanent unter Druck, denn …

Fluid participation

Die Mitglieder von Entscheidungsgremien wechseln und das Engagement der Beteiligten hängt von ihrer Energie, ihrem Interesse und Beschränkungen ihrer zeitlichen Möglichkeiten ab. Zudem werden bestimmte Themen immer wieder diskutiert. Vorhandenes Wissen wird nicht erschlossen, sodass man schnell dem »Not Invented Here«-Syndrom verfällt – das Rad wird immer wieder neu erfunden.

Wie kann man diesem Phänomen entgegenwirken?

Hier kommt das Viable System Model (VSM) ins Spiel. Es bietet eine Landkarte der Organisation, um die wesentlichen Elemente und Zusammenhänge eines lebensfähigen Systems zu verstehen. Das Modell stellt die strukturellen Einheiten einer Organisation im Kontext der Lebensfähigkeit dar und wirft die Frage auf, wie die dazugehörigen Kommunikationsmuster gestaltet werden sollten. Das VSM ist also zuvorderst eine besondere Form der Informationsarchitektur von Organisationen, die in der Lage sind, ihre eigene Existenz aufrechtzuerhalten. Die Kunst in der Verwendung des Modells besteht darin, den richtigen Grad von Selbstorganisation und zentraler Lenkung für die Organisation herzustellen.

Im Kern geht es um folgende Themenfelder, die das VSM berührt:

  • Den Sinn und Zeck der Organisation erkennen und erfüllen,
  • Wissen organisationsweit verfügbar machen,
  • Balance von Selbstorganisation und Zentralität finden,
  • Raum für kollektives Lernen fordern und fördern,
  • Anpassungs- und Veränderungsfähigkeit von Individuen und der Gemeinschaft gestalten,
  • Problemlösungskompetenz der Menschen und Teams entwickeln,
  • geeignete Werkzeuge nutzen,
  • kollaborative Zielfindungsprozesse etablieren,
  • gesundes Wachstum durch nachhaltige Wertschöpfung ermöglichen,
  • Resilienz beziehungsweise Selbstheilungskräfte entfalten (individuelle und systemische),
  • sowie gemeinsame Werte und Visionen teilen.

Typisch Deutsch könnte man das Modell auch als einen Ordnungsrahmen bezeichnen, mit welchem die verschiedenen Meta-Aufgaben und Meta-Strukturen einer Organisation aufgedeckt werden. Es zeigt die normalerweise verborgenen Strukturen und Kommunikationsmuster auf, die in jeder lebensfähigen Organisation anzutreffen sind. Das Modell hilft dabei, die Aufmerksamkeit auf die relevanten Muster der Lebensfähigkeit zu lenken. Der Treiber hinter diesem Ansatz ist ein humanistisches Verständnis des Menschen im wirtschaftlichen Kontext. Daher sei auch bitte nicht mehr die Rede vom Humankapital, sondern vielmehr vom zu erschließenden HumanPOTENTIAL.

Durch die visuelle Darstellung des Modells tritt ein ebenso simpler wie bedeutungsvoller Effekt zu Tage: Mit dem VSM ist es möglich sowohl die Anatomie (das Organigramm), wie auch die Neurologie (das Kommunikationsnetzwerk) der Organisation aufzuzeigen. Auf Basis dieser Karte kann ein gemeinsames Verständnis hinsichtlich der Zusammenhänge innerhalb und außerhalb des Unternehmens erlangt werden. Es erlaubt zudem verschiedene, bereits vorhandene Prozessmethodiken zu integrieren, sodass zum Beispiel die Verwendung von Agile- oder Lean-Methoden im »großen Ganzen« betrachtet werden können. Wechselwirkungen werden sichtbar, die zuvor nicht in dieser Deutlichkeit wahrnehmbar waren. Im Wesentlichen geht es darum, die situationsspezifischen Hebel im System zu identifizieren, um den oben genannten Themen der Lebensfähigkeit gerecht zu werden.

Hierbei darf man nicht dem Irrglauben erliegen, dass es mit dem VSM möglich sei, ein System zu steuern. Denn die Komplexität entzieht sich der Steuerbarkeit im Sinne eines Automaten, der auf Knopfdruck aus einem Input einen Output generiert. Das reduktionistische Denken der binären Logik alleine genügt nicht, um in hochveränderlichen Situationen zu bestehen. Das Modell ist für Systeme gedacht, die von einem sehr hohen Grad an Unsicherheit geprägt sind und bei denen es Sinn macht, eher mit Wahrscheinlichkeiten zu arbeiten (probabilistische Systeme). Falls Sie also in einem relativ vorherbestimmbaren Umfeld unterwegs sind (deterministische Systeme), genügt das binäre Denken der zweiwertigen Logik (entweder/oder). Der probabilistische Ansatz erfordert jedoch ein vernetztes Denken – in dem es viele Graustufen gibt (sowohl/als auch).

Des Weiteren muss man im Zusammenhang des VSM den Begriff des Feedbacks sehr genau nehmen. Leider wird zwar viel vom Feedback gesprochen, doch häufig findet bestenfalls eine reine Rückmeldung statt. Feedback bedeutet aber ein »korrektives Signal«, also einen Input, der zu einer Veränderung führt. Im Meeting will aber leider häufig niemand Feedback, weil es als persönliche Kritik adressiert oder als solche wahrgenommen wird. Lebensfähige Systeme arbeiten aber nicht mit einer Schwarz-Weiß-Mechanik und kennen verschiedene Anpassungsstufen, um dynamisch auf Veränderungen zu reagieren.

Ich möchte die zweiwertige Logik nicht endlos schelten, hat sie doch die ganze Welt der Digitalisierung und den technischen Fortschritt erst ermöglicht. Aber die alleinige Fokussierung auf eine 1/0-Denkweise wird den Ansprüchen an das Individuum, die Organisation und der Gesellschaft heutzutage nicht mehr alleine gerecht. Es braucht die Erkenntnis, dass eine Kombination von Steuerung und Regelung die gewünschte Lenkbarkeit ergibt, welche die Navigation durch stürmische Gewässer ermöglicht. Es geht um ein harmonisches Zusammenspiel komplizierter und komplexer Managementprozesse, damit ein Gesamtoptimum, statt nur eines lokalen Einzeloptimums erreicht werden kann.

Das VSM dient dem Gestalter als Denkhilfe, damit die Ereignisströme der aktuellen Probleme, Strategien und Richtlinien zueinander passfähig sind. Anderenfalls entsteht nur Konfusion im System. Genau diese »Unordnung« gilt es durch Interventionen zu vermeiden, damit das Potenzial zur Lebensfähigkeit in die gewünschte Richtung gelenkt werden kann. Ein Unternehmen muss passend zur Umwelt aufgestellt sein und gleichzeitig mit den Veränderungen in der zur Verfügung stehenden Zeit intelligent umgehen. Das VSM ist natürlich nur ein Werkzeug zum Umgang mit organisatorischer Komplexität. Von Werkzeugen ist bekannt, dass diese mehr oder weniger nützlich sind. Es bleibt immer nur ein Modell und ist nicht die »Realität« oder gar die »Wahrheit«. Es soll und kann auch nicht als Allheilmittel dienen, bietet jedoch eine holistische Perspektive um das Ganze zu verstehen.

Die Anwendung des VSM ist vergleichbar mit dem eines MRT (Magnetresonanz-Topograph). Mit diesem Gerät ist es möglich, von jeder Stelle des Körpers dreidimensionale Aufnahmen zu erstellen und dient vor allen Dingen dazu, diagnostische Punkte zu finden und auf therapeutische Maßnahmen schließen zu können. Das bedeutet: Das Diagnoseinstrument ist nicht die Medizin, obgleich das VSM durchaus einige Antworten zur Behandlung liefern kann. Mir erscheint daher dieses Modell aus dem Jahre 1959 aktueller denn je, um den Anforderungen einer immer komplexeren Zeit gerecht zu werden.

Aus der Innovationsforschung ist bekannt, dass es durchschnittlich fünfzig Jahre dauert bis einer großen Idee der Durchbruch gelingt. Die Zeit ist damit auf jeden Fall reif für das VSM.

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