Agil auf dem Bau

Für viele Menschen ist agile Teamarbeit ein Begriff aus der Teckie-Ecke. Eine abgehobene Arbeitsweise für Softwareentwickler in Star-ups. Für andere ist es nicht mehr als ein Buzzword. Doch weit gefehlt. Denn agiles Arbeiten begegnet uns tagtäglich – beispielsweise auf dem Bau.

»Agiles Arbeiten im Team – alles schön und gut, aber mal ehrlich, das ist doch etwas für Techies aus der Softwarebranche und weit weg von dem, was ich in meiner betrieblichen Realität erlebe.«

Ist agiles Arbeiten tatsächlich eine abgehobene Arbeitsweise für Informatiker in Start-ups? Vielleicht zwar mehr als nur eine neues Buzzwort der Businesswelt, aber doch eben nichts, was eine wirklich breite Bedeutung bekommen kann, weil eben die wenigsten Menschen wie Softwareentwickler arbeiten können oder müssen.

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Agiles Arbeiten wird rapide zunehmen. Zum anderen stimmt die Vermutung nicht, dass agile Prinzipien nur in den Nerd-Welten der Programmierer anzutreffen sein werden. Viele agile Prinzipien sind durchaus bereits ein Teil unserer Realität – nur nicht unbedingt als solche benannt.

Ein Beispiel, das Sie möglicherweise aus Ihrer eigenen Erfahrung kennen, soll einige agile Kernbausteine illustrieren: der Bau eines Eigenheims. Zentrale Herausforderung ist es, die Arbeiten so zu koordinieren, dass schlussendlich verschiedene Gewerke effizient zusammenarbeiten, um das gemeinsame Ziel, nämlich die Fertigstellung des Traumhauses im Rahmen des vorgegebenen Zeit- und Kostenplans zu bewerkstelligen.
Wer das Treiben auf einer (Klein!-)Baustelle beobachtet, wird schnell feststellen, dass sich, trotz so mancher Unbotmäßigkeit (das Mauerwerk steht hier noch nicht, der Estrich ist noch nicht trocken), die Handwerker selbstorganisiert abstimmen, um die Arbeit optimal zu gestalten. Manche leidgeprüften Leser wenden nun womöglich ein, dass dies so gar nicht ihrer Erfahrung am Bau entspricht. Dies mag stimmen, vielleicht ist dies auch ein Phänomen unserer heutigen Zeit. Denn wenn Sie beispielsweise ihre Elterngeneration über deren Erfahrungswerte mit der Bauwirtschaft befragen, werden Sie wahrscheinlich staunen, wie davon berichtet wird, wie selbstverständlich es war, dass alle Gewerke in Selbstorganisation gemeinsam darauf achteten, dass die Arbeit reibungslos und vor allem sinnvoll ausgeführt werden kann.

Einige wesentliche Elemente agilen Arbeitens lassen sich aus dem Beispiel des Häusle-Baus bereits ableiten:

  • Meist ohne es zu wissen, finden sich die Handwerker verschiedener Gewerke zu einem interdisziplinär besetzten Team zusammen, dessen gemeinsames Ziel darin besteht, die Baustelle am Laufen zu halten.
  • Sie lassen sich auch von kleineren Abweichungen im Arbeitsplan nicht abhalten, sondern organisieren bei Bedarf eben selbst, wie die Arbeit am besten zu bewerkstelligen ist.
  • Hierfür stimmen sie sich regelmäßig ab, meist wenn gerade ein Problem anfällt, um die Arbeit optimal zu planen.

Voraussetzung dafür, dass dieses feine Zusammenspiel funktioniert, ist zunächst, dass sich alle Gewerke auf das gemeinsame Ziel committet haben und nicht nur darauf achten, dass das eigene Gewerk mit der Arbeit fertig wird oder zumindest einen guten Grund hat, warum es nicht ging. Damit alle Gewerke gut ineinander greifen können, ist es zudem notwendig, dass alle darüber Bescheid wissen, was eigentlich heute und in den nächsten Tagen an Arbeiten ansteht. Diese Transparenz ist eine weitere Voraussetzung für effizientes (agiles) Arbeiten. Hierfür stehen jedem Gewerk aktuelle Baupläne (in agiler Nomenklatur würde man von Sprint Backlogs sprechen) zur Verfügung, in denen die jeweiligen Arbeitsschritte geplant sind. In der Regel haben die Gewerke auch die Möglichkeit die Baupläne der anderen einzusehen und sogar den Architektenplan (gesamter Backlog).

Heute heißt der Bauleiter Process Owner

Der Bauleiter – man könnte ihn Process Owner nennen – sorgt dafür, dass die einzelnen Gewerke ihre Pläne im Sinne des Kunden richtig auslegen und einhalten. Er bringt die Stimme des Kunden (Voice of the customer) zu Gehör, hält den Kontakt mit dem Bauherrn und kann in Abstimmung mit dem Architekten gegebenenfalls auch Veränderungswünsche (zum Beispiel soll der Balkon nun doch größer als der des Nachbarn sein) aufnehmen. Der Polier – quasi ein agiler Coach – wird als Unterstützer des Teams eingesetzt und seine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass Probleme (wie zum Beispiel im Weg stehende Felsbrocken) schnell bearbeitet werden. In regelmäßigen (meist alle ein bis zwei Wochen) stattfindenden Baubesprechungen wird meist noch einmal Rückschau darauf gehalten was in der zurückliegenden Zeit erreicht wurde, ob es Schwierigkeiten gibt und was das für die Arbeit in den kommenden zwei Wochen heißt.

Natürlich gibt es auch einige Aspekte, die das genannte Baustellenbeispiel von tatsächlicher agiler Teamarbeit deutlich unterscheiden:

  • Die Abstimmungen erfolgen in wesentlich strukturierterem Maße, als hier dargestellt: So lösen Daily Meetings die oftmals informellen Abstimmungen ab. Die Baustellenbesprechung – wer schon einmal bei einer dabei war, weiß, dass es dort manchmal richtig heiß hergehen kann – wird in einzelne Meetings unterteilt, um so eine größere Fokussierung zu erzielen: So erfolgt am Ende eines Sprints eine Sichtung der Ergebnisse im Sprint Review (Was haben wir erreicht?), eine Auswertung des Prozesses in der Sprint Retrospektive (Wie ist es gelaufen?) und ein eigenes Meeting in dem der nächste Sprint geplant wird (Sprint Planning Meeting).
  • Die Selbststeuerung der agilen Teams wird durch umfassende Visualisierung unterstützt. Darüber hinaus ist die Selbststeuerung der agilen Teams noch wesentlich umfassender als in der Bauwirtschaft. So haben agile Teams erheblichen Einfluss auf die Arbeitsplanung, etwa indem sie eine Schätzung darüber abgeben, wie viel Kapazität sie für die Ausführung der vorgegebenen Ziele benötigen werden.

Agiles Arbeiten ist die Zuspitzung der Gruppenarbeit

Ein Blick in die Vergangenheit insbesondere auf Entwicklungen, die in Deutschland unter dem Stichwort »Humanisierung der Arbeitswelt« bekannt wurden, zeigt, wie wir zu der zugegebenermaßen provokanten Behauptung kommen, dass agiles Arbeiten neuer Wein in bewährten Schläuchen sei. Wir möchten hier aufzeigen, dass agiles Arbeiten das Rad auch nicht neu erfunden hat. Und es auch keine Veranlassung dazu gab. Vielmehr greift agiles Arbeiten auf verschiedene etablierte und praktikable Vorgehensweisen (oder Schläuche) zurück, macht sich diese für seine Zwecke eigen und verwirft anderes, das nicht mehr zu den Problemen der Zeit passt.
Die Wurzeln der agilen Teamarbeit liegen in Wahrheit deutlich tiefer, als es die landläufige Bezugnahme auf das agile Manifest aus 2001 vermuten lässt. Wer tiefer gräbt und schließlich den Kern in Händen hält, stellt mit Erstaunen fest, dass etwa (manche) teilautonome Arbeitsgruppen in der Produktion seit langem nach agilen Prinzipien arbeiten, ohne dass es je so wahrgenommen oder gar bezeichnet wurde.


Die Tradition von Teamarbeit, gerade im deutschsprachigen Raum, ist lang. Die Verankerung von hierarchischen Arbeitsweisen mit einer klaren Aufgaben- und Verantwortungszuweisung, mit Befehl und Gefolgschaft, wurde im Rahmen der gesellschaftlichen Veränderungen in den späten Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts durch ein Leitbild der selbstgesteuerten Teamarbeit abgelöst. Oft ironisch kommentiert mit dem Spruch »TEAM: Toll Ein Anderer Macht’s«.

Trotz der Kritik und einer durchaus reservierten Haltung konservativ Denkender, trat die Gruppenarbeit ihren Siegeszug an. In Deutschland wurden seit Mitte der 1970er-Jahre im Rahmen des von der Bundesregierung finanzierten Forschungsprogramms »Humanisierung des Arbeitslebens« auf sozialwissenschaftlicher Grundlage Konzepte zur (teil-)autonomen Gruppenarbeit praxisnah erprobt und weiterentwickelt. Richtungsweisend für die Weiterentwicklung von Gruppenarbeit waren die skandinavischen Länder (Volvo-Werke in Schweden) sowie die Forschungsergebnisse des englischen Tavistock Instituts.
Dabei wurden schon in den späten Achtzigerjahren landauf, landab in den Unternehmen durchaus zutreffend und plakativ die Erfolgsvoraussetzungen für Teams genannt.

    Man könnte auch sagen, dass agile Methoden eine radikale Zuspitzung von Grundgedanken der Gruppenarbeit sind.

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