Glauben Sie nicht alles, was Sie fühlen

Emotionen sind wichtig für uns Menschen. Scham- und Schuldgefühle beispielsweise sind für die meisten von uns vollkommen normal. Das “schlechte Gewissen” nach einem Diebstahl senkt die Wahrscheinlichkeit für eine Wiederholungstat. Doch diese Emotion ist keineswegs natürlich. Sie folgt erlernten gesellschaftlichen und ethischen Normen. Entsprechend sozialisiert, könnte ein Diebstahl also auch so etwas wie Stolz hervorrufen. Und da sind wir beim Thema: Glauben Sie nicht alles, was Sie fühlen.

Stellen Sie sich vor: Sie haben auf einer Party in einem unbeobachteten Moment einen herumliegenden Zweihunderteuroschein eingesteckt. Am nächsten Morgen finden Sie in Ihrer Hose diesen Gelschein.

Plötzlich fällt Ihnen wieder ein, dass Sie diesen gestern in einem ziemlich alkoholisierten Zustand einfach eingesteckt haben. Das Gefühl, das Sie empfinden, ist aber nicht Freude (»Es passiert etwas Gutes«). Nein, Sie schämen sich und haben Schuldgefühle. Warum? Weil Sie nicht nur Ihre eigenen Werte verletzt haben (Scham) und somit wahrscheinlich Ihr Bedürfnis nach Kohärenz und Stimmigkeit, sondern auch die Rechte eines anderen Menschen (Schuld) und somit wahrscheinlich Ihr Bedürfnis nach Bindung. Ihnen droht der Ausschluss aus einer Gemeinschaft, wenn dies herauskommt.

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Emotional Leading
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Entsprechend werden Sie wahrscheinlich sofort anfangen zu überlegen, was Sie nun tun können, um wieder Kohärenz herzustellen. Sollen Sie Ihre Tat, in der Hoffnung, dass Sie niemand gesehen hat, verschweigen? Dann bleiben aber die Scham- und Schuldgefühle.

Emotionen sind wichtig für uns

Dieses Beispiel (eines von vielen möglichen) veranschaulicht, wie wichtig Emotionen für uns Menschen sind. Dass Scham- und Schuldgefühle in dieser Situation aufkommen, empfindet wahrscheinlich die Mehrzahl der Leser dieses Buchs als vollkommen normal. Man stiehlt anderen Menschen kein Geld und ganz besonders dann nicht, wenn es Freunde von Freunden sind. Die Emotion zeigt uns dies und wird die Wahrscheinlichkeit, dass wir dies in Zukunft erneut tun, drastisch verringern beziehungsweise die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass wir das Geschehene rückgängig machen. Die dabei empfundene Emotion folgt natürlich erlernten gesellschaftlichen und ethischen Normen. Entsprechend hat die Mehrzahl der Menschen im Laufe ihrer Sozialisation eben gelernt, dass »man so etwas nicht tut« und empfindet Scham- und Schuldgefühle, wenn sie dagegen verstößt.

Ein Kind oder Jugendlicher, das beziehungsweise der in einem stark kriminellen Umfeld aufwächst, in dem vor allem derjenige etwas wert ist und dazugehört, der besonders geschickt andere bestiehlt oder betrügt, wird solche Scham- und Schuldgefühle wahrscheinlich gar nicht oder deutlich weniger stark empfinden. Oder er beruhigt sich nach einer solchen Tat mit mentalen Strategien, indem er sich zum Beispiel sagt, »dass der andere doch genug Geld hat« oder »dass er halt aufpassen muss, wo er sein Geld liegen lässt. Selbst schuld! Wieso bringt er mich eigentlich in eine solche Versuchung!«. Er wird vielleicht sogar Stolz empfinden und Respekt erfahren, weil er nach Meinung der Gemeinschaft, zu der er sich zugehörig fühlt, eine tolle Leistung erbracht hat und deshalb ein gestiegenes Ansehen genießt. Und genau dieses Beispiel zeigt, dass Sie nicht alles glauben sollen, was Sie fühlen! Auch das gehört dazu, wenn Sie sich im Bereich der emotionalen Führung weiterentwickeln möchten.

Emotionen sind sehr häufig ganz ausgezeichnete Ratgeber

Wenn jemand eine Woche vor einer wichtigen Prüfung immer noch nichts gelernt hat und nachts schweißgebadet und voller Angst aufwacht, dann ist das eine Reaktion, die ich als emotional intelligent beziehungsweise, ich führe einen neuen Begriff ein, als emotional reif bezeichne. Schließlich steht viel auf dem Spiel für die Zukunft, wenn derjenige die Prüfung nicht besteht. Vielleicht ist er ja schon einmal durch die Prüfung gefallen und es ist seine letzte Chance, die Ausbildung erfolgreich abzuschließen. Seine Angst sagt ihm dann, dass es nun wirklich höchste Zeit ist, mit dem Lernen zu beginnen. Wer aber schon sechs Monate vor der Prüfung vor lauter Angst nicht mehr schlafen kann und permanent von lähmenden Gedanken an ein Versagen und von Selbstzweifeln geplagt ist, zeigt eine emotional unreife Reaktion. Insbesondere dann, wenn die Person in der Vergangenheit schon mehrfach bewiesen hat, dass sie alle Fähigkeiten besitzt, die Prüfung mit Bravour zu bestehen. Wie Sie auch daran erkennen können, sind unsere Emotionen häufig, aber eben nicht immer gute Ratgeber für unser Handeln. Was vor allem daran liegt, dass sie in sehr hohem Maße von der Art und Weise, wie wir sozialisiert wurden, den daraus entstandenen Wertvorstellungen und somit unserer Art, über uns und die Welt zu denken, abhängen. Wenn jemand also so denkt – ich möchte es als inakkurat, also der Situation wenig entsprechend, oder eben unreif bezeichnen – beziehungsweise solche Wertvorstellungen hat, dann wird er auch inakkurate Gefühle haben beziehungsweise unreif fühlen. Diese Erkenntnis ist wichtig, weil die meisten Menschen einen deutlich besseren Zugang zu ihren Gefühlen haben als zu dem, was sie denken. Wir können zwar mit etwas Konzentration unsere Gedanken, den »Nachrichtenticker in unserem Kopf«, wahrnehmen (und uns im Übrigen über das, was uns da so durch den Kopf schwirrt, manchmal ganz schön wundern und amüsieren), aber häufig sind diese Gedanken doch sehr flüchtig, wenig greifbar. Das ist bei unseren Emotionen weniger der Fall, insbesondere dann, wenn diese sehr stark werden. Starker Ärger etwa ist sehr präsent, er kann von den meisten Menschen auch entsprechend benannt werden und ist, anders als unsere Gedanken, auch nicht gleich wieder weg. Er dauert an. So haben wir dann auch, wenn wir ein paar Mal durchgeatmet und uns nicht gleich vom Ärger haben mitreißen lassen, die Möglichkeit zu reflektieren, ob dieses Gefühl nun reif beziehungsweise akkurat ist. Wir haben, anders ausgedrückt und um bei der Sprache der Emotionen zu bleiben, also im Falle von Ärger die Möglichkeit zu überprüfen, ob unsere Rechte gerade wirklich so stark verletzt werden, wie es uns die Stärke der Emotion signalisiert.

Liegt es wirklich an der Situation oder ist es nicht vielleicht doch eher eine verquere Sichtweise, die dazu führt, dass wir gerade so starke Emotionen empfinden? Diese zutiefst menschliche Empfindung der Angemessenheit hat, ohne dass es der überwiegenden Mehrheit bewusst wäre, schon längst ihren Weg in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden. Auch in Ihren. Das äußert sich in Sätzen wie »Du hast recht, stolz zu sein!«, »Du hast recht, dich zu ärgern« oder »Du hast recht, traurig zu sein«. Das Wort »recht« bedeutet nichts anderes, als dass die Person, die den Satz sagt, die empfundene Emotion für richtig, also akkurat und der Situation angemessen hält. Sie nimmt eine auf ihren ganz eigenen Wertvorstellungen basierende Bewertung vor. In diesem Fall passen die Wertvorstellungen der beiden Personen zusammen. Interessanterweise wird diese Bewertung aber häufig nur dann geäußert, wenn jemand mit der Emotion des Gegenübers einverstanden ist. Ist dies nicht der Fall, halten sich viele Menschen lieber bedeckt, da sie mit Aussagen wie »Ich sehe eigentlich keinen Grund dafür, so stolz zu sein« oder »Ich finde, du übertreibst es mit deiner Angst« dem Gegenüber doch sehr nahetreten. Wie haben Sie das letzte Mal reagiert, als Ihnen jemand gesagt hat, dass Sie sich zu sehr über etwas aufregen? Die wenigsten hören gerne, dass sie falsch fühlen. Und das, obwohl in solchen Aussagen deutlich mehr Erkenntnispotenzial stecken könnte als in einer Bestätigung der Richtigkeit des emotionalen Zustandes, die im Übrigen häufig auch nur Mitgefühl zeigen soll. Sie können also den emotionalen Zustand des Gegenübers beobachten, mit seiner persönlichen Situation abgleichen und nehmen ganz automatisch und unbewusst eine Bewertung bezüglich der Richtigkeit dieser Emotion vor. Entsprechend sollte also auch nichts dagegensprechen, dies alles bei sich selbst zu tun. Oder?

Wir kennen, vereinfacht ausgedrückt, drei unterschiedliche Möglichkeiten, wie ein Mensch im Verhältnis zu einer Situation emotional reagieren kann. Zwei davon sind inakkurat, also unreif, und eine davon ist akkurat. Ich habe versucht dies mit dem Sechs-Kreise-Modell darzustellen und verwende dieses auch sehr gerne in Trainings und Coachings, da es leicht verständlich ist.

In den weiter oben geschilderten Beispielen handelt es sich um akkurate Emotionen, also Schuldgefühle nach einem Diebstahl beziehungsweise Angst eine Woche vor einer wichtigen Prüfung. Im einen Fall wurde gegen festgelegte gesellschaftliche Normen verstoßen und im anderen Fall droht tatsächlich eine Gefahr. Würde man hundert Menschen fragen, ob diese Gefühle »zu Recht« bestehen und ob sie in ihrer Größe angemessen sind, würden wahrscheinlich alle die Frage mit Ja beantworten. Und wären es nur 95, würden wir immer noch von einer akkuraten Reaktion sprechen.

In Bezug auf die inakkuraten Reaktionen gibt es zwei Möglichkeiten. Einerseits kann die Emotion deutlich kleiner sein, als es angemessen erscheint (im Modell die beiden Kreise unten). Das wäre der Fall, wenn jemand nur sehr geringe Schuldgefühle hat, nachdem er einem Bekannten etwas gestohlen hat. Außer die Person hat einen sehr guten Grund dafür, ist dies eine emotional unreife Reaktion. Andererseits kann die Emotion überzogen sein (in der Grafik die beiden Kreise oben). Beispiele hierfür kann man tagtäglich auf deutschen Autobahnen beobachten.

Ein Auto kommt auf der linken Spur mit sehr hoher Geschwindigkeit angerast. Der Fahrer muss seine Geschwindigkeit von 200 auf 120 Stundenkilometer drosseln, weil vor ihm ein Auto auf seine Spur gewechselt ist und einen Lastwagen überholen will. Wir nehmen in dem Fall an, dass der Fahrer, der mit 120 überholt, alle Verkehrsregeln eingehalten hat, also zum Beispiel rechtzeitig den Blinker gesetzt hat und den Sicherheitsabstand wahrt. Sehr häufig kann man nun beobachten, dass sich die Person, die abbremsen muss, wahnsinnig aufregt. Sie wird sich sehr stark ärgern, weil (erinnern Sie sich an die Tabellen) aus ihrer Sicht gerade ihre Rechte beziehungsweise Grundbedürfnisse verletzt werden: das Bedürfnis nach Kontrolle (»Ich entscheide, wann ich bremse und lasse es mir nicht von jemand anderem diktieren«) und/oder nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz (»Der andere Autofahrer respektiert mich nicht«). Es kann aber auch das Bedürfnis nach Lustgewinn sein (»Och, jetzt wollte ich mal richtig schön schnell fahren und Spaß dabei haben«). Ganz unabhängig vom verletzten Grundbedürfnis betrachtet die Person also, überspitzt ausgedrückt, die Fahrbahn als ihre ganz persönliche, die quasi niemand sonst frei benutzen darf. Dass dies vollkommener Blödsinn ist und somit auch die dazugehörige Emotion, der Ärger, braucht man an dieser Stelle nicht zu betonen. Die Tatsache, dass sich trotzdem so viele Menschen darüber aufregen, sagt, wie ich finde, doch so einiges über unsere Gesellschaft (ja, es ist auch Ihre) und über einige der in dieser Gesellschaft gelebten Werte aus.

Sie können diese emotional unreifen Reaktionen übrigens auch bei gebildeten und häufig erst einmal reif wirkenden Menschen beobachten. Nehmen Sie einen Jürgen Klopp und seine Wutausbrüche am Spielfeldrand während Fußballspielen. Viele mögen diese Emotionalität toll finden, aber man kann es ganz bestimmt keine emotional reife Reaktion nennen. Es wirkt eher etwas kindisch und überzogen. Sollten Sie dies anders sehen, achten Sie mal auf Jürgen Klopps Reaktion, wenn er mit diesen Bildern nach einem Spiel während eines Interviews konfrontiert wird. Es ist ihm oft peinlich und er scheint sich insgeheim zu wünschen, anders reagiert zu haben. Oder, um es noch deutlicher zu machen: Was würden Sie zu Ihrem Sohn sagen, wenn Sie während seiner Fußballspiele vergleichbare Wutausbrüche, die ihm schon einige gelbe und rote Karten eingetragen haben, beobachten würden? Ist nicht auch Jürgen Klopp schon mehrmals des Platzes verwiesen worden und hat damit seiner Mannschaft geschadet?

Für übertriebene Emotionen gibt es unzählige Beispiele. Wer hat nicht schon einmal Schuldgefühle gegenüber einer anderen Person gehabt, um später in einem Gespräch festzustellen, dass diese gar nicht der Meinung ist, ihre Rechte seien verletzt worden? Und wer war nicht schon einmal sehr frustriert, weil er das Gefühl hatte, nicht genügend Ressourcen zu haben, um ein Problem zu lösen, und hat es dann plötzlich doch aus eigener Kraft geschafft?

Zur Erläuterung des Sechs-Kreise-Modells habe ich bisher nur Beispiele aus dem Bereich der negativen Emotionen herangezogen. Natürlich gilt das aber auch für positive Emotionen. So kann beispielsweise jemand nach einer gerade vollbrachten Leistung wahnsinnig stolz sein und ein an Größenwahn grenzendes Gefühl empfinden, während hundert andere das Ereignis als gut, aber vielleicht nicht so gut einschätzen würden, wie es die Person selbst tut. Der Begriff (Größen-)Wahn kommt da also nicht von ungefähr. Ebenso trifft man aber auch immer wieder Menschen, die ganz Großartiges vollbringen, sich eigentlich sehr darüber freuen könnten, es aber nicht tun beziehungsweise deutlich weniger tun, als es die anderen erwarten würden. Auch in diesen beiden Fällen spreche ich von einer emotional unreifen beziehungsweise einer emotional inakkuraten Reaktion. Beide Personen tragen etwas in sich, das sie daran hindert, so zu reagieren, wie es angemessen erscheint.

Es sei an dieser Stelle betont, dass ich mir nicht anmaßen möchte, in jedem Fall beurteilen zu können, was nun eine emotional reife beziehungsweise unreife Emotion und somit auch Reaktion ist. Manchmal erscheint es ganz offensichtlich und in wiederum anderen Fällen ist es gar nicht so einfach zu unterscheiden. Dazu existieren einfach zu viele Graustufen zwischen den von mir geschilderten Extremen. Ebenso gibt es weltweit sehr große kulturelle Unterschiede und diese drücken sich eben auch in der Art, wie wir emotional reagieren, aus. Menschen aus dem nördlichen Europa tragen ihren Ärger oder ihre Freude ganz anders vor sich her, wenn überhaupt, als dies Menschen aus dem südlichen Europa tun. Ich selbst bin halber Südfranzose und zwanzig Kilometer von der spanischen Grenze entfernt aufgewachsen. Dort ist es ein wichtiger Wert (ein Wort, das nicht mit wertvoll gleichgesetzt werden sollte), seinen Ärger auch möglichst intensiv zu zeigen, indem man laut flucht und wild gestikuliert, während man ein solches Verhalten in Norwegen oder in asiatischen Ländern wohl nur milde belächeln würde. Dort würde ich mit einer solchen Reaktion gegebenenfalls sogar mein Gesicht verlieren. Daran zeigt sich, dass die Beurteilung, ob eine emotionale Reaktion nun akkurat oder inakkurat ist, sofern man diese Entscheidung treffen möchte, auch immer auf der Basis der gesellschaftlichen und kulturellen Normen vorgenommen werden muss. Trotzdem gibt es aus meiner Sicht zwei Wege, dieses kleine Dilemma zumindest ein wenig zu lösen.

Eine Möglichkeit ist, die Person selbst urteilen zu lassen. Jeder muss am Ende des Tages selbst entscheiden, ob er sich emotional reif oder eher unreif in einer Situation verhalten hat. Ein Beispiel: Befindet man sich als Coach oder als Führungskraft in einer Beratungssituation beziehungsweise einem Mitarbeitergespräch, kann man die Person fragen, wie sie ihre Emotion einschätzt. Findet sie, dass die Größe der Emotion der Situation entspricht? Ich zeichne dann immer die sechs Kreise auf ein Blatt Papier, erläutere das Modell kurz und bitte die Person anzugeben, welche der drei Möglichkeiten aus ihrer Sicht am ehesten zutrifft. Ich versichere Ihnen, dass mein Gegenüber nur sehr selten zu einer anderen Einschätzung kommt als ich selbst. Aber die Person hat es selbst entdeckt und das ist deutlich angenehmer und auch zielführender, als wenn sich jemand vor einem aufbaut und sagt, dass er oder sie emotional unreif reagiert, so wie ich es eben selbst am Beispiel von Jürgen Klopp gemacht habe.

Akurate bzw. inakurate Emotionen sind per se weder gut noch schlecht

Der zweite Weg ist, akkurate beziehungsweise inakkurate emotionale Reaktionen nicht per se als etwas Gutes oder Schlechtes anzusehen. (Sie erinnern sich vielleicht, dass ich in dem Kapitel zu den psychologischen Grundbedürfnissen bereits erwähnt habe, dass wir Menschen Dinge immer in gut oder schlecht einteilen wollen.) Aus Erfahrung weiß ich, dass inakkurate Emotionen durchaus auch etwas Positives in sich tragen können. Das zeigt sich, wenn sich jemand durch immer wiederkehrende Übung eine eigentlich sinnvolle und schützende Emotion quasi abtrainiert hat. Also, wenn Bergsteiger ohne jegliche Angst in einer Steilwand klettern oder Menschen vollkommen gelassen vor tausend Menschen eine Rede halten. Sie sehen nicht mehr die Gefahr, die sie noch bei den ersten Malen verspürt haben, und empfinden keine Angst, was natürlich den Vorteil hat, dass sie die Situation entspannt und souverän meistern können. Es birgt aber die Gefahr, und dessen sollten sich diese Menschen, auch wenn es ein wenig masochistisch anmutet, bewusst sein, dass sie die Situation unterschätzen und sich deshalb nicht mehr vollkommen angemessen verhalten. Der Bergsteiger geht dann zu viele Risiken ein und der Redner bereitet sich nicht mehr ausreichend auf einen Vortrag vor. Ebenso kann es, im positiven Sinne, sein, dass ein Mensch ein enorm großes Begeisterungsgefühl für eine neue Aufgabe erlebt, obwohl dies erst einmal inakkurat erscheint beziehungsweise die Aufgabe gegebenenfalls deutlich schwerer ist, als die Person annimmt. Sie ist quasi blind vor Emotion und Motivation für das anstehende Projekt. Von Vorteil kann aber sein, dass die Person durch die verspürte Energie eine deutlich größere Bereitschaft hat, sich anzustrengen und das Ziel zu erreichen, während andere Personen der Sache sowohl gedanklich als auch emotional akkurat skeptisch gegenüberstehen und somit auch die Wahrscheinlichkeit verringern, das Ziel zu erreichen.

Entsprechend bleibt, um für sich selbst eine Entscheidung zu treffen (denn das kann man tatsächlich nur selbst), nur der Weg über den mit unserem Verhalten angerichteten Schaden. Damit meine ich, dass vor allem dann Handlungsbedarf für einen selbst besteht, wenn man sich mit seinen unreifen emotionalen Reaktionen selbst und/oder anderen schadet. Häufig trifft man auf solche Menschen im Coaching und, bei klinischen Fällen, in Psychotherapien. Diese Menschen ärgern sich mehr, als es angebracht ist, und entwickeln in der Folge selbst Magengeschwüre oder die anderen bekommen sie. Menschen, die mehr Angst haben, als sie eigentlich müssten, bleiben weit unter ihren Möglichkeiten oder quälen sich unter (befürchtetem?) Druck unnötig. Menschen, die übertriebene Schuldgefühle haben, sind permanent in Sorge, die Rechte eines anderen verletzt zu haben. Und Menschen, die frustrierter, trauriger und hoffnungsloser sind, als es ihrer Lage entspricht, und die die Stärken und Fähigkeiten in sich tragen, um Probleme zu lösen, können diese einfach nicht erkennen. Es gibt aber auch Menschen, die sich weniger freuen, als sie könnten, und die weniger stolz sind, als sie es sein könnten. Diejenigen, die stolzer oder mutiger sind, als sie eigentlich sein sollten, sehen wir als Coaches in der Regel nicht in der Beratung. Bei ihnen läuft ja alles bestens. Ihnen geht es erst einmal gut.

Emotionales Argumentieren

All dies wird durch ein weiteres sehr gut untersuchtes psychologisches Phänomen unterstützt: das emotionale Argumentieren. Dieses verstärkt in hohem Maße die im Sechs-Kreise-Modell geschilderten Effekte und ist, neben unseren manchmal verqueren Sichtweisen, der zweite Grund, warum Sie nicht alles glauben sollten, was Sie fühlen. Was hat es damit auf sich? Wie gerade dargelegt, ist unsere Einschätzung einer Situation beziehungsweise von uns selbst ganz entscheidend dafür verantwortlich, welche Emotion wir verspüren und wie groß diese ist. Je akkurater wir etwas einschätzen, desto akkurater werden wir auch situationsspezifisch fühlen. So lautet erst einmal eine der am besten untersuchten Annahmen der Psychologie.

Von Bedeutung ist hier der Teufelskreis, in den man über das emotionale Argumentieren auf der Basis einer inakkuraten Einschätzung gelangen kann.

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