Die meisten Menschen, die an Gefühle denken, haben meist einen Wutausbruch, extreme Traurigkeit, eine Panikattacke oder andere Gefühlsausbrüche vor Augen. So stellen wir uns Gefühle vor, wenn wir bewusst an sie denken. Gerade bei negativen Gefühlen fallen wir in dieses Muster. Doch diese Taubheitsschwelle ist gefährlich, da wir Gefühle erst wahrnehmen, wenn sie längst im dukelroten Bereich sind.
Was ist eigentlich diese ominöse Taubheitsschwelle? Wenn wir normalerweise über Gefühle reden, dann haben die meisten Menschen sofort die großen Gefühlsausbrüche vor Augen. Bei Wut denkst du vielleicht an einen Wutanfall, bei dem lauthals geschrien wird und die Türen knallen. Bei Angst an eine Panikattacke, bei der du handlungsunfähig bist, kaum mehr Luft bekommst und dich nicht mehr bewegen kannst. Wenn du an Traurigkeit denkst, stellst du dir wahrscheinlich einen Anfall von tiefer Traurigkeit bis hin zur Depression vor, bei der du tagelang weinst und tief in bodenlosem Kummer versinkst und das Gefühl hast, nie wieder herauszukommen. So stellen sich die meisten Menschen Gefühle vor, wenn sie bewusst an Gefühle denken – insbesondere, wenn es um die vermeintlich negativen Gefühle geht. Deshalb machen uns Gefühle oft solche Angst, weil wir in der Regel nur die Erinnerung an Erfahrungen mit diesen hohen Ausprägungen des jeweiligen Gefühls haben. Das ist das Resultat unserer Taubheitsschwelle – sie lässt uns Gefühle erst bewusst als solche wahrnehmen, wenn sie groß genug sind, um diese Schwelle zu überspringen. Dann sind sie aber meist längst in einem Bereich, in dem Gefühle wirklich außer Kontrolle geraten können, wenn du nicht gelernt hast, damit umzugehen. Und wenn das passiert ist, hast du wieder einen Grund mehr, deine Gefühlsbarriere noch stärker zu fixieren oder sogar noch höher zu schrauben.
Unsere Kultur unterstützt die Gefühlstaubheit
Wie ist das bei dir? Wo liegt deine Taubheitsschwelle – insbesondere bei Wut, Traurigkeit und Angst? Bei den meisten Menschen in der westlichen Kultur liegt diese ziemlich hoch – in der Regel tatsächlich bei um die achtzig Prozent – je nachdem um welches Gefühl es sich handelt. Und unsere Kultur lädt uns geradezu dazu ein, nichts zu fühlen und unsere Taubheitsschwelle hochzuhalten. Denn wenn du nichts fühlst, dann bist du leichter zu kontrollieren und zu manipulieren. Wenn du zum Beispiel keine Angst fühlen willst, dann kann die Industrie dir viel mehr Dinge verkaufen, die du nicht brauchst, als wenn es für dich okay wäre, Angst zu fühlen. Die komplette Versicherungsbranche und auch unser System von abhängiger Arbeit würde relativ schnell zusammenbrechen, wenn wir alle keine Angst mehr vor unserer Angst hätten. Das westliche Wirtschafts- und Arbeitssystem basiert aber darauf, dass Menschen als Konsumenten und in ihrer beruflichen Rolle funktionieren. Also unterstützt uns unser herrschendes System dabei, weiter taub zu sein, und stellt uns allerlei Betäubungsmittel zur Verfügung.
Hier nur einige gängige Möglichkeiten, um deine Gefühle zu betäuben und deine Taubheitsschwelle hochzuhalten:
- Essen, zu viel essen, Süßigkeiten und zuckerreiches Essen
- Rauchen, Alkohol und andere Drogen
- Fernsehen, Radio hören, ständige Hintergrundgeräusche
- Computerspiele, Wetten, Internet, Social Media
- Sich immer beschäftigen, sich ablenken, nie zur Ruhe kommen, zu viel arbeiten (Workaholic)
- Immer in Gesellschaft sein, immer reden, jede Nacht Party feiern
- Übermäßig Sport treiben, übermäßig Sex haben, Wettkampf
- Konsum
- Flach atmen, Gefühle wegatmen, Gefühle herunterschlucken;
- Gefühle wegmeditieren, Gefühle mit positivem Denken überdecken (»Ich habe keine Angst. Ich habe keine Angst. Ich habe keine Angst.«);
- Gefühle analysieren und rationalisieren, sich beherrschen, eine Maske aufsetzen, eine professionelle Rolle annehmen
- …
Hast du deine Favoriten schon entdeckt? Oder fehlen diese vielleicht in der Liste? Wie hältst du dich von deinen Gefühlen fern oder wie hältst du deine Gefühle von dir fern?
Gefühlsarbeit heißt, die Gefühlstaubheitsschwelle bewusst herabzusetzen
Wenn die Taubheitsschwelle durch bewusste Gefühlsarbeit und gleichzeitiges stufenweises Weglassen der Taubmacher-Strategien Stück für Stück herabgesetzt wird, kannst du Wut schon in geringer Dosis fühlen. Nehmen wir mal an, du bist dabei, eine wichtige Nachricht per E-Mail zu verfassen. Dein Partner, gerade von der Arbeit nach Hause gekommen, möchte zur Entspannung etwas Musik hören und startet seine Lieblings-CD. Dadurch entsteht bei dir vielleicht etwas Wut, weil du sich nicht mehr so gut konzentrieren kannst und es dir durch die Musik schwerfällt, deine Gedanken zu formulieren. Du kannst dieses kleine Gefühl also jetzt schon als Wut identifizieren, da deine Taubheitsschwelle sehr niedrig ist. Und wenn du durch die Gefühlsarbeit auch gelernt hat, verantwortlich mit deiner Wut umzugehen, dann kannst du niederschwellige Wut nun nutzen, um deinem Partner eine klare Unterscheidung zu geben und ihm eine Grenze zu setzen: »Schatz, würdest du bitte noch fünf Minuten warten, bevor du Musik hörst, oder die Kopfhörer benutzen? Ich muss noch diese E-Mail fertig schreiben und kann mich nur schwer konzentrieren, wenn dabei Musik läuft. Ich sage dir gleich Bescheid, wenn ich fertig bin.« Der Partner erkennt durch die Klarheit und Kraft in der Aussage die Wichtigkeit und hat deshalb auch kein Problem, der Bitte nachzukommen. So wurde das Gefühl bewusst gefühlt und genutzt und dann verschwindet es auch wieder, weil es seine Aufgabe erfüllt hat. Ist die Gefühlsbarriere hingegen hoch und hat die Person noch nicht gelernt, verantwortlich mit Gefühlen umzugehen, führt die Situation meist zu unausgesprochenem Groll, der sich im Stillen ansammelt, sich langsam aufaddiert und dann irgendwann als volle Ladung ausbricht.
Das Gleiche gilt natürlich auch für die anderen als negativ eingeschätzten Gefühle. Auch Angst und Traurigkeit kannst du unterhalb deiner Taubheitsschwelle nicht als diese identifizieren und damit auch nicht nutzen. Die unerkannte Angst kann sich dann in physischen Symptomen bemerkbar machen, wie Unruhe, feuchte Hände, Durchfall bis hin zu Herzrhythmusstörungen. Oder sie kann sich auch so weit aufaddieren, dass sie irgendwann in einer Panikattacke ausbricht, zum Beispiel dann, wenn deine Kontrollmechanismen heruntergefahren werden, nämlich nachts, wenn du schläfst. Oder eben, ähnlich wie bei der Wut, wenn deine Angst durch mehrere angstauslösende Ereignisse hintereinander oder ein großes angstauslösendes Ereignis die Barriere übersteigt. Selbst in Bezug auf das Gefühl Freude kann deine Taubheitsschwelle wirksam sein. Dann fühlst du auch die Freude bewusst erst ab einem bestimmten Prozentsatz, wenn du schon längst himmelhochjauchzend bist.
Patrizia Patz ist die evolutionäre Krustensprengerin. Als Profi-Trainerin und Coach begleitet sie seit über siebzehn Jahren Menschen und Organisationen über die Grenzen ihrer Konditionierung hinaus zu mehr Möglichkeiten und authentischer Lebendigkeit. Sie ist Expertin für die Verbindung von Emotion und Ratio, sodass ihre Kunden neben wirksamen Lösungen auch die Kraft ihrer Gefühle zurückgewinnen.