Die digitalen Pioniere wohnen auf dem Land

Wer sich eine Vorstellung von der Arbeit der Zukunft machen möchte, dem empfehle ich einen Trip aufs Land. Dort können wir heute schon sehen, wie die Digitalisierung eine ganze Branche umkrempelt: IT meets Landlust.

Vom Berliner Reichstagsgebäude bis Ruhlsdorf/Großkreuz in Brandenburg sind es knapp 67 Kilometer. Nahe der Autobahnausfahrt Lehnin an der A2 wird die Zukunft der Landwirtschaft entwickelt. Die rund zweihundert Milchkühe in den Ställen werden von Maschinen versorgt. Ist das Euter voll, begibt sich eine Kuh selbstständig zum Melkroboter. Die Maschine erkennt die Kühe, denn sie tragen alle Informationen zum Tier auf einer Art Chipkarte bei sich. Unmittelbar nach dem Melken wird die Milch jeder Kuh genau analysiert. Ist die Milch zu wässrig? Befindet sich Blut in der Milch? Ist das Euter der Kuh möglicherweise entzündet? Dies würde sich durch eine Veränderung der elektrischen Leitfähigkeit der Milch zeigen.

Wie das genau funktioniert, ist in der ARD-Reportage »Die Zukunft der Arbeit« von Ralf Hoogestraat zu sehen. Der voll digitalisierte und automatisierte Kuhstall. Der Mensch ist im Stall-Alltag zwar noch nicht ganz überflüssig, aber primär Zuschauer und Kontrolleur. Der Cowboy wird zum Cowmanager. Das hat Folgen: Von aktuell 75.000 Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft werden nach Schätzungen zwei Drittel in den kommenden Jahren überflüssig werden.

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Landwirtschaft und IT wachsen zusammen

Die Digitalisierung wird die Landwirtschaft auch in den Bereichen verändern, in denen es heute die wenigsten für möglich halten. Beispielsweise werden Hersteller von Bodensubstraten in den kommenden Jahren ungeahnte Konkurrenz erhalten. Substrate werden heute vor allem in Gewächshäusern eingesetzt. Rosen am Nordpol züchten? Sonnengereifte Paprika in Holland großziehen? Wer solche Pläne hat, benötigt heute den richtigen Mutterboden: Substrate liefern genau die Nährstoffmischung, um optimale Zuchtergebnisse zu garantieren. Bislang waren die Konkurrenten eher in Nischen zu finden: Beispielsweise Bio-Cherrytomaten, die auf Steinwolle gezüchtet werden. Für den Massenmarkt kamen Züchter an Substratherstellern nicht vorbei. Doch jetzt könnten ihre Produkte durch Bits und Bytes ergänzt oder teilweise ersetzt werden. Ein Algorithmus als Konkurrenz zur Blumenerde? Wie ist das möglich?

Das eigentliche Produkt, das die Hersteller verkaufen, ist nicht das Pflanzensubstrat. Das eigentliche Produkt ist Sicherheit. Die Sicherheit, dass Gurke Nr. 98.743 genauso aussieht wie Gurke Nr. 2. Die Sicherheit, dass von 50.000 eingepflanzten Tulpen möglichst 50.000 in einer gleichbleibenden Qualität später am Markt ankommen. Nichts wäre für einen Gewächshausbetreiber schlimmer, als Pflanzen auf einem Nährboden wachsen zu haben, der unterschiedliche Bedingungen bietet. Landwirtschaftliche Produkte sind heute hochstandardisiert, ein Abweichen der Norm würde bedeuten: Die Waren sind unverkäuflich. Für einen Gewächshausbetreiber kann dies – verursacht durch den hohen Preis und Konkurrenzdruck in der Branche – das finanzielle Aus bedeuten.

Sensoren und Bodenradar erobern das Gewächshaus

Was aber passiert mit Bodensubstraten, wenn Sensoren im Erdreich kombiniert mit Bodenradar die Wachstumsbedingungen einer Pflanze rund um die Uhr überwachen? Wenn spezielle Nährlösungen – überwacht durch IT-Systeme – Substrate ersetzen und wenn im wahrsten Sinne des Wortes jede Gurke online ist? Wenn Algorithmen die Raumtemperatur und das Licht automatisch regeln? Und wenn ein Roboter überall dort fehlende Nährlösung aufträgt, wo sie aktuell fehlt? Ist dann noch Platz für Bodensubstrate? Immerhin: Als Wissenschaftler der Hochschule Niederrhein Anfang 2015 das Projekt »High Tech Greenhouse 2020« vorstellen, spielen Substrate dabei noch eine große Rolle. Aber weiß man es? Ist die Ära der Pflanzensubstrate vorbei? Oder hat sie gerade erst begonnen? Klar ist: Die Digitalisierung verändert selbst Unternehmen, bei denen das Top-Management bislang der Ansicht war, es würde sie niemals betreffen.

Drohnen über den Äckern, der Landwirt als Touristenattraktion

Auf Gut Derenburg in Sachsen-Anhalt werden Raps, Gerste und Weizen angebaut. Klaus Münchhoff ist einer der Vorreiter der digitalen Landwirtschaft. Mit Drohnen hat er Luftbilder von den vierzig Ackerflächen seines Betriebs machen lassen. Selbst die elektrische Leitfähigkeit des Bodens wurde durchgemessen. Die FAZ nennt Gut Derenburg anerkennend den Bauernhof 4.0.

Dass der Traktor von selbst fährt und dabei über GPS-Signale gesteuert wird, ist in der Landwirtschaft möglicherweise bald so selbstverständlich wie die Benutzung einer Kaffeemaschine im Haushalt. So selbstverständlich, dass der Schweizer Tagesspiegel spekuliert, dass die Landwirtschaft im klassischen Sinne in der Schweiz in einigen Jahren möglicherweise nur noch in Form von Touristenattraktionen existiert: »Der Bauernhof wäre dann nur noch Schein, die Kühe im Stall Requisiten ohne produktive Funktion.«

Möglich machen es Unternehmen wie die Firma Agrobot aus den USA, die heute bereits zu den Vorreitern sogenannter Landwirtschaftsroboter zählt.

Gurken, Raps und Schweine werden in absehbarer Zeit nicht digitalisiert werden. Wohl aber die Art, wie landwirtschaftliche Produkte erzeugt werden. Weltweit wächst zwar die Zahl der Menschen, aber nicht die Zahl der zur Verfügung stehenden Ackerflächen. Die größte Herausforderung für die kommenden Jahrzehnte wird es sein, durch die Digitalisierung den Ertrag pro Quadratmeter Fläche drastisch zu steigern. Es gibt eine Kehrseite: Der klassische Landarbeiter wird weniger gebraucht. Der Spargelpanther der Firma ai-solutions erntet parallel auf drei Dämmen gleichzeitig den sichtbaren Spargel. Kamerasysteme erkennen den Spargel vollautomatisch, die Maschine sticht, zieht und legt die Ernte in den Sammelbehälter.

Dafür entstehen an anderer Stelle neue Arbeitsplätze: Unternehmen, die die Digitalisierung der Landwirtschaft aktiv vorantreiben. So sucht das Unternehmen Farm Facts, eine Tochter der BayWa, Mitarbeiter mit Profilen wie »Konzeptionist – Geschäftsanalyst«. Die Aufgaben sind unter anderem: »Erstellung und Modellierung von Geschäftsprozessen im landwirtschaftlichen Bereich«. Falls Sie ein Studium im Agrarbereich abgeschlossen und nebenbei Erfahrung in der Konzeption von Software haben, sollten Sie sich bewerben.

In Zukunft wird es Unternehmen geben, die die gesammelten Daten der Landwirtschaft auswerten und Vorhersagen über die Qualität einer Ernte machen, Landwirten durch Benchmark-Analysen helfen, die Leistung noch weiter zu steigern und aus der Verwertung dieser Daten neue Geschäftsmodelle entstehen lassen. Wie viel ist ein Bauernhof wert? Solche Fragen werden künftig auf Basis von Vergleichsdaten, beispielsweise über die elektrische Leitfähigkeit des Bodens, beantwortet werden. Vergessen Sie alles, was Sie jemals von angeblich dummen Bauern gehört haben. Landwirte sind heute bereits Pioniere der Digitalisierung.

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