Ist das kompliziert oder komplex?

Die Komplexität des modernen Arbeitslebens treibt so manchen Menschen in den Wahnsinn. Das beginnt schon bei der Klärung gewisser Begrifflichkeiten. Für viele Menschen ist komplex lediglich ein anderer Begriff für kompliziert. Ich gestehe, dass auch ich über viele Jahre beide Begriffe nahezu synonym benutzt habe. Aber komplex und kompliziert meint keineswegs dasselbe! 

Was kennzeichnet ein kompliziertes System?

 Es gibt viele (mindestens zwei, meistens mehr) Einflussfaktoren, die bekannt und damit letztendlich auch beherrschbar sind. Die Wechselwirkung zwischen diesen Faktoren ist gering (in der Theorie sogar null). Wer sich intensiv damit beschäftigt, erkennt das Prinzip und ist in der Lage, dieses komplizierte System zu beherrschen. Der Computerspezialist beherrscht den PC dermaßen exzellent, dass er ihn problemlos zusammen- und auseinanderbauen kann und auch Fehler im System rasch erkennt. Für den Laien ist es meist eine aussichtslose Überforderung. Gleiches gilt für die Funktion einer Uhr, die trotz ihrer vielen Hundert Einzelteile vom Uhrmacher souverän beherrscht wird, oder für das Auto, das in der Werkstatt problemlos auseinander- und wieder zusammengesetzt werden kann. Manchmal allerdings müssen auch Experten ein bisschen grübeln, was deutlich macht, dass komplizierte Systeme nicht immer selbsterklärend sind. Dennoch bleiben sie beherrschbar.

Der Unterschied zum komplexen System besteht darin, dass bei diesem die genaue Anzahl und Wirkweise der Einflussfaktoren eben nicht bekannt ist und zwischen den einzelnen Einflussfaktoren außerdem eine Wechselwirkung besteht. Damit ist ein komplexes System letztendlich definitiv nicht mehr beherrschbar! Denn innerhalb des Systems passieren immer wieder Dinge, die nicht vorhersehbar sind. Selbst Experten sind dann nicht in der Lage, genau zu beschreiben, was als Nächstes passiert.

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Der Faktor Mensch und die Komplexität

Eine komplizierte Frage lässt sich – das notwendige Wissen vorausgesetzt – sehr klar und eindeutig beantworten. Eine komplexe Frage hingegen ist keinesfalls sicher beantwortbar, die Antwort darauf kann nur eine Annäherung, also eine Prognose, darstellen. Das Regelwerk im Fußball ist an einigen Stellen kompliziert. Dazu gehört beispielsweise die Frage, bei welchem Vergehen von Spielern, Auswechselspielern und Trainern welche Spielstrafe wo erfolgt. Damit wurden schon Generationen von Schiedsrichterneulingen zur Verzweiflung getrieben. Bei intensiver Arbeit an diesem Regelwerk lässt es sich aber trotzdem in der Theorie klar beherrschen. Spannender wird es in der Praxis. Hier werden komplizierte Aspekte des Regelwerks gerne auch mal komplex. Der Einflussfaktor Mensch macht Situationen schnell unberechenbar. Wer kennt nicht die unendlichen und offenbar unauflöslichen Diskussionen, ob der vom Schiedsrichter verhängte Strafstoß tatsächlich berechtigt war oder nicht?

Für viele Menschen, insbesondere Fußballlaien, mag es überraschend sein: Die Abseitsregel gehört – zumindest theoretisch – nicht zu den komplizierten Teilen des Regelwerks. Denn sie ist in der Theorie äußerst einfach. In der Praxis wird die Antwort auf die theoretisch einfache Frage, ob sich ein Stürmer nun im Abseits befindet oder nicht, deutlich schwieriger, und manches Mal ist sie mit dem bloßen Auge auch nicht mehr zu beantworten. Hier hilft im Profifußball seit einiger Zeit der Videoassistent (eigentlich Video Assistant Referee, kurz: VAR). Selbst im ersten Moment sehr uneindeutige Entscheidungen lassen sich auf diese Weise am Ende eindeutig auflösen. Damit ist die Abseitsregel in der Theorie einfach und in der Praxis kompliziert, aber keineswegs komplex.

Die VUCA-Arbeitswelt ist immer komplex

Ist in der (VUCA-)Arbeitswelt also von Komplexität die Rede, sind damit nicht die Situationen gemeint, in denen es kompliziert ist, die richtige Entscheidung zu treffen. Das lösen wir, indem wir uns entweder selbst intensiver mit der Angelegenheit befassen oder indem wir Experten einkaufen. Komplexität meint, dass wir die Wechselwirkungen der Einflussfaktoren in der Berufswelt nicht mehr überblicken können. Entweder sind es einfach zu viele Faktoren, um sie alle zu kennen, oder wir können schlicht die Tragweite der jeweiligen Einflussfaktoren nicht abschätzen, weil sie nicht immer gleich wirken.

Wenn man nicht alle Faktoren kennt oder einschätzen kann, ist das komplex

In der theoretischen, distanzierten Betrachtung könnten wir nun zu folgender Erkenntnis gelangen: Wenn ich nicht alle Faktoren kenne oder die bekannten nicht eindeutig einschätzen kann, dann muss ich damit leben, dass ich es nun einmal nicht besser weiß. Tatsächlich ist genau das auch schon der Kern der Lösung! Aber in der Praxis sieht alles wieder anders aus. Da sind wir nämlich nicht so rational und emotional distanziert. Stattdessen macht es uns wahnsinnig, wenn wir nicht wissen, was als Nächstes geschieht. Wir hätten als Führungskraft logischerweise gerne die Kontrolle über das, was im Unternehmen passiert. Wenn wir nicht einschätzen können, wie der Markt auf die Einführung eines neuen Produktes unseres Mitbewerbers reagiert und wir deswegen verunsichert sind, ob dieses neue Produkt, das wir gerade entwickeln, Interesse hervorrufen wird, dann müssen wir eben noch einmal etwas genauer analysieren. Wir können eine neue Käuferumfrage starten oder die alten Experten durch neue ersetzen, die uns viel moderner und geschickter erklären können, dass sie am Ende auch nicht einschätzen können, wie sich die Einflussfaktoren auswirken werden. Kurz: Viele Menschen wollen gerne die Kontrolle über etwas bekommen, das sie gar nicht kontrollieren können! Mit galoppierendem Aktionismus, den wir nur an den Tag legen, um unsere Unsicherheit zu überspielen, kommen wir zwar nicht einen Schritt weiter, dafür fühlt es sich aber besser an, weil wir wenigstens irgendetwas getan haben. Ein unschöner Nebeneffekt dabei ist die im Nachhall solcher Aktionen immer auftretende massive Geldverbrennung. Aber was tun wir nicht alles für ein gutes Gefühl.

»Einige Menschen wollen etwas kontrollieren,
das sie gar nicht kontrollieren können!«

Viele Führungskräften hegen die hehre Absicht, die Welt zu verändern und alles besser zu machen. Das ist absolut lobenswert und in Ordnung. Unvermeidbar dabei ist jedoch ein gewisser Praxisschock, also die bittere Erkenntnis, einige Dinge nicht so einfach verändern zu können. Die Akzeptanz des Unabänderlichen hilft dabei, den Fokus wieder auf jene Dinge zu richten, die veränderbar sind und bei denen wir tatsächlich Wirkung erzielen können. Das gilt für Schiedsrichter ebenso wie für Führungskräfte!

Ambiguitätstoleranz als Kernkompetenz

In der Psychologie wird diese Fähigkeit als Ambiguitätstoleranz bezeichnet. Damit ist die Fähigkeit beschrieben, Unsicherheit aushalten zu können. In meinem Leben war ich schon oft dankbar dafür, eine gute und solide Ambiguitätstoleranz entwickelt zu haben. Dies half mir bei so mancher Führungsentscheidung, ganz besonders aber bei der weichenstellenden Entscheidung, mich aus dem Beamtentum loszusagen und in die Selbstständigkeit zu wechseln. Damals wusste ich vorher natürlich nicht, was mich erwarten würde. Es existierten lediglich Indizien, die ich entsprechend zu interpretieren versuchte. Tatsächlich gab es einige Einflussfaktoren, die ich schlicht nicht kannte oder gnadenlos unterschätzt hatte. In all der Zeit fühlte ich jedoch nicht das geringste Bestreben nach eindeutiger Klärung, denn als Schiedsrichter hatte ich mit der Akzeptanz der Unsicherheit sehr gute Erfahrungen gemacht. Deshalb beschloss ich, diese wirksame Erkenntnis auch auf andere Lebensbereiche zu übertragen – und erzielte damit die gleichen positiven Ergebnisse. In meiner heutigen Rolle als Coach erkenne ich sehr oft, dass das Streben nach absoluter Klarheit ein gigantischer Energiefresser und riesiger Zeitdieb sein kann.

Ich habe schon vor langer Zeit erkannt: Wenn es schon so ist, dass niemand die Antwort kennt, dann ist es doch viel sinnvoller, die Frage gar nicht weiterzuverfolgen und damit zwar immer noch keine Antwort zu erhalten, dafür aber jede Menge Energie, Zeit und nicht selten auch Geld zu sparen.

Einige meiner Klienten antworten dann, sie wüssten nicht, ob es überhaupt eine eindeutige Antwort auf die Frage gäbe. Es könnte ja sein, dass es sich lediglich um eine sehr komplizierte Situation handeln würde, die einiger Mühe bedürfe, um zu einer Antwort zu gelangen. Ich muss gestehen, dass an dieser Argumentation etwas dran ist. Zumindest kann ich festhalten, dass ich mir nicht sicher bin, ob es nicht doch noch eine klare Antwort gibt, wenn ich immer weiter Wissen ansammele, indem ich mich noch intensiver mit einer Thematik beschäftige. Genau hier kommt allerdings auch ein Einwand meinerseits. Wie schon in der Einleitung erläutert, geht es mir keinesfalls um Perfektion.

Ich muss also nicht sicherstellen, dass ich immer die perfekte, die absolut richtige Entscheidung treffe. Stelle ich fest, dass mich die Recherche zu einer Frage so viel Zeit und Energie kostet, dass ich kaum noch Gedanken auf andere, wichtige Themen verwende, sollte ich also das Risiko meiner Vorgehensweise erkennen und bewerten. Sie werden von mir dazu jedoch definitiv nicht hören, dass ich diese Vorgehensweise vollkommen falsch finde. Schon oft in der Geschichte der Menschheit wurden die großartigsten Dinge erfunden, weil eben jemand nicht aufgegeben und konsequent weitergeforscht hat. Sie dürfen sich also gerne an einer Sache, die es wert scheint, festbeißen. Überlegen Sie sich im Interesse Ihres Unternehmens und der dort arbeitenden Menschen jedoch immer, wie viel es Ihnen tatsächlich wert ist, diese eine Frage perfekt zu beantworten, dafür aber unzählige andere Fragen unbeantwortet gelassen zu haben, weil keine Zeit mehr zur Verfügung stand. Anders gefragt: Sind Sie der Erfinder oder der Manager in Ihrer Organisation? Wenn Ihnen die Antwort auf die Frage nicht leichtfällt, hilft dann vielleicht die tiefere Nachfrage, wofür Sie genau bezahlt werden.

Unsicherheiten aushalten in Krisenzeiten

Während ich an meinem Buch arbeitete, raubte uns der Coronavirus in einer neuerlichen Welle sprichwörtlich die Luft zum Atmen. Niemand war aufgrund der hohen Komplexität der Situation im Januar 2021 auch nur ansatzweise in der Lage, abzuschätzen, was uns in den nächsten Wochen, Monaten und vielleicht auch Jahren ereilen würde.

Wenn man in einem solchen Fall selbst von den besten Experten keine klaren Antworten erhält, bleibt gar nichts anderes übrig, als sich mit dieser Unsicherheit zu arrangieren. Auch wenn die Mehrzahl der Entscheider einen wirklich guten Job macht, werden natürlich (!) auch – immer – Fehlentscheidungen getroffen. Diese dürfen und sollen auch kritisiert werden. Mir geht es darum, dass ich die Pauschalkritik, die Entscheider wüssten nicht, was zu tun sei, und sie sollten doch jetzt endlich mal professionell handeln, für völlig unsinnig und für einen Nachweis geringer Ambiguitätstoleranz halte. Das gilt nicht nur für die Corona-Entscheidungen, sondern für alle Entscheidungen in Unternehmen und Organisationen.

Auch Mitarbeiter wollen sich frei entfalten und weiterentwickeln. Sie wünschen sich Führungskräfte, die ihnen in allen unklaren Situationen Orientierungshilfen geben und ihnen aufzeigen, wie sie im Blindflug möglichst sicher durch wabernden Nebel navigieren können. Komplexität ist anstrengend. Ihr Vorhandensein ist aber auch eine großartige Gelegenheit, das eigene Wachstum zu erproben.

Klarheit & Kompetenz Facts

# Gehen Sie mit der Zeit – sonst gehen Sie beizeiten!

# Lassen Sie los, um weiterzukommen!

# Es gilt: Richtigkeit vor Schnelligkeit!

# Nicht überall, wo »wenig Zeit« draufsteht, ist »Zeitdruck« drin!

# Nicht die Geschwindigkeit eines 500-PS-Autos ist das Problem – sondern der Fahrer!Häufig sind die Dinge (relativ) einfach – erst wir Menschen machen sie komplex!

# Eine gesunde Ambiguitätstoleranz erhöht die Entscheidungsqualität!

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