Freiheit ist die Verwirklichung von Potenzial

Ein zentraler Wettbewerbsvorteil entsteht durch die Freiheit der Mitarbeitenden zu entscheiden, an was gearbeitet wird, welche Beiträge geleistet werden, wo Mehrwert erzeugt wird. Ein solches Umfeld fördert das Engagement, die Motivation und die Eigeniniative nimmt zu. Es wird die Verwirklichung von Potenzial möglich.

Das Agile Manifest fordert, Projekte um motivierte Mitarbeitende und Teams aufzubauen. Dahinter steht die Annahme, dass hohe Leistungen eher von denen erbracht werden, die für eine Aufgabe motiviert sind und sich diese sogar aussuchten.

Scheitern oder Leistungseinbußen sind so auch weniger wahrscheinlich. Anders in einer traditionellen Struktur, in der Mitarbeitende Projekten zugeordnet werden oder Arbeitspakete zugewiesen bekommen. Hier können diese immer mit dem Finger auf die Vorgesetzten zeigen, wenn sie die erwartete Leistung nicht bringen, und sagen, sie hätten einfach die falsche Aufgabe bekommen. Wählt man Projekt oder Aufgabe selbst, übernimmt man eher die Verantwortung, dann auch die erwartete Leistung zu bringen – allein schon, um zu beweisen, dass man richtig entschieden hat.

Menschen die Freiheit der Wahl zu geben, woran sie arbeiten, hat gleich mehrere Vorteile:

  • Motivation und Engagement steigen,
  • Initiative nimmt zu,
  • die Trefferquote, die richtige Person für einen Job zu finden, steigt durch Selbstauswahl,
  • Rollen wachsen organisch und passen sich flexibel an veränderte Aufgaben an,
  • Rollen werden vielfältiger und unterstützen fach- und funktionsübergreifendes Arbeiten.

Freiheit bei den Arbeitsaufgaben reicht von der Auswahl zwischen vorgegebenen Projekten oder Aufgaben (zum Beispiel bei Zappos) bis hin zur Kreierung eigener Aufgaben oder Projekte und deren Durchführung (zum Beispiel bei Gore). Sie kann sich zeitlich beschränken (siehe Googles Zwanzig-Prozent-Regel unten). Sie reicht von ausgehandelten Vereinbarungen mit Kollegen (zum Beispiel bei Zappos oder The Morning Star Company) bis zur individuellen Entscheidung (zum Beispiel bei Netflix oder Google).

Das Buch zum Thema


» Mehr Infos

Beispiel: Freiheit in der Aufgabenwahl @Valve Das amerikanisches Videospielunternehmen Valve hat vierhundert Mitarbeitende und keine Führungskräfte. Mitarbeitende organisieren sich flexibel in Projekten. Alle können entscheiden, für welches Projekt sie arbeiten möchten, und sich dem jeweiligen Team anschließen.

Oftmals führt die allgemeine Freiheit bei der Wahl der Aufgaben nicht dazu, dass man selbst bestimmt, woran man arbeitet, sondern dass man seine Präferenzen aushandelt und versucht, das Beste aus den gegebenen Möglichkeiten zu machen. Ein genauerer Blick auf Zappos macht dies deutlich.

Beispiel: Frei – aber man bekommt nicht immer, was man will @Zappos Zappos, ein amerikanischer Online-Schuhhändler mit tausendfünfhundert Mitarbeitenden, der von Amazon gekauft wurde, war als unkonventionelles Unternehmen bekannt, bei dem der Spaß an der Arbeit im Vordergrund stand. Zappos schaffte es mehrere Jahre in Folge auf die Fortune-100-Best-Places-to-Work-for-Liste, bis zur Einführung der Holokratie 2013 (basierend auf dem Konzept von Brian Robertson) für ein selbststeuerndes, selbstorganisierendes Unternehmen, eine »Teal Organisation«, wie sie Frédéric Laloux in seinem Buch Reinventing Organizations beschreibt.
Freiheit drückt sich bei Zappos vor allem durch die Wahl der Aufgaben aus. Tony Hsieh, CEO von Zappos, hatte die Vision, absolute Autonomie für Mitarbeitende zu schaffen. Hierfür verzichtete er auf Jobtitel und Führungsrollen. Mitarbeitende sind in sogenannten Kreisen organisiert, die an verschiedenen Produkten/Projekten arbeiten. Jede/r entscheidet selbst, in welchen Kreis er/sie möchte. Man kann dabei in mehreren Kreisen gleichzeitig arbeiten, indem man die Arbeitszeit anteilig auf die Kreise verteilt.
Bei Zappos sorgen sogenannte Lead Links dafür, dass die Kreise je zu hundert Prozent besetzt sind. Sie bestimmen letztlich, ob jemand am jeweiligen Projekt mitarbeiten kann und ob in Vollzeit oder vielleicht nur zu zwanzig Prozent. Die Mitarbeitenden sind dafür verantwortlich, durchgängig hundert Prozent ihrer Arbeitszeit einzusetzen.
Wenn Mitarbeitende nicht genügend Kreise finden, in denen sie ihre Arbeitszeit investieren können (auch nach einer Übergangsunterstützung), müssen sie das Unternehmen verlassen. Basierend auf Insiderartikeln und Bewertungen im Internet kämpft auch die führerlose Organisation mit Mikropolitik und Machtkämpfen.

Zwar wird in solchen Fällen nicht von oben diktiert, woran einzelne Mitarbeitende arbeiten, aber es ist Ergebnis von Verhandlungen mit Kollegen und dem Arrangieren mit aktuell verfügbaren Optionen.  Freiheit, die eigene Rolle zu gestalten, geht etwas weiter. Bei W. L. Gore und der tomatenverarbeitenden The Morning Star Company (die später näher vorgestellt wird) können die Mitarbeitenden ihre eigene Rolle auf der Grundlage von Anforderungen und Kompetenzen sowie Absprachen mit Kollegen gestalten.

Beispiel: Die Freiheit, die eigene Rolle zu formen @The Morning Star Company Es gibt keine standardisierten oder gar zentral definierten Jobrollen. Mitarbeitende definieren ihre eigene Rolle auf der Grundlage dessen, was ihnen Spaß macht und wo sie mit ihren Fähigkeiten einen Mehrwert schaffen können. Welche Aufgaben eine Rolle beinhaltet und welche Leistungskennzahlen den Erfolg für jede Rolle bestimmen, wird mit den Kollegen verhandelt, die von der jeweiligen Arbeit betroffen sind. 

Selbstbestimmte Flexibilität in der Rolle wird nicht nur in kleinen Unternehmen angewendet, wie beispielsweise W. L. Gore & Associates zeigen. Das Unternehmen begann mit der Vision einer nicht-hierarchischen Organisation und schaffte es, im Wachstum eine Struktur zu etablieren, die Selbstmanagement in Teams und einen hohen Grad an Freiheit für Einzelne sowie Selbststeuerung ermöglicht.

Beispiel: Freie Definition der eigenen Rolle @W. L. Gore Gore ist ein materialwissenschaftliches Unternehmen, das sich auf Fluorpolymer-Technologie und -Herstellung spezialisiert hat. Zu den Produkten gehören Gore-Tex, Glide Zahnseide, Elixir Gitarrensaiten und synthetische Gefäßtransplantate. 1958 gegründet, beschäftigt die Firma heute neuntausendfünfhundert Mitarbeitende in dreißig Ländern, die über einen Aktienplan Miteigentümer sind. Gore gilt als Vorbild für organisationale und Produktinnovation.
Die Struktur umfasst produktorientierte Geschäftseinheiten und Supportfunktionen mit je einer leitenden Person. Zusätzliche Managementebenen gibt es keine, die Organisation ist flach und besteht aus selbstorganisierten Teams. Es gibt weder ein Organigramm noch Jobtitel. Die Teams sind funktionsübergreifend organisiert.
Um trotz Wachstum Selbstorganisation zu ermöglichen, wurde die Größe der Einheiten auf maximal zweihundert Mitarbeitende festgelegt. Hier sieht Gore die Grenze, um ein hohes Engagement zu halten und nicht von einer Wir-haben-entschieden- zu einer Die-haben-entschieden-Haltung zu rutschen.
Mitarbeitern steht es frei, zu entscheiden, woran und in welchem Team sie arbeiten – sie verhandeln Verantwortlichkeiten mit einzelnen Kollegen beziehungsweise den Teams, in denen die Mitarbeitenden arbeiten möchten. Es wird angeregt, in mehr als einem Team zu arbeiten, um breitere Fähigkeiten und Perspektiven zu entwickeln.
Themen wie Beförderungen oder Vergütungen werden durch Peer-Rankings entschieden. Terri Kelly erhielt die Rolle des CEO, da sie mehrheitlich in einer breit angelegten Mitarbeitendenbefragung für die Stelle nominiert wurde.
Gore schaffte es auf die Liste der Fortune-100-Best-Companies-to-Work-for in den USA und wurde in mehreren europäischen Ländern als Arbeitgeber ausgezeichnet. Im Jahr 2009 wurde Gore in die Fast-50-Liste der Most Innovative Companies in the World aufgenommen.

Ein Beispiel für die Möglichkeit, frei zu entscheiden, welche Art von Ergebnis wir mit unserer Arbeit erzielen wollen, findet sich bei Google in der berühmten Zwanzig-Prozent-Regel, die diese Art zu arbeiten für einen Tag pro Woche erlaubt. Weniger reguliert finden sich diese Optionen bei vielen anderen fortschrittlichen Unternehmen, wie Netflix oder The Morning Star Company.

Beispiel: Freiheit, eigene Initiativen zu starten @Google Google ermöglicht Mitarbeitenden, zwanzig Prozent ihrer Zeit kreativ zu verbringen, eigenständig Ideen zu entwickeln und zu verfolgen. Einzige Vorgabe ist, dass jeweils die Idee verfolgt wird, die den größten Nutzen verspricht. Nur zehn Prozent aller Mitarbeitenden nutzen diese Zeit. Der ehemalige Personalchef von Google, Laszlo Bock, weist jedoch darauf hin, dass der wichtigste Effekt der Zwanzig-Prozent-Regel darin besteht, Mitarbeitende zu inspirieren, sich neue lohnende Initiativen auszudenken. Sobald sich die Idee bewährt, entsteht ein Projekt mit wachsendem Zeitaufwand und einem wachsenden Kreis Freiwilliger, die sich dem Vorhaben anschließen.

Freiheit bedeutet nicht Abwesenheit von Prozessen und Regelungen

»Wir haben angefangen, eine kleine anarchistische Gemeinschaft aufzubauen, aber die Leute wollten sich nicht an die Regeln halten.« Alan Bennett, englischer Dramatiker (übersetzt)

Die Angst, dass Freiheit Chaos und Anarchie fördert, hat sich nicht bestätigt. Viele Unternehmen zeigen, dass es gerade Freiheit ist, die effektive Selbstorganisation und eine Zusammenarbeit zwischen Teams ermöglicht. Erfolgreiche Beispiele haben jedoch drei Bedingungen gemeinsam: 

  • Transparenz: Die Mitarbeiter kennen und verfolgen Handlungen des Unternehmens und verstehen die Auswirkungen ihrer Arbeit und ihrer Entscheidungen auf das Unternehmen und auf andere Teams;
  • klare Ziele, Vorgaben und Prioritäten sowie die Möglichkeit, den jeweiligen Fortschritt zur Steuerung der Arbeiten zu verfolgen. 
  • gegenseitiges In-die-Pflicht-Nehmen.

Vorschriften, Richtlinien und Einschränkungen können sogar das Ergebnis gesteigerter Freiheit am Arbeitsplatz positiv beeinflussen. So kann eine gewisse Regulation beispielsweise verhindern, dass Freiheit zu einer Quelle von Reibung und Konflikten wird.

Prozesse und Regelungen haben die Eigenschaft, Transparenz und Orientierung zu schaffen, und sie dienen der vereinfachten Nachnutzung. Hilfreiche Prozesse können sogar ziel- und ergebnisorientiertes Handeln fördern, indem sie den Fokus auf das Ergebnis richten.

Betrachtet man, wie agile IT-Abteilungen und IT-Unternehmen ihre Arbeit optimiert haben, um mit Unsicherheit und Komplexität umzugehen, wird deutlich, dass Standardisierung für Reproduktion oder Wiederverwendung zentral ist.

Prozesse, Richtlinien und Vorschriften sind dann hilfreich, wenn sie Wertschöpfung und Effizienz nicht im Wege stehen und ermöglichen, sich an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen. Das Agile Manifest fasst es zusammen: »Individuen und Interaktionen über Prozesse und Werkzeuge« und »Reaktion auf Veränderungen über Folgen eines Plans« – oder in diesem Zusammenhang: über Umsetzung eines Prozesses.

Freiheit speist Motivation

Freiheit am Arbeitsplatz und die Ermutigung, den individuellen Handlungsspielraum zu nutzen, haben für die Motivation der Mitarbeitenden eine zentrale Bedeutung. Einige Experten, wie Professor Dan Cable, Professor für Organisationsverhalten an der London Business School, sehen dieses Element als die einzige Lösung für Demotivation und inneren Rückzug am Arbeitsplatz. In seinem Buch von 2018 argumentiert er, dass es Aspekte der Freiheit sind, ergänzt durch Aspekte der Transparenz, wie im TEC-Modell beschrieben, die das Suchsystem unseres Gehirns aktivieren. Dort liegt unser biologischer Motor für Begeisterung und Motivation dafür, neue Fähigkeiten zu erlernen oder sich anspruchsvoller Aufgaben anzunehmen. Dessen Aktivierung löst den Drang aus, etwas zu tun und zu erreichen, was wiederum mit einer Dopaminausschüttung belohnt wird (dem Neurotransmitter, der für Glücksgefühle verantwortlich ist), die uns weiter antreibt.

Diese Aspekte sind die Möglichkeit und Ermutigung, zu erforschen, zu experimentieren und zu lernen (siehe »Spielen« oben) und sich sinn- und bedeutungsvollen Aufgaben zu widmen. Wie Professor Cable im Harvard Business Review 2018 schreibt: So sind wir biologisch gestrickt – wir sind gemacht, um so zu leben und arbeiten.

Teilen

Dieser Artikel kann nicht kommentiert werden.