Ein Leben ohne Rahmen ist möglich, aber sinnlos

Selbstverständlich darfst du als Führungskraft entscheiden, ob du einen Rahmen setzt oder nicht. Ebenso darfst du entscheiden, wie du diesen gestaltest. Falls du keinen Rahmen um deine Aufgabe oder deinen Auftrag ziehst, kann es jedoch passieren, dass sich Dynamiken ergeben, die du später womöglich bereust. Aus der Sicht eines Personal- und Persönlichkeitsentwicklers entspricht der Rahmen dem grundsätzlichen Konzept, wie die gewünschten Resultate zu erzielen sind. Wenn ein solches Konzept stimmig ausgearbeitet wird, entstehen üblicherweise eine hohe Mitarbeiterzufriedenheit und eine hohe Mitarbeiterbindung. Da es mittlerweile schwieriger geworden ist, gute neue Mitarbeiter zu finden, fällt gerade der letzten Komponente erhebliche Bedeutung zu.

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Deshalb ist es wichtig, sich im Umkehrschluss der Auswirkungen bewusst zu sein, die zu erwarten sind, wenn es eben keinen gesetzten oder abgesteckten Rahmen gibt. Die tatsächlichen Auswirkungen reichen von leichter Irritation über wiederkehrende Verwirrung bis zum totalen Chaos. Die große Bandbreite lässt sicher von Fall zu Fall unterschiedliche Ausprägungen zu. Ebenso können sich die Auswirkungen auf einer Zeitschiene betrachtet sowohl verschlimmern als auch erheblich beschleunigen.

Bestimmt kennst du die Situation, wenn es in einem bestimmten Kontext keine oder so gut wie keine Regeln gibt. Stell dir also beispielsweise eine Sportart vor, in welcher jeder Spieler tun darf, was er möchte. Zunächst wären vermutlich sämtliche Spieler irritiert, spätestens nach ein paar Minuten jedoch würden einige pro-aktive oder dominantere Spieler damit beginnen, das Spiel nach ihren eigenen Regeln zu interpretieren beziehungsweise zu spielen. Wieder andere verlören die Lust und zögen sich zurück. Ein weiterer Teil würde zwar mitspielen, jedoch nur mit halber Kraft.

Woran liegt das? Dahinter stehen verschiedene Phänomene, die wir im Folgenden betrachten. Die erste These betrifft eine Tatsache, die wir nur schwer leugnen können: Das Regelwerk ist der Normalfall. Wir Menschen sind es gewohnt, dass es Regeln oder Gesetze gibt. Zunächst einmal unabhängig davon, ob uns das grundsätzlich gefällt oder nicht. Wir wachsen mit Regeln und damit gesetzten Rahmenbedingungen auf und akzeptieren diese. Oft setzen wir uns damit gar nicht tiefer gehend auseinander, weil die vorherrschenden Rahmenbedingungen eben so sind, wie sie nun einmal sind.

An dieser Stelle möchte ich dringend dazu aufrufen, sich mit existierenden Regeln oder Rahmenbedingungen durchaus kritisch zu beschäftigen und gegebenenfalls dafür zu kämpfen, dass sich diese ändern: Dieser Vorgang nennt sich Demokratie und ist eine wahre Bürgerpflicht.

Wenn nun aber keine Regeln mehr gelten, wird das jeweilige Miteinander zu einer Reise ins Ungewisse. Es gibt in diesem Fall keine Orientierung und niemand weiß, was denn nun erlaubt ist und was nicht. Den daraus resultierenden Zustand als vollkommene Freiheit zu bezeichnen, läge wohl nahe. Allerdings kann das eine hoch bezahlte Freiheit sein. Jeder würde nach seinem eigenen Ermessen agieren und reagieren. Jeder würde das tun, was er für richtig hält, und dabei den anderen komplett vergessen. Es würden sich soziale Gemeinschaften bilden, die ihre Lebensgestaltung nach bestimmten persönlichen Interessen-, Bedürfnis- oder Motivlagen ausrichten würden.

Einige zögen aus diesem hypothetischen Szenario einen hohen Mehrwert oder Nutzen. Andere wiederum wären stark benachteiligt oder blieben sogar komplett auf der Strecke. Doch zurück zu dir als Führungskraft und den möglichen Konsequenzen in deinem Bereich. Stell dir bitte vor, dass deine Mitarbeiter selbst entscheiden dürften, ob sie zur Arbeit erscheinen oder nicht. Außerdem dürften sie komplett frei entscheiden, woran sie arbeiten. Genauso wäre die Zielstellung beliebig wählbar und es gäbe keine sonstigen Vorgaben. Alles dürfte so ablaufen, wie die Mitarbeiter es sich wünschen.

Sicher gibt es eine große Zahl von Menschen, die mit solchen Freiheiten sehr gut umgehen können und für die solche Freiheitsgrade sogar von Vorteil sind. Sie verfügen über einen hohen Reifegrad und wissen, worum es geht. Sie entfalten sich und nehmen die damit verbundene Chance an, die eigenen idealen Rahmenbedingungen zu erschaffen. Vergleichbare Konzepte gab und gibt es in Unternehmen immer wieder und es wird dabei versucht, herauszufinden, wie sich mehr Freiraum oder weitreichende Selbstbestimmung auf die Produktivität auswirken. Meiner persönlichen Erfahrung nach ist dies durchaus ein ehrenwerter und in gewisser Hinsicht auch lohnenswerter Ansatz. In der finalen Bemessung des jeweiligen Projekterfolgs habe ich sogar mehrfach erlebt, wie solche Pilotprojekte zu erheblich höherer Produktivität führten. Jedoch haben wenige Unternehmen oder Arbeitgeber den Mut, hier auch längerfristig neue Kulturansätze zu etablieren.

In meiner täglichen Arbeit in Unternehmen verschiedenster Branchen – also jenseits von einzelnen Pilotprojekten – beobachte ich, dass sich der weitaus größere Teil der Menschen weniger gut mit einem fehlenden Rahmen zurechtfindet. Hier nehme ich überforderte, gestresste, unsichere oder sogar hilflose Mitarbeiter wahr.

Fehlt der Rahmen, fällt oft auch der Mitarbeiter aus dem Rahmen. Das bedeutet, dass ich in solchen Fällen häufig lebhaft geschildert bekomme, welche Orientierungspunkte schlicht fehlen. Es gibt keine Grundordnung oder kein belastbares Gesamtkonzept. Oft liegt das daran, dass Unternehmen schnell und stark wachsen: Die notwendigen Strukturen und strukturellen Anpassungen werden nicht aufgebaut beziehungsweise vorgenommen und von einem Tag auf den anderen fehlt der besagte Rahmen.

In solchen Fällen kann es sogar zum kompletten Stillstand oder zu erheblichen Rückschlägen kommen. Die Organisation dann wieder aus der jeweiligen Situation zu holen, stellt einen erheblichen Kraftakt dar. Um diese Situation zu vermeiden, dient der Rahmen als wichtiges Hilfsmittel.

Fehlt der Rahmen oder ist dieser nicht mehr zeitgemäß, erwarten dich als Führungskraft potenziell folgende Themen:

(Großzügige) Interpretation

Der Mitarbeiter denkt, dass er weiß, wie er die jeweiligen Rahmenbedingungen zu interpretieren hat. Das wird er bestenfalls nach gutem Wissen und Gewissen tun. Es kann jedoch passieren, dass die stattgefundene Interpretation nicht im Sinne der letztendlichen Ziel- oder Aufgabenstellung ist.

(Gelähmte) Dynamik

Der Mitarbeiter ist unsicher und weiß nicht, wie er entscheiden soll. Bei nur schwach angelegtem oder nicht vorhandenem Rahmen entstehen Situationen, in denen jedoch entschieden oder agiert werden müsste. Es kommt zur Verlangsamung oder gar zur Lähmung der Dynamik, weil letztendlich sogar damit zu rechnen ist, dass niemand entscheidet.

(Weitreichende) Verwirrung

Der Mitarbeiter weiß nicht, woran er ist und wonach er sich zu richten hat. Es fehlen Anhaltspunkte oder eine klare Maßgabe. In dieser Verwirrung werden immer wieder Dinge begonnen, jedoch nicht zu Ende geführt. Zusätzlich entsteht ein beträchtlicher Mehraufwand, weil es keine gute Abstimmung und keine klaren Zuordnungen gibt.

(Situative) Verweigerung

Der Mitarbeiter fühlt sich ob des fehlenden Rahmens im Stich gelassen. Er befindet sich in einem unangenehmen Schwebezustand und versucht, sein eigenes »Überleben« zu sichern. Nach besten Kräften versucht er, sprichwörtlich den Kopf über Wasser zu halten. Das fällt ihm zunehmend schwer und er beginnt, sich in gewisser Weise zu verweigern. Er wird beispielsweise eigenmächtig entscheiden, welche Themen oder Aufgaben erledigt werden und welche liegen bleiben. Es findet eine zunehmende Verweigerung statt, die anfangs häufig nicht bemerkt wird oder nicht richtig eingeordnet werden kann.

(Lautstarke) Rebellion

Der Mitarbeiter bemerkt, dass etwas nicht stimmt. Er entwickelt eigene Lösungsstrategien und beginnt aufzubegehren. Mehr oder weniger lautstark wird er rebellieren und (notwendige) Veränderungen oder Anpassungen fordern. Der Mitarbeiter befindet sich im maximal möglichen Widerstand und sorgt dafür, dass Missstände öffentlich werden.

Unter dem Strich lautet die zusammenfassende Erkenntnis also: Sorge für einen hochwertigen Rahmen, damit dir genannte Situationen oder Phänomene nicht passieren. Keinen Rahmen zu setzen, ist nahezu sinnlos, weil sich in den entstehenden Eigendynamiken erheblicher Zündstoff bildet, der weder zu den gewünschten Resultaten noch zu hoch zufriedenen Mitarbeitern führt.

Der fehlende Rahmen gibt Mitarbeitern das Gefühl, im Stich gelassen zu werden und ungesteuert durch das Business-Universum zu irren. Diesem Gefühl folgen häufig Frustration oder Demotivation. Beide Faktoren sind nicht empfehlenswert, wenn du in deinem Unternehmen großen Wert auf leistungsfähige Mitarbeiter legst.

Gestalte deinen Rahmen, damit sich keiner im Stich gelassen fühlt oder den falschen Dingen nachläuft.

Ein letzter Vergleich kann helfen, die fatalen Folgen eines fehlenden Rahmens zu erfassen: Stell dir ein Familienleben vor, in dem es keinen Zusammenhalt, keine gemeinsame Gestaltung, kein starkes Miteinander, keine Regeln, keine Vorgaben und keine sozialen Aktivitäten gibt. Jeder würde nur auf sich selbst achten und seiner eigenen Überlebensstrategie folgen. Die individuelle Lebensgestaltung würde jedes Familienmitglied selbst für sich organisieren. Es gäbe kaum Berührungspunkte oder Gelegenheiten, sich miteinander auszutauschen. Keiner würde sich um die übergeordnete Regelung des Familienlebens kümmern und jeder würde in gewisser Weise vor sich hinvegetieren. Das Gleiche kannst du dir auch im Teamkontext vorstellen: Stell dir vor, dein Team übernimmt ein neues Projekt, das agiles, dynamisches Arbeiten erfordert. Stattdessen werkelt jeder vor sich hin, es gibt keine oder nur wenige Absprachen, keinen informellen Austausch, und es fehlt an gegenseitiger Rücksichtnahme und Verständnis. Vielleicht ein drastisches oder gar unrealistisches Bild, wirst du nun denken. Jedoch kann dir das womöglich überzeichnete Bild helfen, deine Entscheidung als Führungskraft zu treffen. Willst du das Leben deiner Mitarbeiter aktiv und positiv mitgestalten oder sollen die Mitarbeiter im offensichtlichen Chaos versinken?

Du triffst die finale Entscheidung und darfst dich somit als aktiver Gestalter deines Arbeitsumfeldes verstehen. Nutze die Chance.

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