Eine Reise ins Ungewisse

Wenn das Selbst die Zügel in die Hand nimmt und zum Coach (oder Kutscher) wird, bestimmt das Selbst nicht nur das Ziel der Reise, sondern auch alle Wege, die dorthin führen. Und beides erfordert Mut und Entschlossenheit. Denn eine solche Reise, wie wir sie planen, um unser Dasein neu zu kreieren und unsere Persönlichkeit auf unser Selbst zurückzuführen, führt stets ins Ungewisse und Unbekannte.

Auch wer um die ganze Welt reist, um das Schöne zu suchen, findet es nur, wenn er es in sich trägt.

Ralph Waldo Emerson

Das Ziel des Selbst-Coachings ist es, neues Terrain zu erschließen, die noch unbekannten Aspekte des eigenen Daseins zu entdecken, die durch die eigene Schöpfungskraft freigesetzt werden. Und diese neuen Räume oder höhere Sphären sind nun einmal nicht auf den herkömmlichen Wegen zu erreichen. Auch hier ist es notwendig, Neues zu wagen, um Neues zu erreichen. — Wer sich dazu entschließt, stößt auf Regionen, die zuvor noch niemand betreten hat, trifft auf unberührtes Areal, angefüllt mit neuartigen Möglichkeiten, Potenzialen, Chancen und Herausforderungen.

Wenn die eigene Kreativität Freiräume entstehen lässt, in denen sich das Selbst frei entfalten kann, braucht es ein Selbst, das bereit ist, diese Freiräume auch tatsächlich zu entdecken, anstatt die eigene Schöpfungskraft von vornherein zu beschränken und das unbekannte Terrain im Dunkeln liegen zu lassen. Und bestimmt unser Selbst dann den Reisewunsch, ist es Aufgabe des Coaches, die entsprechende Reiseroute bewusst zu ermitteln. — Damit all dies geschehen kann, ist es notwendig, dass das Selbst ohne Angst in die unbekannten Räume des eigenen Daseins vordringt und auch die unerforschten Wege, die dorthin führen, nicht ängstlich meidet, sondern mit Würde und voller Anerkennung wahr-nimmt.

Sicherheit ist ein Grundbedürfnis des Menschen

Viele Menschen entwickeln nun jedoch genaudiese Ängste. Denn Neues und Unbekanntes ängstigt uns oft. Unser Selbst kann gleichwohl nicht umhin, diese Ängste zu überwinden, wenn es nachhaltige und einschneidende Veränderungen erwirken will. Doch ist dies für viele Menschen bereits eine schwer zu überwindende Hürde, da wir häufig sehr stark von einem sicherheitsorientierten Denken geprägt sind, das darauf geeicht ist, Bedrohungen und Gefahren möglichst noch vor ihrer Entstehung zu verhindern. In der Folge entwickeln wir feste Denkmuster, die darauf ausgerichtet sind, potenzielle Gefahren zu konstruieren, um diese präventiv ausschließen zu können. — Bevor echte Veränderungen in unserem Dasein und persönliche kreative Entfaltung überhaupt beginnen können, ist es notwendig, diese einschränkende Art zu denken aufzulösen, denn dieses Denken fokussiert die eigenen Gedanken und Gefühle auf die Wahrnehmung von Bedrohung — auch dort, wo überhaupt keine existiert. Damit beschneidet und manipuliert dieses Denken unsere Wahrnehmung. Sie verschließt sie vor den unendlichen Möglichkeiten unseres Daseins, da sie stets nur die eine Möglichkeit — die bedrohliche — in Betracht zieht.

Das starke Grundbedürfnis der Menschen nach maximaler Sicherheit kennen Sie selbst vielleicht aus Ihrem täglichen Leben. Ungewissheit und Unsicherheit sind die Dinge, die uns am meisten Sorgen und Ängste bereiten. In vielen Fällen plagt uns die Ungewissheit mehr als eine mögliche Gewissheit, die Schlechtes verheißt. Denn sobald wir uns Gewissheit verschafft haben, können wir auf eine Situation reagieren, wir können handeln und Gefühle entwickeln. Doch solange etwas im Ungewissen liegt, bleibt es auch ungreifbar, und wir haben keine Möglichkeit, uns adäquat dazu zu verhalten. Das gilt in gleicher Weise für Dinge oder Situationen, die uns verunsichern. Sie sind nicht wirklich fassbar, weshalb wir nicht wissen, was wir mit ihnen anfangen sollen. Wir schweben in der Luft, ohne Halt und ohne irgendwelche Anhaltspunkte. Und das ist ein Zustand, mit dem Menschen nicht zurechtkommen. Entsprechend groß ist der Wunsch nach Gewissheit und dem beruhigendem Gefühl der Scheinsicherheit.

Dieser Wunsch steht jedoch in einem starken Spannungsverhältnis zu einem anderen Grundbedürfnis — der individuellen Freiheit, die sich in einer grenzenfreien Kreativität und der individuellen Entfaltung der Persönlichkeit äußert. Und dieses Spannungsverhältnis erzeugen wir selbst. Denn wir selbst setzen die Beschränkungen unserer Freiheit durch ein sicherheitsorientiertes Denken, das insbesondere die Prävention vor möglichen — nicht tatsächlichen — Bedrohungen anstrebt. Beim präventiven Schutz wird eine Gefahr also nur vermutet, und es werden rein vorsorglich Maßnahmen ergriffen, um gegen denkbare Gefahren gewappnet zu sein. Denn wer einen wirklich umfassenden Schutz erreichen will, kann die lediglich konstruierten Gefahren nicht ausschließen.

Im Alltag führt dies zu immer konkreteren Einschränkungen der individuellen Handlungs- und Entscheidungsfreiheit sowie der persönlichen Wahrnehmung. Denn wir sind durchdrungen von Denkmustern, die sich in hohem Maße an den Kategorien Gefahr auf der einen und Sicherheit auf der anderen Seite orientieren. Unter diesen Voraussetzungen sind beinahe jeder und alles potenziell verdächtig. Überall könnten Gefahren lauern, und selbst alltägliche Handlungen sind nicht mehr ohne Risiko, niemand kann sich mehr in Sicherheit wiegen. — Der Wunsch nach Scheinsicherheit und die tatsächlich “gefühlte“ Sicherheit in der Erscheinungsform der bewussten Empfindung klaffen dabei immer weiter auseinander.

Diese verzerrte Wahrnehmung unserer Umwelt betrifft nun auch unseren Blick in die unbekannte Zukunft und in die noch unentdeckten Bereiche der Mehrdimensionalität unseres Daseins. Etwas Neues zu wagen, Veränderungen einzuleiten und alte Gewohnheiten über Bord zu werfen, birgt aus der bisherigen Perspektive betrachtet vor allem Unsicherheit. Und dieser Gedanke ist für uns oft mächtiger als alle in Aussicht stehenden Möglichkeiten. Auch hier beschränkt das sicherheitsorientierte Denken die Bilder, die wir uns machen — und damit auch die tatsächlichen Möglichkeiten, die wir uns schaffen. Denn sobald ein Bild — ganz gleich, ob es sich dabei zum Beispiel um ein Foto oder ein imaginiertes, inneres Bild handelt — mehrere Optionen der inhaltlichen Einordnung offen lässt, wird vom Betrachter unweigerlich eine bedrohliche Variante gewählt. Auch dann, wenn vom Dargestellten ursprünglich keinerlei Bedrohung ausgeht. Alles, was nicht eindeutig Sicherheit ausstrahlt, verunsichert uns und fällt damit automatisch in die Kategorie Gefahr. Sehen wir auf einem Bild beispielsweise einen schwarzen Felsblock, von Ästen umrahmt, wirkt dieses Szenario auf uns unwillkürlich bedrohlich, wie ein unkalkulierbares Risiko, obwohl es nichts anderes ist als ein neutraler Ausschnitt der Natur. Erst durch unseren Drang, das Gesehene oder auch das Imaginierte zu bewerten und Kategorien zuzuordnen, entsteht eine projizierte Bedrohung, die letztlich oft gar nicht vorhanden ist. Und stellen wir uns eine Veränderung in unserem Leben vor, sehen wir zuerst die damit eventuell einhergehenden Risiken und weniger all die wunderbaren Möglichkeiten.

Denn die Unsicherheit, die wir beim Anblick eines (inneren) Bildes empfinden, ist dabei nur auf unsere subjektive Wahrnehmung und auf unser kategorisierendes Denken zurückzuführen — nicht auf den abgebildeten Gegenstand oder die imaginierte Sache selbst. Und genauso verhält es sich bei unseren Zukunftsentwürfen, die als Bilder in unserem Kopf im Jetzt entstehen: Was wir dabei sehen, mag ganz gewöhnlich, völlig harmlos oder auch voller Schönheit sein — und doch findet gleichzeitig eine Irritation statt, weil eben auch alles andere gleichermaßen denkbar ist. Und dieses andere sind dann vordergründig die schlechten, abgründigen und gefahrenvollen Szenarien, die uns in der ungewissen Zukunft ereilen könnten. Und vorsichtshalber, also präventiv, nehmen wir vor allem die potenzielle Gefahr wahr und nicht die harmlosen oder angenehmen und schönen möglichen Gegebenheiten. Wenn wir uns zum Beispiel ausmalen, wie es wäre, wenn wir in der Zukunft einen Lebenstraum verwirklichen und unser künstlerisches Hobby zum Beruf machen würden, sähen wir zuallererst die finanziellen Sorgen, die mit der sprichwörtlichen ◊brotlosen Kunst“ einhergehen. Wir sähen nicht unser erfülltes und zufriedenes Leben, in dem wir unsere künstlerische Seite voll ausleben könnten, sodass wir auch mit weniger Geld glücklich und befriedigt leben könnten. Den Blick für viele andere Aussichten verstellen wir uns dabei selbst. Stattdessen sehen wir die mögliche Gefahr, unseren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten zu können, die das Bild unserer Zukunft prägen würde. — Das Gefühl der Bedrohung entsteht somit vorrangig aus unserer übermächtigen Sehnsucht nach Scheinsicherheit, nicht aufgrund von Wahrscheinlichkeiten oder realen Tatsachen.

Das Ungewisse trägt grenzenfreie Möglichkeiten in sich

Die Angst vor einer ungewissen und verunsichernden Zukunft können wir also nur auflösen, wenn wir zuvor unser Denken, das vornehmlich auf Sicherheit ausgerichtet ist, überwinden. Dabei ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass dies kein einfacher Prozess ist. Sicherheit ist für Menschen eine existenzielle Größe, da Unsicherheit potenziell — zumindest biologisch betrachtet — lebensbedrohlich ist. Eine sichere Gegenwart und eine sichere Zukunft sollen vor allen Dingen den Fortbestand des Menschen sichern – diese Ur-Angst hinter sich zu lassen, bedarf einer intensiven und dauerhaften Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit und dem eigenen Dasein.

Können wir dann jedoch angstfrei auf unsere Umwelt und in unsere Zukunft blicken, wird es uns möglich sein, im Ungewissen und Unbestimmten nicht vorrangig die verunsichernde Bedrohung zu sehen, sondern auch die unendlich vielen Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen, um ein erfülltes Leben zu führen. Die Befreiung von den Mustern des sicherheitsorientierten Denkens ermöglicht es uns, das weite Spektrum des Möglichen wieder in seiner Gänze wahrzunehmen, anstatt bloß auf die sicherheitsrelevanten Aspekte zu schauen. — Das bedeutet jedoch nicht, dass wir vor realen oder auch denkbaren Bedrohungen die Augen verschließen sollen. Damit würden wir unsere Wahrnehmung ja wieder einschränken, indem wir bestimmte Gesichtspunkte unseres Daseins ausblenden. Und das widerspricht wiederum der ursprünglichen Absicht, die Wahrnehmung zu öffnen.

Das Bestreben richtet sich auf ein Dasein, Denken, Fühlen und Wahrnehmen ohne Beschränkungen, damit alles Denkbare und auch alles bisher Undenkbare möglich bleibt und nicht bereits von vornherein (unbewusst) ausgeschlossen wird. Da gerade das Unbewusste in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielt, ist die Selbstreflexion auch hier wieder wesentliches Element des ganzheitlichen Veränderungsprozesses. Nur mit ihrer Hilfe können wir unseren Gedanken und Gefühlen auf die Spur kommen und dabei auch Unbewusstes ins Bewusste transformieren. Das ist unerlässlich, weil erst das Bewusstsein darüber, dass wir in Denkmuster und Ängste verstrickt sind, die Möglichkeit eröffnet, diese Denkmuster zu durchbrechen und Ängste zu überwinden beziehungsweise aufzulösen.

 

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