Die hohe Kunst des Aufschiebens

Herbert Schönwetter, Vertriebsleiter Deutschland, sitzt nachdenklich in seinem Büro. Er hat nur noch 14 Tage Zeit, dann erwartet die Geschäftsleitung ein neues Konzept zur Umstrukturierung des Vertriebs. Doch bisher hat er noch nicht mal eine Idee zu Papier gebracht. „Es wird sich schon eine Lösung finden“, denkt sich Schönwetter und legt das Fax wieder in das unterere Fach seiner Ablage und widmet sich wieder anderen Dingen.

Nur 100 km weiter: Susanne Morgenfrüh legt den Hörer auf. „Schneller geht’s mal wieder nicht“, murmelt sie grimmig. Gerade hat sie erfahren, dass sie die Präsentation für ihre Abteilung selber gestalten und durchführen muss. Sie nimmt den Terminkalender in die Hand und zählt die Tage ab: „Noch 12 Tage Zeit, dass reicht mir“, beschließt sie und legt ihre Telefonnotizen in den Wiedervorlageordner.

So unterschiedlich die Situationen auch sind – eines haben die beiden gemeinsam. Sie leiden an dem weitverbreiteten und so genannten Phänomen der „Aufschieberitis“. Nun wird dieser Begriff von vielen negativ gesehen und nicht selten beschleicht einem das Gefühl ein Makel zu haben, denn andere kennen das natürlich nicht. Als wäre das noch nicht genug, erinnert man sich an die vielen verschiedenen Ratgeber, die mit Methoden und Mottos werben, wie „Sie müssen sich Ziele setzen, Alternativen prüfen, planen Sie in kleinen Schritten, nur hohe Ziele schaffen die nötige Motivation, beginnen Sie auch das Undenkbare zu denken, usw.“ Sicher ist alles gut gemeint und auch nicht verkehrt, doch hilft das wirklich weiter? Nein, denn Aufschieberitis ist weder ein Makel noch eine Unfähigkeit und hat schon gar nichts mit Faulheit o.ä. zu tun.

Aber mit was dann? Um dahinter zu kommen ist es sinnvoll einige Fragen zu klären: „Wie entsteht überhaupt die sog. Aufschieberitis und vor allem, wie kann man mit ihr positiv umgehen?

Wie entsteht die Aufschieberitis?

Die Antwort darauf findet sich kurioserweise in dem Sprichwort wieder: „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen“. Die Realität sieht nämlich oft anders aus, als die Theorie dies vorsieht und deshalb kommen wir sehr schnell in einen Prioritäten-Konflikt. Weil das so ist, haben sich die meisten damit arrangiert und aufgegeben sich dagegen zu stellen, man hat sich einfach an den Umstand des entstehenden Zeitdrucks gewöhnt. Was sollen Frau Morgenfrüh und Herr Schönwetter auch anders tun, als eben genau das heute zu besorgen, was sich nicht aufschieben lässt – wir nennen es Tagesgeschäft und Alltagsnotwendigkeiten.

So kommt der Termin näher, wo es dann hektisch wird oder wieder mal auf dem letzten Drücker daherkommt. War es eben noch der Stress, weil man ein schlechtes Gewissen hat, ist es jetzt der Stress der Zeitnot und Sorgfalt. Etwas daran zu ändern ist ein Unterfangen, was meist in dem frommen Wunsch “Nächstes Mal mache ich es anders“, endet. Warum auch ändern, wenn es doch eine echte Alternative gibt.

Es geht auch anders: Aufschieben aktiv begleiten

Frau Morgenfüh und Herr Schönwetter haben eine echte Alternative und die heißt „Aktives Begleiten des Aufschiebens“ oder anders „Das Ziel mit dem Tagesgeschäft kompatibel gestalten“. Dazu sind nur drei Maßnahmen erforderlich.

Machen Sie es wie Liedermacher, Dichter und Autoren

Geben Sie Ihrem Auftrag oder Ihrer Aufgabe als erstes eine Überschrift oder Kernbotschaft. Liedermacher, Dichter und Autoren nennen dies auch „Arbeitstitel“. Dass ist schnell erledigt und man kann sich getrost weiter seinem Tagesgeschäft widmen.

Die Überschrift oder Kernbotschaft lässt eine besondere Sensibilisierung und Fokussierung auf das Thema entstehen. Das ist weder mystisch noch eine besondere Begabung, es ist ganz natürlich, was wir auch im Alltag schon hunderte Male erlebt haben. Denkt man nur an den Kauf eines neuen Autos, kaum damit befasst, begegnet uns genau der Typ von Wagen, genau in der Farbe, die wir uns wünschen überall auf der Straße. Oder nehmen wir eine Schwangerschaft im Familien- oder Freundeskreis, kaum davon in Kenntnis gesetzt, sehen wir überall schwangere Frauen, Kinderwagen und kleine Babys. Das hat nur mit der Sensibilisierung und der daraus folgenden Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt hin zu tun. Diese natürliche Eigenschaft kann man in jeder Situation nutzen.

Ist das effektiv? Denken Sie an das Pareto 20:80-Prinzip, benannt nach dem italienischen Nationalökonom Vilfredo Pareto (1848-1923). Das lässt sich auf viele Bereiche übertragen, z.B. Zeitmanagement. In 20% Ihrer Zeit erzielen Sie 80% des Ergebnisses: Frau Morgenfrüh arbeitet an Ihrer Präsentation und nutzt 20% Ihrer Zeit um sich Notizen zu machen. Nach dem Pareto-Prinzip hat sie 80% der möglichen Qualität erreicht und das fast nebenbei. Um auf 100% zu kommen (was eher in die Illusionsabteilung gehört) müsste sie nochmals 80% ihrer Zeit investieren. Fürs Tagesgeschäft wäre da kaum Zeit und sicher würde sie deswegen auch Ärger bekommen, dass weiß sie natürlich und das ist ein weiterer Grund, warum viele das Aufschieben aufgedrückt bekommen.

Nicht so mit der Notizbuch-Idee. Hat man also seine Überschrift, Kernbotschaft, bzw. seinen Arbeitstitel gewählt, entstehen aus dieser Sensibilisierung wiederum im Alltag häufig Gedanken, Einfälle, Ideen und Beobachtungen. Wie aus dem Nichts stehen diese plötzlich im Raum. Doch was geschieht jetzt mit ihnen?

Schreiben, schmieren kreativ sein

Hier kommt das bewährte Notizbuch ins Spiel. Besorgen Sie sich ein kleines handliches Notizbuch, was Sie immer begleitet, im Straßencafé, Theater, Kino, Kabarett, auf Kongressen, bei Freunden zum Essen oder in der Kneipe etc. – Ihr kleines Notizbuch ist immer dabei und es kann sich sehen lassen. So sind Sie immer bereit, Ihre Gedanken, Einfälle und Ideen zu jeder Zeit an jedem Ort festzuhalten, damit Ihnen nichts entgeht und nichts vergessen wird oder um zu verhindern, dass Sie sich später mühsam an etwas erinnern müssen.

Das Notizbuch kennt keine Regeln und Normen, ja, es kann sogar zu einem Sudel- oder Schmierbuch werden. Das ist etwas, was wir als Kinder mochten, uns aber abtrainiert wurde. „Schreib sauber, gerade, ordentlich, überleg vorher was du schreibst, streich nichts durch und mal nicht in deinem Buch rum“. Sicher fällt Ihnen noch das eine oder andere ein, wenn Sie an Ihre Kindheit denken. Genau das gilt es zu ent-lernen. Schreiben Sie also auf, was Ihnen gerade durch den Sinn geht, ohne sich zu zensieren oder um korrekte Grammatik oder die richtige Form zu sorgen.

Wer befürchtet, dass so ein Notiz- oder Sudelbuch im Chaos versinken könnte, der geht noch einen Schritt weiter und gibt seinen Notizen und Einträgen eine Nummerierung und/oder versieht sie mit verschiedenen Symbolen und Skizzen, um sich so eine Übersicht zu verschaffen. Das Notizbuch ist grenzenlos kreativ.

Ein Tipp: Schreiben Sie ganze Sätze (verzichten Sie auf Stichworte), so eine Art kleiner Aufsatz, dies lässt sich später erstens viel schöner lesen und zweitens werden die Vorhaben viel stärker in Ihnen selbst verankert. Schreiben Sie auch über sich selbst. Sie können dabei jede beliebige Perspektive wählen. Beschreiben Sie ein Gefühl, zum Beispiel Furcht, Liebe, Trauer oder Freude. Das Schöne daran ist, dass Sie es jederzeit wieder lesen können. Es ist Ihr eigenes Buch und Sie sind der Autor!

Aufschieberitis und es geht doch

Frau Morgenfrüh und Herr Schönwetter haben dies beherzigt. Während sie in den letzten Tagen pflichterfüllt und zuverlässig ihr Tagesgeschäft erledigten, haben sie sich nebenbei immer wieder Notizen gemacht. Jetzt holen sie diese hervor und sind ganz überrascht, dass ihnen ihre Vorbereitungen wesentlich schneller als früher von der Hand gehen und staunen auch nicht schlecht, als sie feststellen, dass alles viel sorgfältiger und durchdachter wirkt, was besonders daran zu sehen ist, dass sie wie von selbst auch gute Argumente für so manche Idee parat haben.

Wer spricht jetzt noch von Aufschieberitis! Ist es nicht vielmehr die gekonnte, professionelle und kreative Nutzung des eigenen Zeitfensters, gepaart mit dem ganz persönlichen Arbeitsstil? – Es leben der Bleistift , das Papier und der Mut sich selbst treu zu bleiben.

 

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