Die Great-Man-Theorie

Es ist verlockend zu glauben, dass es geborene Führungskräfte, geborene Führer und Anführer gibt. Der Erfolg wird auf eine Ursache reduziert: die Führungskraft. Alle anderen Einflussgrößen werden ausgeblendet. Was als Erfolg anzusehen ist, bleibt unbestimmt. Offensichtlich aber ist, dass als Kriterium nur die Bereitschaft, begeistert den Ideen des Great Man zu folgen, nicht ausreicht. Sonst wären Ghandi und Mao in derselben Kategorie. Die Vernachlässigung von Situation, Aufgabe, Interaktion und Ziel entlarvt alle Great-Man-Ideen als dürftig.

Eigenschaftstheorien

Sie folgen den Great-Man-Theorien auf dem Fuße. Versuchen aber, mehr Differenzierung ins Spiel zu bringen. Nach wie vor hängt alles vom Vorgesetzten ab. Er verfügt über eine Auswahl von Eigenschaften, die ihn prädestinieren. Situation, Führungsstil und Mitarbeiter werden vernachlässigt. Der Ansatz ist nicht ohne Sozialdarwinismus, führt er doch subtil die Vorstellung einer Elite ein. Die Eigenschaftsansätze erfreuen sich nach wie vor hoher Beliebtheit, werden in Assessmentcentern zur Beurteilungsgrundlage genommen und schlagen sich in Kernkompetenzen und Erfolgsfaktoren nieder. Oft schlagwortartig verkürzt, – als Beispiele mögen der charismatische Führer oder der Entrepreneur dienen. Die definierten Kernkompetenzen klingen dabei immer plausibel und gut. Aber neben der quasi linear-kausalen Grundannahme, dass die Eigenschaften des Führenden das Verhalten der Mitarbeiter vorhersagbar beeinflussen (VF ⇒ VM) und damit das Modell der trivialen Maschine durch die Hintertür eingeführt wird, möchte ich noch auf einen zweiten Aspekt aufmerksam machen: Das Einführen verschiedener Eigenschaften macht nur unter der Annahme Sinn, dass diese auch verschieden sind. Wenn man also beispielsweise Führungsfähigkeit und Umsetzungsfähigkeit als Kategorien einführt, dann sollte damit nicht dasselbe gemeint sein, was aber wiederum heißt, dass man idealerweise eine Null-Korrelation, aber doch zumindest eine schwache Korrelation voraussetzt. Mathematisch formuliert sollten die Faktoren linear unabhängig sein. Denn wären sie korreliert, dann wären sie nicht verschieden, und man bräuchte dann auch keine voneinander abweichenden Bezeichnungen, sondern nur eine einzige, übergreifende. Nehmen wir an, die von uns angesetzten Eigenschaften seien tatsächlich verschieden. Wenn man davon ausgeht, dass diese Eigenschaften normal verteilt sind, dann wäre die Hälfte der beobachteten Probanden über dem Mittelwert, die andere Hälfte darunter. Das jemand eher führungsfähig ist, wäre mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit anzunehmen, p = ½. Soll er nun aber führungsfähig und umsetzungsfähig sein, so wäre die Wahrscheinlichkeit dafür p = ½ × ½ = ¼. Gehen wir von zehn Eigenschaften aus, die wir bei unseren Führungskräften voraussetzen wollen, dann wäre die Wahrscheinlichkeit, dass eine unserer Führungskräfte alle erfüllt p = 1/2 10 = 1/1024 = 0,000976. Einer von Tausend. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Führungskräfte, die wir im Visier haben, durch ihre Vorauswahl und Karriere in ihren Eigenschaften nicht normal verteilt auftreten, sondern mit sagen wir siebzigprozentiger Wahrscheinlichkeit bei den guten sind, hätten wir bei zehn angesetzten Eigenschaften immer noch ein p von 0,028 zu konstatieren, also drei von hundert. Das Dilemma: Entweder sind die Multi-Eigenschaftsansätze überdifferenziert oder wir stellen eine Erwartungsfalle auf, weil es kaum menschenmöglich ist, viele unabhängige Kriterien gleichzeitig zu erfüllen. Ganz zu schweigen von dem Messproblem, die Ausprägung der Kriterien zuverlässig zu bestimmen. Tatsächlich zeigt die Untersuchung von realen Assessment-Centern, dass es in der Beurteilung häufig einen Generalfaktor »Vorurteil« gibt. Das lässt sich dadurch zeigen, dass die vermeintlich unabhängigen Kriterien hoch korreliert gerated werden, die Korrelation zwischen den Beurteilern aber niedrig ist. Jeder der Beobachter folgt seinem Vorurteil und bestätigt es auf den verschiedenen Skalen. Im idealen AC wäre das genau umgekehrt: Gut geschulte Beobachter kämen zu ähnlichen Urteilen pro Skala, während die Skalen untereinander wenig korreliert wären. De facto zeigt die Sozial-Psychologie, dass wir uns in unserem Urteil über andere Menschen ohnehin leicht hinters Licht führen lassen.

Eigenschaften werden darüber hinaus oft umgangssprachlich beschrieben, sind vielfältiger Natur, für beliebige Interpretationen offen und schwer zu operationalisieren. Außerdem legt der Begriff der Eigenschaft nahe, dass wir es mit einem konsistenten Phänomen zu tun haben. Menschen verhalten sich aber in verschiedenen Situationen gleich und in gleichen Situation verschieden. Die implizite Kausalitätsrichtung (Eigenschaft X führt zu Y) könnte man jederzeit auch umdrehen: Der Vorgesetzte verhält sich autoritär, weil die Mitarbeiter wenig Leistung zeigen.

Also bleibt das Eigenschaftskonzept durch seine Trivialisierung von Beziehung, durch das Ausblenden des situativen Kontextes und durch Mess- und Operationalisierungsprobleme suspekt. Geeignet scheint es mir immerhin zur Reflexion eigenen Verhaltens oder eigener Verhaltensvorlieben.

Es gilt, was Wunderer sagt: »Die Frage, wie groß der Beitrag der Persönlichkeitseigenschaften zur Führung bzw. zum Führungserfolg sei, ist ebenso müßig, wie die Frage nach dem Beitrag der Breite zur Fläche eines Feldes.«

Zum großen Teil aufgrund dieser methodischen Probleme wurde der Eigenschaftsansatz gegen Mitte des vergangenen Jahrhunderts stark kritisiert und über mehrere Jahrzehnte weitestgehend aufgegeben: »Most reviews of the literature have concluded that the trait approach has fallen out of favor among leadership researchers«.

Erst um die Jahrtausendwende beschäftigten sich Forscherinnen und Forscher erneut verstärkt mit diesem Ansatz und konnten nicht zuletzt aufgrund von verbesserten methodischen Möglichkeiten sowie des Big-Five-Ansatzes in der Persönlichkeitsforschung interessante Ergebnisse berichten. Nicht bestätigt hat sich jedoch die ursprüngliche, in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts in der Literatur zu findende Annahme, der zufolge Führende eine bestimmte Konstellation an Eigenschaften aufweisen müssten, um erfolgreich zu sein.

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