Dialektik: Was wir von den Lehrsätzen aus der Antike noch immer lernen können

Von der Antike bis ins Mittelalter galt die Dialektik als ein unverzichtbares Fachgebiet jeder höheren Erziehung und Bildung. In unserer modernen Welt wird diese alte Kunst jedoch häufig vernachlässigt oder sie wird verfremdet genutzt, um in Gesprächen den „Gegner“ in die Enge zu treiben und verbal mattzusetzen. In der Praxis kommen heute oft nur die dialektischen Kunstgriffe zur Anwendung, während die ursprünglichen Lehrinhalte der antiken Dialektik aus dem Blickfeld geraten. Dabei sind diese heute aktueller denn je.

In der Antike und im Mittelalter waren die sogenannten „freien Künste“ Teil einer jeden Gelehrtenausbildung. Die Wissensgebiete Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Arithmetik, Geometrie, Harmonielehre und Astronomie bildeten gemeinsam die Basis einer höheren Bildung. Und noch im Mittelalter waren sie die Vorbereitung auf das eigentliche wissenschaftliche Studium an den Fakultäten der Theologie, Jurisprudenz und Medizin und wurden dort in einer eigenen Fakultät, der Facultas Artium, zusammengefasst. Diese Fakultät gilt als Vorläufer der philosophischen Fakultät, die heute ihren Platz in nahezu jeder Universität hat.

Innerhalb der „freien Künste“ nimmt eine Disziplin eine gewisse Sonderstellung ein: Es handelt sich dabei um die Dialektik. Unter Dialektik versteht man im Allgemeinen die Kunst, ein geregeltes (Streit-)Gespräch aus Rede und Gegenrede – oder eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit These und Gegenthese – zu führen, das der Erkundung der Wahrheit dient und zu einem schlüssigen Ergebnis gelangt, womit die anfänglichen Meinungsverschiedenheiten aufgelöst werden. Bei Isidor von Sevilla, einem bedeutendem Gelehrten des 6. und 7. Jahrhunderts, der das Wissen der Antike in das Mittelalter trug und maßgeblich das Selbstverständnis der mittelalterlichen Universitäten prägte, liest man dazu: Die Dialektik sei eine Disziplin, „in der erörtert wird, wie mit Bezug auf die Ursachen der Dinge oder die Sitten des Lebens die Wahrheit zu suchen ist“; und die Dialektik hilft dabei, „in schwierigsten Disputationen Wahres von Falschem zu unterscheiden“.

Mit dieser Charakterisierung wird die Dialektik im universitären Umfeld zu einer Art Grundlagenfertigkeit im Umgang mit allen anderen wissenschaftlichen Disziplinen, denn sie befasst sich mit den Fragen der Erkenntnis, der Wahrheitssuche – und wird damit zur Basis jeder Wissenschaft. Dieses Verständnis etablierte sich auch in den Universitäten, und die Dialektik wurde zu einer methodischen Grundausbildung, die allen anderen wissenschaftlichen Studien vorangestellt war.

Wirft man nun heute einen Blick auf einige der unzähligen verbalen Auseinandersetzungen in der (medialen) Öffentlichkeit an, wünscht man sich häufig, dass jeder, der an öffentlichen Gesprächsrunden teilnimmt, in den Genuss einer solchen dialektischen Grundausbildung kommen sollte. Doch auch fernab von der breiten Öffentlichkeit, im Privat- und vor allem im Berufsleben wird das alte Grundwissen der Dialektik zu selten zurate gezogen. In unserer Gesellschaft, in der Kommunikation eine Schlüsselposition einnimmt, rücken die Dialektik und die Rhetorik, als angewandte Dialektik, dennoch wieder in den Vordergrund – oder sollten es zumindest. Denn immer und überall werden Gespräche oder Auseinandersetzungen geführt, und unendlich viel Zeit und Energie wird dadurch verschwendet, dass Menschen aneinander vorbeireden und schlüssige Ergebnisse von Gesprächen bzw. Auseinandersetzungen einfach ausbleiben. Die allgegenwärtigen Talkrunden in Funk und Fernsehen – ganz gleich ob zwischen hohen Politikern oder streitenden Nachbarn – sind und bleiben anschaulichstes Beispiel dafür. Wenn wir ehrlich sind, kennen wir nicht minder drastische Beispiele oft auch aus dem persönlichen Umfeld. Oft wird zwar intensiv um wahr oder falsch gestritten, dass jede erfolgreiche und also konstruktive Gesprächsführung bestimmten Regeln folgt, wird jedoch gern ignoriert. Dabei sind die Grundgedanken der Dialektik sehr einfach und einprägsam:

Die erste Regel formulierte Platon: „Verhalte Dich nicht egozentrisch.“ – Sie lässt sich mit dem simplen Gedanken der Wechselrede konkretisieren: Die Parteien reden abwechselnd und hören einander zu. Aus dem gegenseitigen Zuhören ergibt sich eine zweite Regel: Die Parteien geben ausdrücklich an, wann sie den Ansichten der jeweils anderen Partei widersprechen. Tun sie dies nicht, gilt dieses Unterlassen als Zustimmung. So wird vermieden, dass die Beteiligten aneinander vorbeireden. Damit die Parteien einander dann überhaupt verstehen, gilt als dritte Regel: Die Gesprächspartner drücken sich klar und eindeutig aus, um Missverständnisse möglichst zu vermeiden. Und die letzte Grundregel lässt sich von Aristoteles ableiten, der sagte: „Analysiere und argumentiere logisch.“ Sprich: Widersprüche in der eigenen Argumentation oder zu dem, womit man sich bereits einverstanden gezeigt hat, sind nicht zulässig.

Wer diese vier einfachen Spielregeln beherzigt, vermindert damit sofort die Gefahr unerfreulicher und destruktiver Gesprächsverläufe. Und es zeigt sich hier auch ganz deutlich, dass Dialektik also keineswegs dazu da ist, die eigene Meinung möglichst verlustfrei durchzusetzen. Gerade unter dem Stichwort Rhetorik findet dieses Missverständnis immer noch Verbreitung. Ausgangspunkt eines „Streitgesprächs“ sind zwar meist gegensätzliche oder wenigstens unterschiedliche Meinungen, doch Ziel ist es nicht, die Meinung des Gegenübers als falsch und die eigene als richtig darzustellen – und dieser Aspekt wird in der Gesprächspraxis allzu oft vergessen. Ziel eines Gesprächs bleibt vielmehr die konstruktive Verständigung über den Gegenstand der Meinungsverschiedenheit. Es gilt, einen Ausgleich der Meinungen herzustellen, einen Konsens zu erzielen, der für beide Parteien der Wahrheit gleich kommt.

Aus diesen Grundsätzen lässt sich nun auch für unsere moderne Zeit eine Rhetorik ableiten, die nicht auf den rhetorischen Sieg bloß um des Sieges willen abzielt, sondern stattdessen ganz und gar ausgerichtet ist auf die erfolgreiche Verständigung der Gesprächspartner, die gemeinsam die Wahrheit zu ergründen suchen. Und so sind auch die Mittel der Rhetorik nicht in verbalen Finten, Spitzfindigkeiten, Vernebelungstaktiken oder Totschlagargumenten zu suchen, sondern allein in der Überzeugungskraft der persönlichen Argumentation, die sich einerseits in den schlüssigen Inhalten niederschlägt, sich andererseits auch im guten Stil der Gesprächsführung entfaltet. Denn ein Streitgespräch ist keine Kampfansage, und die eigenen Argumente sind keine „Waffen“, mit denen man den „Gegner“ bezwingt. Argumente – und genauso die Gegenargumente! – sind viel eher als Stufen auf dem gemeinsamen Weg zur Wahrheit zu betrachten. Mit jedem überzeugendem Argument nähert man sich dem Konsens, der gegenseitigen Verständigung. Mit einer solchen Art der Gesprächsführung kommt man nicht nur schneller und besser zum Ziel, sie lässt zudem auf eine stilvolle und souveräne Persönlichkeit schließen, die es nicht nötig hat, seinen Gesprächspartner mundtot zu machen. Auch dieser Aspekt ist alles andere als unerheblich, denn Gespräche, die auch in heiklen Situationen ein gewisses Niveau beibehalten, führen seltener zu unnötigen Konflikten und sind daher zu Recht als konstruktiv zu bezeichnen.

In unserer Zeit, die von der Vielfalt der Kommunikationsmöglichkeiten und der Fülle kommunikativer Prozesse geprägt ist, ist eine Rhetorik der Überzeugungskraft letztlich die einzige Chance, sich nicht dem stetig steigenden Lärmpegel der Kommunikation zu unterwerfen und selbst immer nur noch lauter, noch bunter, noch spektakulärer zu sein in der Hoffnung, irgendwo Gehör zu finden. Die Rückbesinnung auf die sehr praktikablen Grundregeln der Dialektik leitet den Blick auf die Qualität unserer Kommunikation, auf den Erfolg unserer Gespräche, und nicht auf das Aufsehen, das sie erregen. Und der Maßstab dafür kann nur die gelungene Verständigung sein. Qualitativ hochwertige Gespräche, die effektiv und erfolgreich verlaufen, dienen nicht der Selbstdarstellung, sondern der Klärung und der Kommunikation von Inhalten. Ganz gleich, ob es sich dabei um private Auseinandersetzungen, um berufliche oder Fachgespräche handelt. Ein Gespräch, das stattdessen letztlich bloß dazu führt, dass der Gesprächspartner eingeschüchtert oder in die Ecke gedrängt seine Meinung aufgibt, ist in letzter Konsequenz immer ein unsinniges und vor allen Dingen überflüssiges Gespräch, denn in der Sache wird hier nichts geklärt. Und die Meinungsverschiedenheiten bleiben weiterhin bestehen oder steigern sich nur noch. Gerade langfristig gesehen, bleibt ein solches Gespräch ohne echtes Ergebnis und führt in der Folge sogar häufig zu Konflikten oder Missverständnissen. – Und überflüssige, ergebnislos verlaufende kommunikative Vorgänge gehören nun zu den Dingen auf der Welt, auf die wir gerne verzichten können.

Deshalb ist es wichtig, die Qualität und Effektivität von Gesprächen und Kommunikation nicht aus dem Blick zu verlieren, was bei den schier grenzenlosen Kommunikationsmöglichkeiten unserer Zeit tatsächlich zu einer reellen Gefahr geworden ist. Die aus der Antike stammenden Grundsätze der Dialektik geben uns Hinweise darauf, wie wir dieser Gefahr Einhalt gebieten können, und sie haben auch in unserer modernen Gesellschaft weiterhin ihre volle Gültigkeit. Aufmerksamkeit, Fairness, Klarheit im Ausdruck, Authentizität und schlüssige Inhalte waren damals und sind auch heute die Eckpfeiler einer überzeugenden Gesprächsführung.

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