Der Zwang des Besonderen

Wenn ich über die verschiedenen Merkwürdigkeiten nachdenke, die mir täglich begegnen, fällt mir eine Gemeinsamkeit auf, die sie alle haben. Ob es das Imponiergehabe junger Männer, die kreischende Auffälligkeit junger Frauen, das Renommieren mit Haus, Auto, Pferd und Flugzeug, das Klimakleben oder der Rummel um LGBTQIA+, es geht immer um das Gleiche: Jeder will besonders sein. Besonders stark, besonders schön, besonders erfolgreich, besonders klug und im Besitz der einzigen und letzten Wahrheit oder eben sexuell besonders.

Aber halt, an der Stelle muss ich etwas genauer werden. Es muss heißen: Jeder will als besonders wahrgenommen werden. Diese Unterscheidung ist wichtig, denn jeder ist ja besonders! Jeder ist einzigartig und auf seine Weise besonders, sowieso und von Anfang an. Er oder sie (oder es) scheint das nur (noch) nicht zu wissen.

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Wenn er oder sie (oder es) das wirklich verstanden hätte, müsste er oder sie (oder es) nicht ständig darauf hinweisen, es laut hinausposaunen, überdeutlich zeigen, wie eine Monstranz vor sich hertragen oder es auf andere Weise seiner Umwelt versuchen klarzumachen. Dann könnte man es ja auch einfach still genießen. Aber nein, wir müssen es immer wieder unterstreichen, uns damit in den Vordergrund drängen, einzig aus dem Grund, dass die anderen unsere Besonderheit auch wirklich wahrnehmen. Nur darum geht es. Dafür setzen wir viel Energie ein. Wir wollen als besonders stark, schön, reich, klug oder offen wahrgenommen und in dieser Besonderheit akzeptiert und wertvoll sein.

Im Laufe der Zeit – manche sagen, im Verlaufe unseres Reifens – merken wir, zumindest viele von uns, dass wir besonders und wertvoll und akzeptiert sind, auf jeden Fall von denen, um die es uns wirklich geht. Dann können wir uns zurücklehnen, innehalten und unser „besonders“ genießen. Ohne es immer wieder zum Thema zu machen. Ohne Energie mit Auffall-Aktionen zu vergeuden. Bei manchem kommt dann ein mildes Lächeln, wenn er an die Tage seines Kampfes um Aufmerksamkeit und „besonders“ zurückdenkt, bei manchem vielleicht auch Scham.

Ich bringe diese Gedanken – im Wissen um das Risiko, das ich damit eingehe – auf einen kurzen Nenner:

Jugend will als „besonders“ wahrgenommen werden. Das ist ihr gutes Recht und war schon immer so, nur manche Inhalte haben gewechselt. Weil sie sich ihrer Besonderheit nicht sicher ist, stellt sie sie dar, oft schrill, übertrieben, aggressiv und mit Absolutheitsanspruch. Kurioserweise versucht sie dabei, andere davon zu überzeugen, auch so sein zu müssen. Das allerdings würde dazu führen, dass sie ihre eigene Besonderheit verliert. Oder haben Menschen am Ende sogar Angst davor, besonders zu sein? Haben sie Angst davor, mit ihrer Besonderheit allein zu sein und wollen, ja müssen sie deshalb andere auf ihre Seite ziehen?

Was zeigt uns das alles? Menschen sind kompliziert. Und ihre Reifung, ihr Sich-selbst-der-eigenen-Besonderheit-vergewissern und ihr Sicherwerden brauchen Zeit, gehen Irrwege und verlangen Geduld, vor allem von der Umwelt.

Aber natürlich hat das Ganze auch seine guten Seiten. Zum einen ist es ein Motor für Entwicklung. Um besonders zu erscheinen, investieren Menschen viel Energie in Unterschiede, die sie vom Bestehenden unterscheiden. Das bringt die Gesellschaft vorwärts. Außerdem gibt es noch eine Gruppe von Menschen, die zweifellos Nutznießer und deshalb auch vehementer Unterstützer dieser Besonders-Aktivitäten ist: die Medienvertreter. Das ganze Spektrum bietet ihnen nämlich unendlich Stoff für tägliche Meldungen und fürs Feuilleton. 

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