Der Mythos »Die schöne Zeichnung«

Als Kind gewusst – als Erwachsener vergessen. Eine Bitte: Nimm ein Blatt Papier, einen Stift und zeichne das, was du heute beruflich machst. – Na? Steigen schon die Schweißperlen auf? Beginnt das Herz schneller zu schlagen und beginnen die Hände feucht zu werden? In den meisten Fällen spätestens dann, wenn die ersten Striche gesetzt wurden und nicht dem entsprechen, was du eigentlich darstellen wolltest. Viele Menschen geben mir auf diese Übung das Feedback: »Das sieht nicht so aus, wie es in meinem Kopf ist.« Und selbstverständlich der beliebte Satz: »Das ist nicht schön« oder »Ich entschuldige mich bereits jetzt dafür«.

Das Buch zum Thema

Visualisieren fürs Business & so
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Mein Fehler! Ich habe vergessen zu bedenken, dass du nicht zeichnen kannst. Zumindest nicht so, dass du es schön findest! Ich versuche es nochmals: Nimm ein Blatt Papier, einen Stift und zeichne das, was du heute beruflich machst und zwar so, als ob du im Alter von fünf Jahren mit dem Zeichnen aufgehört hast. Fertige eine Kinderzeichnung an! – Na? Ändert sich etwas dadurch?

Hier ein paar interessante Fragen zur Selbstreflexion:

  • Was macht das mit deinem Anspruch bezüglich des Erscheinungsbildes des Ergebnisses?
  • Was macht das mit deiner Herangehensweise an die Zeichnung und den damit verbundenen Emotionen?
  • Was würdest du deinem fünfjährigen Ich als Feedback auf die Zeichnung geben?

An dieser Stelle werde ich von Lernenden häufig darauf hingewiesen, dass sie jetzt ja erwachsen seien und das Ergebnis auch dem entsprechen solle. Mit einer Kinderzeichnung könne man schließlich nicht vor Vorgesetzten, Kolleginnen oder Kunden aufwarten. Man würde sich ja der Lächerlichkeit preisgeben!

Kindisch!

Stimmt nicht! Und Ausnahmen dürfen gerne die Regel bestätigen. Nehmen wir zum Beispiel folgenden wichtigen Punkt aus dem Businessleben und der Lehre: Klarheit schafft Verständnis. – Wenn mir jemand etwas erklären will und ich verstehe es nicht, sage ich gerne: »Erkläre es mir so, wie du es einem Fünfjährigen erklären würdest.« Das klappt in den meisten Fällen! Zumindest kann ich so jene Fragen stellen, die mich weiterbringen. Und genau darum geht es auch bei dieser Zeichnung: Weniger ist mehr! Einfach ist besser als kompliziert und aufwendig! Der Zweck soll in dem Fall die Mittel heiligen. Sieh die Zeichnung nicht als etwas, dass du dir an deine Bürowand hängen willst. Es ist lediglich der nächste Schritt in der Kommunikationskette. Ein hilfreiches Werkzeug, dass dein Gegenüber beim Verstehen hilft oder auch dir beim Nachdenken. Wer hat etwas von »schön« gesagt? Und sind wir uns ehrlich: Schönheit liegt im Auge des Betrachtenden. Ich beobachte bereits seit Jahren folgendes spannende Phänomen: Zehn Menschen nehmen an einem Flipchartkurs teil. Neun Menschen sagen, wie toll sie die Ergebnisse der anderen finden und wie unansehnlich die eigene Zeichnung ist. Und wie gerne sie dieses oder jenes könnten, dass die anderen so fabulös umgesetzt haben. Und dasselbe dann nochmals beim Thema »Handschrift«.

Aufs Schreiben wollen die Meisten dann doch nicht verzichten und akzeptieren das Ergebnis. Das Zeichnen hingegen lässt man dann einfach sein.

Ich will es an dieser Stelle auch gerne von einer anderen Seite ganz nüchtern betrachten: Ich habe zwei Kommunikationsmittel zur Verfügung – A (das Schreiben) und B (das Zeichnen). B entspricht dem, wie unser Gehirn Inhalte wirkungsvoll verarbeitet (in Bildern). A muss hingegen erst in Bilder übersetzt und aufwendig mit vielen Worten umschrieben werden. Um möglichst wirkungsvoll zu sein, würde ich mich in dem Fall eher für B entscheiden. Aber Halt! B ist für mich Fremdsprache. Die kann ich (noch) nicht. Die müsste ich lernen. Ich bleibe bei A – das funktioniert zwar nur mittelprächtig, ist aber eine bequeme Lösung. Den Mehraufwand und die Missverständnisse nehme ich gerne in Kauf. Außerdem wüsste ich gar nicht, wo ich mit B beginnen soll.

Wo du nicht beginnen solltest: Beim Zeichenunterricht in der Grundschule! Lass uns an der Stelle weitermachen, an der du das Kommunizieren mit dem Stift noch als wertvolle Ressource und Werkzeug eingesetzt hast: Als Fünfjähriger!

Und wenn es schön sein soll, dann buche einen Zeichen- oder Malkurs oder beauftrage jemanden mit grafischer Ausbildung. Wenn es wirkungsvoll sein soll, dann lies mein Buch „Visualisieren fürs Business & so“ und freue dich, dass du etwas wieder entdeckt hast, dass die Menschheit vor tausenden Jahren als das Kommunikationsmittel schlechthin eingesetzt hat:

Visualisierung als Kulturtechnik!

  • Zeichnen ist Zeigen mit dem Stift!
  • »Komm! Ich zeige es dir!«
  • »Wenn ich es sehe, glaube ich es auch!«
  • »Visualisieren als Kulturtechnik« – Was soll das eigentlich sein?
  • Ich will es an dieser Stelle kurz erklären.

Christoph Niemann, ein sehr erfolgreicher deutscher Illustrator (seine Arbeiten erschienen unter anderem auf den Titelseiten von The New Yorker und dem New York Times Magazin), erdachte das sogenannte Abstract-O-Meter.

Am einen Ende des Abstract-O-Meters (rechte Seite) siehst du die total abstrakte Darstellung eines Herzens. Der Vorteil dieser Darstellungsweise besteht darin, dass du diese Zeichnung sehr schnell anfertigen kannst – der Nachteil hingegen liegt auf der Hand: Es ist nicht erkennbar, um was es sich hier handelt!

Am anderen Ende des Abstract-O-Meters (linke Seite) siehst du die realistische Darstellung eines Herzens. Hier liegt der Vorteil darin, dass die Zeichnung sehr gut erkennbar ist – der Nachteil ist offensichtlich jener, dass diese Form der Darstellung viel Zeit (und Können) in Anspruch nimmt.

Die Darstellung in der Mitte vereint hingegen beide Vorteile: Einerseits kann diese symbolische Variante recht rasch zeichnerisch umgesetzt werden und andererseits ist sie ebenfalls gut erkennbar!

Niemann verwendet das Abstract-O-Meter zwar nicht in diesem Sinn, für mich war aber klar: Das ist eine hervorragende Erklärung, wie Visualisieren als Kulturtechnik (als Kommunikationsmittel) aussehen soll und was diese Technik leisten kann:

Einfach und schnell anwendbar – gut und eindeutig erkennbar!

Zeichnen Menschen ohne entsprechende grafische Ausbildung möglichst detailgetreu, ist es sogar häufig der Fall, dass die Zeichnung mehr und mehr missverständlich wird. Bleiben wir hingegen mit der Darstellung unserer Zeichnungen im mittleren Bereich des Abstract-O-Meters, dann gewinnen diese an Eindeutigkeit und damit Klarheit! Und das ist es, was wir bei der erfolgreichen Kommunikation erreichen wollen.

Und vor allem geht es nicht darum, möglichst schön zu zeichnen. Wirf diesen Gedanken bitte über Bord! Das Schön-Schreiben und Schön-Sprechen wird auch häufig als Luxus verstanden – beim Zeichnen ist es in dem Fall dasselbe. Viel wichtiger ist das Leserlich-Schreiben und Verständlich-Sprechen und im Fall des Zeichnens eben das Erkennbar-Zeichnen. Alles andere ist unnötiger Druck und Belastung und zielt in Richtung Kunstunterricht. Befreie dich von diesem Druck und konzentriere dich darauf, die Technik zu erlernen und anwenden zu können. Mit der Übung wird das Ergebnis natürlich immer ansehnlicher und damit auch noch wirkungsvoller. Beim Schreiben und Sprechen ist es ja auch nicht anders.

Ich arbeite unter anderem als Graphic Recorder. Das sind jene Menschen, die bei Events jeder Art im Hintergrund, auf großen Leinwänden, ein visuelles (für alle gut sichtbares) Verlaufsprotokoll der Veranstaltung erstellen. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen sind grafisch ausgebildet und arbeiten auch als Illustratoren. Das sieht man dann auch am Ergebnis! Es entstehen eindrucksvolle Werke, bei denen gekonnt Werkzeug, Farbe und Formen eingesetzt worden sind. Ich finde diese Ergebnisse sehr ansprechend, aber eben auch sehr anspruchsvoll. Abgesehen davon, dass ich das eingedeutschte Wort »Graphic Recorder« nicht mag, da es mich an eine Maschine (wie zum Beispiel einen Videorekorder) erinnert, schreckt es Menschen ab, selbst das Zeichnen als Kulturtechnik einzusetzen. Warum?

Ich versuche, es damit deutlich zu machen: »Ich kann nicht zeichnen.« Ich habe auch nicht den Anspruch, kunstvolle Zeichnungen zu erstellen. Ich will hingegen erfolgreich kommunizieren. Ich verwende auch so gut wie keine Zeit darauf, meine grafischen Fertigkeiten ständig zu verbessern. Ich arbeite hingegen gerne an der Übersetzung von Inhalten in visuelle Strukturen, in Metaphern und der erfolgreichen Verbindung von Wort und Bild. Immer mit dem Ziel, die gewünschte Wirkung zu erzielen (in der Beratung, im Coaching, bei Präsentationen, in Diskussionen, in der Moderation und so weiter).

Ich bin beispielsweise auch ein großer Fan davon, dass Menschen ihre eigene Handschrift einsetzen (und auch finden) und nicht eine konformistische Moderationsschrift erlernen und damit eine Vielfalt aufgeben, die uns allen sehr guttut. Freilich muss diese Schrift auch lesbar sein, denn ansonsten würde ja wieder das übergeordnete Ziel (erfolgreiche Kommunikation) darunter leiden. Die Handschrift ist zum Teil Ausdruck unserer Persönlichkeit und Geschichte und trägt damit auch zur Kommunikation bei. In einer Zeit, in der die Technokratie hochgehalten wird, ist Authentizität ein Muss für kreatives Schaffen und erfolgreiche Kommunikation in komplexen Situationen.

Was ich damit sagen will, ist: Denken und Handeln sollten von einem humanistischen Weltbild geprägt sein und das sollte dann konsequenterweise auch in die Kulturtechnik miteinfließen: Menschen zeichnen für sich selbst und für andere Menschen.

Wollen wir wirksam und damit erfolgreich kommunizieren, dann sollten wir zu dem stehen, was wir machen und wie wir es machen und idealerweise in einen Dialog treten. Und genau dafür ist das Zeichnen als Kulturtechnik auch gedacht (egal ob analog oder digital). Vieles von dem, was du in diesem Buch noch lesen wirst, lässt sich außerdem auch wunderbar bei der Gestaltung von PowerPoint-Folien oder digitalen Whiteboards und dergleichen einsetzen.

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