Deine digitale Identität

Inwiefern bildet die digitale Identität mein reales Ich ab? Wer bin ich – wirklich? Der traditionelle Begriff von Identität wird im Zeitalter zunehmender Vernetzung und Sozialer Medien der Realität kaum noch gerecht. Die Grenzen verschwinden zwischen Privatem und Öffentlichem. Unsere neue Identität ensteht aus Spuren, die wir immer und überall hinterlassen.

Inwiefern bildet die digitale Identität mein reales Ich ab? Wer bin ich – wirklich? Eine traditionelle formelle Auffassung von persönlicher Identität definiert sich über das, was etwa in Personalausweis und Reisepass steht, also über faktisch-statische – insbesondere äußerliche – Merkmale: Name, Geburtsdatum, Wohnort, Unterschrift, unveränderliche biometrische Kennzeichen wie Augenfarbe und Fingerabdrücke. Andere Auffassungen unterscheiden nach den Rollen, die wir jeweils ausfüllen: in der Öffentlichkeit beispielsweise die Rolle des Unternehmers oder des Kommunalpolitikers, im Privaten vielleicht das Familienvater-Ich, Ehemann-Ich, oder auch das, was wir möglicherweise als wahres Ich begreifen.

Das Buch zum Thema

Digitalisierung selbst denken
» Mehr Infos

»Der Identitätsverlust war früher ein philosophisches Problem, heute reduziert sich das Identitätsproblem häufig auf den Verlust der Pinnummer.«

Anselm Vogt (*1950); deutscher Essayist, Kabarettist

Doch die Lage hat sich im Zuge der digitalen Transformation geändert – und wird sich weiter ändern. Zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen schwinden die Grenzen; die persönliche und die öffentliche Identität verschmelzen im Internet zu einem dynamisch-prozessualen Gebilde – resultierend aus den eigenen Spuren. Es sind einerseits quasi unabsichtlich hinterlassene Spuren: Kommunikationsspuren, Ortsangaben, Konsumnachweise; und es sind andererseits die absichtsvoll hinterlassenen Spuren, beispielsweise unsere Selbstinszenierungen, gelegentlich ein »medientechnisch gepflegter Exhibitionismus«. Die digitale Identität ist letztlich einerseits etwas recht Simples: eine Sammlung von Daten, durch die eine (reale) Person in einem bestimmten Zusammenhang eindeutig bestimmbar ist. Und andererseits ist sie etwas sehr Vielschichtiges, Komplexes: nicht nur, weil sich ein Mensch bei Facebook anders zeigt als bei LinkedIn. Das Identitätsstiftende ist in gigantischem Ausmaß multifaktoriell und multikausal; es unterliegt einem steten Wandel an Perspektiven, Vernetzungen, Konstellationen und Konfigurationen.

Die technischen Möglichkeiten der Identitätsbildung und damit verbundenen Feedbackprozesse ermöglichen es, eigene Identitätsentwürfe zu testen und abzugleichen: Self-Monitoring; in seiner simpelsten Form ist es beispielsweise das sogenannte Ego-Googeln – das Googeln des eigenen Namens. Ein solches Verhalten gehört ursprünglich, lebensgeschichtlich, entwicklungspsychologisch, in die Teenagerzeit: Zum natürlichen Prozess der Identitätsfindung kann der Impuls gehören, vor einem imaginären Publikum zu posen. In einer digitalen Welt sind nun die Möglichkeiten fortwährenden Experimentierens mit dem Selbst und der Identität zeitlich unbegrenzt und grundsätzlich unermesslich. Darin liegen Chancen und Risiken – und eine große Gefahr sicherlich in der Unterschätzung der individuellen Auswirkungen steten Sich-Beurteilungs-und-Bewertungsmechanismen-Aussetzens.

Ob nun die digitale Identität als Zerrbild des Selbst wahrgenommen oder als Ware verstanden und als solche gehandelt wird, etwa mittels sogenannter Ego-Updates – sicher ist jedenfalls: Das Internet ist möglicherweise nicht wirklich der optimale Ort für die menschliche Identität, das menschliche Selbst in all seinem Reichtum, seinem Vexieren zwischen Vergänglichkeit und Beständigkeit, für menschliche Schwäche, für Individualität und Eigensinn.

Was hat es auf sich mit dem Verhalten, sich im Internet »nackt« zu zeigen? Sehnsucht nach Aufmerksamkeit? Es ist ein soziales Urphänomen – grundsätzlich so alt wie die Zivilisation –, hat indes unter Internetbedingungen eine neue Qualität gewonnen; unaufhörlich arbeiten die vernetzten Computer der Welt als Profiler.

Der Gegensatz zu einer solch transparenten öffentlichen Identität wäre die Anonymität. Und es gibt selbstverständlich gute Gründe, die gegen Anonymität im Digitalen sprechen: Anonyme Kunden betrügen, anonyme Nutzer neigen zu beleidigenden und hetzerischen Kommentierungen, anonyme Menschen können nicht zur Rechenschaft gezogen werden.

In diese Richtung argumentiert auch Mark Zuckerberg, wenn er sagt: »Man hat nur eine Identität. … Wenn man zwei Identitäten präsentiert, zeigt das einen Mangel an Integrität« (Kirkpatrick 2011, 217). Er zielt offenbar auf die Verknüpfung von Identität mit Integrität als Übereinstimmung von Idealen, Werten und tatsächlicher Lebenspraxis ab. Eine wesentliche Ingredienz einer so verstandenen Integrität ist indes – und bleibt als solche von Zuckerberg unerwähnt – Freiheit. Gelebte Freiheit in einer digitalen Welt kann beispielsweise bedeuten: Souveränität, Selbstbestimmung bezüglich der eigenen Daten. Und so darf bezweifelt werden, ob ein Zwang zur vollständigen Preisgabe der eigenen Identität wirklich gelebte Freiheit ist. Um wirklich frei zu sein, ist es nicht nur notwendig, tun zu können, was man möchte – wirkliche Freiheit ist erst dann erreicht, wenn man auch weiß, was man alles tun könnte (Benkler 2001, 25). Wer nicht weiß, dass man auch Pianist werden kann, wird in demselben Maße daran gehindert einer zu werden, wie jemand, der Pianist werden will, aber nicht darf. Insofern wird durch die algorithmische Individualisierung von Suchergebnissen und digitalen Inhalten nicht nur ein möglicherweise verzerrtes Persönlichkeitsprofil genährt, sondern in demselben Maße die von vielen definitorisch mit der Digitalisierung verbundene Freiheit beschränkt. Personalisierung erfordert hier, wie Eli Pariser anführt, zudem auch eine Theorie darüber, was eine Person ausmacht; welche Daten erforderlich sind, um eine Person als solche – und damit letztlich auch ihre Identität – zu bestimmen. Darin unterscheiden sich auch die Algorithmen der »Großen« in unserer digitalen Wirtschaft deutlich (Pariser 2011, 121).

So oder so – die Zeit der Geheimnisse scheint vorbei. Emilio Mordini verdeutlicht es am Arztgeheimnis: Waren Patientenakten und Befunde in der Vergangenheit dermaßen gut gehütete Geheimnisse, dass Ärzte selbst im Klinik-Aufzug ihre Gespräche über Patienten einstellten, haben mittlerweile in den USA rund einhundertfünfzig Personen Zugriff auf die Falldaten eines Patienten (Mordini 2011). Bis zu einem gewissen Grad sind wir alle mittels Informationstechnologien – ob wir davon wissen oder nicht – transparent. Und insofern passt dann doch vielleicht das Bild des digital village wieder: In einem Dorf bleibt kaum etwas lange geheim. »If your data is online, it is not private« (Bruce Schneider) – »You have zero privacy anyway. Get over it« (Scott McNealy).

Teilen

Dieser Artikel kann nicht kommentiert werden.