Regiert vom Algorithmus

Die ganze Welt scheint von der Digitalisierung ergriffen. Die ganze Welt? Nein! Eine kleine Gruppe scheint Widerstand zu leisten: die Politik. Hier läuft Digitalisierung immer wieder hinaus auf: Inkompetenz twittern. Machen wir ein Gedankenexperiment: Ersetzen wir die – zuweilen als bloß noch peinlich wahrgenommene – Politikerkaste durch digitale Akteure: Algorithmen an die Regierung! Schlimmer kann es dadurch doch auch nicht mehr werden – oder?

Über Politiker im Allgemeinen oder die Regierung im Besonderen zu schimpfen, zu lächeln oder schlichtweg nur gleichgültig mit der Schulter zu zucken, ist heute: sozial anerkannt, gesellschaftlich akzeptiert – und nahezu üblich. Nicht zuletzt ein Twitter-affiner Präsident aus Übersee scheint solche abschätzigen Reaktionen nachdrücklichst zu rechtfertigen: Wenn ein als »mächtigster Mann der Welt« bezeichneter Staatschef nicht nur gelegentlich kleinkindgleiches Verhalten an den Tag legt, dann scheint es mit politischen Mandatsträgern – so die generelle Annahme – insgesamt nicht mehr weit her zu sein. Und an schlechten Beispielen mangelt es auch hierzulande nicht: politische Mandatsträger, die selbst wohlmeinenden Bürgern den Glauben an ein »Funktionieren« von Politik und Regierung schwer bis unmöglich machen – von der teils mindestens ebenso geistig »limitiert« scheinenden Politikerkaste europäischer Partnerstaaten ganz zu schweigen. Vorbei scheint die Zeit ehrbarer, vorbildlich-tugendhafter, dem Gemeinwohl verpflichteter Politiker.

Andererseits: Auch die Erwartungshaltung an Politiker kann Anlass zur Verzweiflung geben, grenzt sie doch zuweilen ans Schizophrene. Zugespitzt gesagt, ist unser Begehr an die Adresse der Politiker im Großen und Ganzen: Es soll uns bitteschön allen persönlich gut gehen. Genau gesagt – und das meinen wir (unter anderem) mit »gut gehen«: Um den Alltag der Menschen soll es bestmöglich bestellt sein; die Wirtschaft soll florieren; künftigen Generationen soll ein optimales Erbe hinterlassen werden, beispielsweise hinsichtlich der Umwelt und des Weltklimas; Wohlstand und Bildung sollen gesichert, Frieden gewahrt und Unterdrückung bekämpft werden – indes natürlich nicht auf Kosten anderer –, und weltweit Gerechtigkeit herrschen. Außerdem sollte ein Politiker authentisch und wie »einer von uns« wirken, sachliche Lösungen suchen, weder Streitsucht noch Eitelkeit an den Tag legen, begeisternde Reden halten, nett anzuschauen und gleichzeitig ausgestattet sein mit der Durchsetzungskraft eines Gerhard Schröder, gepaart mit der Empathie eines protestantischen Pfarrers. Und das ist erst der Anfang…

Latin-Hypercube, Monte-Carlo, Lasvegas – Sie haben die Wahl!

Seien wir ehrlich. Politiker, Regierung, Mandatsträger: Unsere Erwartungen an sie – so wir denn welche hegen – laufen hinaus auf: die Quadratur des Kreises. Und tatsächlich haben wir es dann – Überraschung! – zu tun mit: Menschen. Menschen wie du und ich. Doch: Wie schaut es aus mit Alternativen? Wagen wir doch beispielsweise einmal – angesichts des allgemeinen Digitalisierungswahns, der angeblich allemal, wie allerorten zu hören ist, »keinen Stein auf dem anderen lässt« – ein Gedankenexperiment. Nur hypothetisch. Wenden wir dazu einmal die – von der Politik so emsig mitbetriebenen – Digitalisierungsbestrebungen auf Politik und Regierung selbst an: So, wie die mit Robotik einhergehenden Algorithmen inzwischen viele Aufgaben in der Industrie erledigen und die dortigen Arbeitskräfte substituieren, übernehmen nun auch –hypothetisch – Algorithmen die Politik und Regierung. Lassen Sie sich für einen Moment auf diese Vorstellung, dieses Gedankenspiel ein: Bei der nächsten Wahl stehen nicht Politiker, sondern Algorithmen zur Wahl. Die Kandidaten heißen nicht mehr »Schulz«, »Nahles« oder »Merkel«, sondern – um einige gängige Algorithmen-Namen zu nennen: »Las-Vegas«, »Monte-Carlo« oder »Latin-Hypercube«, was zumindest etwas mehr klanglichen Esprit in den Wahlkampf bringen dürfte. Wobei man diesen Aspekt sicher nicht überbewerten sollte, wie beispielsweise die ehemalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zu berichten wissen dürfte. Jedenfalls: Wie wäre es also?

Bevor Sie nun indigniert abwinken: So abwegig ist dieser Gedanke nicht. Die Errungenschaften der Digitalisierung könnten doch möglicherweise gerade im vielfach kritisierten politischen Feld eine tragfähige Alternative offerieren. Unbestechlichkeit, strikte Sachbezogenheit, Zuverlässigkeit, Funktionieren ohne jede Beeinträchtigung durch Affekte, Emotionen, Gefühle… – all das, was wir uns offenbar von Politikern vergebens wünschen, macht Algorithmen bekanntlich aus. Und auch etwas weiteres Bemerkenswertes können sie hervorragend: Entscheiden. Darum geht es schließlich im politischen Betrieb zu ganz wesentlichen Anteilen. Es wird entschieden über Inhalte, über Prioritäten, über Maßnahmen, über Gesetze. Und faktisch sind Entscheidungsprozesse in der Politik heutzutage wie das Leben selbst: undurchsichtig, kompliziert, hinsichtlich ihrer Einflussfaktoren undurchschaubar und bezüglich ihrer Auswirkungen kaum vorhersagbar. Die Einflussvariablen im politischen Betrieb sind vielfältig, ihre gegenseitige Beeinflussung hoch und Veränderungen erfolgen nach intransparenten und handlungsunabhängigen Gesetzmäßigkeiten. Anders gesagt: Die Wirklichkeit wie auch das Leben der Menschen wird komplexer – und auch die Politik und das Regieren ist ein zunehmend komplexes Unterfangen. Hier könnte ein algorithmisch-digitaler »Regierungsentscheider« möglicherweise Vortreffliches leisten. Denn für einen Algorithmus sind auch multivariable Zusammenhänge noch durchschaubar und entscheidbar. Zudem ist der sprichwörtliche »Wille des Volkes« heute zunehmend schwerer auszumachen – gängiges Schlagwort: Meinungspluralität. Ein wenig BigData und DataMining im Algorithmus eines digitalen »Regierungsentscheiders« wäre da mutmaßlich durchaus tauglicher als beispielsweise das dilettantische Evaluationsvorgehen jetziger menschlicher politischer Akteure per Social-Media. Denn diese sind meist: laienhafte Versuche, beispielsweise auf der Basis der Anzahl von Kommentaren auf eine Meinungsabsonderung auf der eigenen Facebook-Seite die »politische Volksmeinung« abzugreifen.

Dem Gewissen verpflichtet!

Doch es gibt einen Bereich, in dem unser fiktiver, algorithmisch-digitaler »Regierungsentscheider« ein entscheidendes Manko aufweisen könnte. Lassen Sie mich dazu – sinngemäß – das Grundgesetz zitieren: Politische Mandatsträger in Deutschland sind nach Artikel 38, Abs. 1, ausschließlich ihrem Gewissen verpflichtet. Ein Gewissen? Beispielsweise: Werte und moralische Vorstellungen? Womöglich gar Gewissenskonflikte? Das sucht man nun bei einem Algorithmus, nach allem, was wir wissen: vergebens. Tatsächlich ist es damit aber, könnten Sie nun einwenden, auch in der derzeitigen politischen Praxis nicht mehr weit her. Nicht edle Ideale und eigene Überzeugungen geben heute im politischen Geschehen den Ausschlag – wie vielleicht noch bei Politikern der Vergangenheit wie Helmut Schmidt oder Franz Josef Strauß, die Regieren noch als gesellschaftliche Pflicht und persönliche Ehre verstanden. Entgegen der grundgesetzlich verankerten Verpflichtung auf das eigene Gewissen besteht politische Arbeit heute vielmehr aus einer wahrgenommenen (und real existierenden) Einschränkung eben dieser Gewissensorientierung durch Parteitagsbeschlüsse, Koalitionsverträge und Regierungstreue, Fraktionszwänge und die so genannte Kabinettsdisziplin. Der Artikel 38, Abs. 1, des Grundgesetzes sollte ursprünglich die Entscheidungsfreiheit jedes einzelnen Mandatsträgers sicherstellen: Nicht Fraktionszwänge und Parteiprogrammatiken, sondern einzig das eigene Gewissen sollte im Zweifelsfall der Maßstab sein. Frei ist in der heutigen Politik jedoch offenbar allenfalls eine kleine Minderheit.

Algorithmen haben auch ein Gewissen

Und unser Gedankenexperiment algorithmisierter Politik? Es scheint an dieser Stelle ins Wanken zu geraten. Denn beim digitalen »Regierungsentscheider« dürfte von einer »Verpflichtung auf das eigene Gewissen« keine Rede sein können. Algorithmen haben nunmal kein Gewissen – keine ethischen Werte, keine moralischen Vorstellungen. Das stimmt so natürlich – und ist doch zu kurz gedacht. Der ebenso bedauerliche wie typische landläufige Kurzschluss: Selbstverständlich »haben« Algorithmen keine Werte oder moralischen Vorstellungen. Sie haben auch keine kleinkindgleichen Launen oder großsprecherischen Eitelkeiten. Sie sind schließlich lediglich informationstechnogische Instrumente – von Menschen geschaffen zu einem bestimmten Zweck. Das heißt in logischer Konsequenz: Sie »haben« zwar selbst kein Gewissen. Doch das stimmt nicht. Denn sie sind geschaffen von Menschen mit einem Gewissen – zumindest von Menschen mit bestimmten Werten, Interessen, Prioritäten, moralischen (oder auch amoralischen) Vorstellungen. Algorithmen sind gewissermaßen das formalisierte Gewissen ihrer Erschaffer, ihrer Entwickler. Insofern kommen wir hier also in unserem Gedankenexperiment, Politiker durch Algorithmen zu ersetzen, nicht entscheidend weiter. Wir haben eine Patt-Situation. Denn das Gedankenexperiment läuft, so gesehen, darauf hinaus, Menschen durch Instrumente zu ersetzen, hinter denen auch wiederum Menschen beziehungsweise Organisationen stehen – mit all ihren Interessen, Prioritäten, beispielsweise (Macht-)Gelüsten, ökonomischen Gewinnorientierungen und so weiter. An diesem Punkt geht es, wohlgemerkt, nicht schlicht um »gut« oder »böse«; solche Milchmädchenrechnungen gehen nicht auf, weder in der Digitalisierung noch in der Politik. Denn ebenso wenig, wie die Entwickler von Algorithmen und die zugehörigen Anbieter digitaler Produkte einfach »gut« oder »böse« sind, sind es Politiker und ihre Parteien.

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