Das Denken der anderen

Allzuoft verwechseln wir unsere eigenen Bedürfnisse mit denen von Freunden, Kollegen, Nachbarn, … Und das hat fatale Wirkungen auf uns: Wir trauen uns nicht, wir selbst zu sein. Wir verbiegen uns für andere bis zur Selbstaufgabe. Die Fokussierung auf die Gedanken anderer und die von uns selbst imaginierten Folgen ziehen Energien und beanspruchen persönliche Ressourcen, die wir für unser eigenes Leben und Wohlbefinden brauchen. “Es ist Zeit eine Grenze zu ziehen!” mein Rainer Herlt.

Kennen Sie solche Dialoge bzw. Aussagen im Business oder privat?

„Ich traue mich nicht“- „Wieso nicht? Was soll passieren? – „Die werden mich auslachen“ – „Kann ich das tragen?“ – „Doch, du siehst toll aus!“ – „Na, ich weiß nicht…was ziehen denn die anderen an?“ -„Wenn ich das mache, ist meine Chefin mir böse“ – „Das kann ich doch nicht zugeben. Dann halten mich die Kollegen für doof“ .

Haben Sie als Kind öfter solche Ansagen gehört?

„Wenn du das erzählst, halten die anderen dich für einen Schlaumeier/ Angeber/ Idioten/ für dumm/…“ –  „Was sollen die Leute denken, wenn du so herumläufst?“ – „Man muss sich ja schämen, wenn du dich so verhältst.“

Der Fokus auf andere – gut gemeint!

Sicher waren diese Aufforderungen und Warnungen gut gemeint. Und sicher war die eine oder andere Erklärung ein wichtiger Hinweis darauf, wie bestimmte Verhaltensweisen auf andere wirken. So lernen wir, in unserer sozialen Umgebung entsprechend zu kommunizieren und uns angemessen zu bewegen.  Wir können Beziehungen besser einschätzen. Wenn diese von den Bezugspersonen vertretenen Einschätzungen allerdings zu vorgefertigten Regeln werden, denen wir uns zu unterwerfen haben, wird die Entwicklung unserer Identitäten mehr oder weniger intensiv behindert.

Wir verwechseln dann schnell, unserer eigenen Bedürfnisse mit denen der Nachbarn, Familienangehörigen, Freunden, Lehrkräften und später den Vorgesetzten, Kollegen, Kunden. Wir trauen uns nicht, wir selbst zu sein.

Die Grenzen der Rücksichtnahme

So wie Empathie heute angesichts der durch die Digitalisierung unseres Lebens immer stärker zunehmenden Individualisierung notwendiger ist denn je, hat sie eine Grenze: wenn es um unser eigenes Wohlbefinden geht. Eine Fokussierung auf die möglichen Gedanken anderer und deren von uns selbst imaginierten Folgen ziehen Energien und persönliche Ressourcen ab, die wir für unsere eigenen Ideen, Lösungsprozesse, für unsere Arbeit und unser Leben benötigen.

Dieser Fokus auf andere

  • macht uns zu einer Kunstfigur und entfernt uns von uns selbst
  • belastet unsere Beziehungen
  • kostet Kraft und Zeit für unsere Mutmaßungen bezüglich der anderen
  • löst unnötig Ängste aus, die uns oft tagelang beschäftigen
  • schränkt unsere freie Meinungsäußerung ein
  • erschwert uns den Zugriff auf unsere kreativen Potentiale und Fähigkeiten
  • lähmt Innovationen, weil alles erst einmal anderen angepasst werden muss
  • nimmt uns die Leichtigkeit und Spontanität unseres Handelns
  • macht uns zu freiwilligen Opfern von Willkür
  • lädt andere ein, uns, unsere Zufriedenheit und unseren Erfolg zu steuern

Die selbst geschaffene Angst.

Die Befürchtungen, andere würden schlecht über uns denken und sprechen, entstehen aus Glaubenssätzen über uns und die Welt. Sie wurden uns, wie oben beschrieben, von unseren ersten und wichtigsten Bezugspersonen übertragen. Wir haben sie unreflektiert übernommen. Gleichzeitig spüren wir das immer noch vorhandene ureigenste Bedürfnis, nach unseren individuellen Wünschen auf der Basis unserer persönlichen Potenziale und Ressourcen zu leben. Mit diesen Grundzügen sind wir auf die Welt gekommen. Mit dem latenten Anspruch an das Leben: „Ich bin richtig, so wie ich bin“.

Klar, wir sind soziale Tiere und müssen gewisse Normen des Zusammenlebens in unserer „Herde“ beachten. Der Schutz dieser Gemeinschaft lässt uns im Idealfall so wachsen, dass wir uns als Individuum umfassend entwickeln. Das bedeutet, unsere eigenen Bedürfnisse, Werte und Wünsche innerhalb unserer Gemeinschaften leben zu können. Dazu müssen wir sie erst einmal wahrnehmen! Das wird durch eine ständige Rücksichtnahme auf andere erschwert und oft stark behindert. So wertvoll diese auch manchmal für ein wertschätzendes Zusammenleben nötig ist.

Respekt fängt bei uns an.

Es geht darum, Sichtweisen, Einstellungen, Werte, Bedürfnisse und Befindlichkeiten sowohl bei sich als auch bei den Mitmenschen zu respektieren. Und die Erkenntnisse und Erfahrungen mit meinem Klientel zeigen, dass erst der Respekt sich selbst gegenüber die Achtung abweichender Perspektiven ermöglicht. Im anderen Fall machen wir uns abhängig von den Auffassungen anderer. Wir geben ihnen die Macht, uns zu beeinflussen und zu kontrollieren, die wir selbst nicht besitzen.  Wir geben in der Tat die Kontrolle über uns ab. Wollen Sie das?

Die vielen anderen – ein Gedankenspiel.

Wie kommen wir aus dem selbst gezimmerten Gefängnis wieder heraus? Zunächst sollte sich jeder, der sich betroffen fühlt, folgendes vorstellen:

Es gibt in Deutschland ca. 83 Millionen Menschen. Die Zahl derer, deren Meinung uns so wichtig ist, dass wir uns ihnen unterordnen, wird wohl im Schnitt nicht mehr als 10-15 betragen, vielleicht, wenn es um einen Vortrag vor Publikum geht, ein paar Hundert. Davon einmal abgesehen, dass die meisten unserer Annahmen falsch sein können – bei einem Publikum können wir dessen Meinungen gar nicht kennen -, bleiben noch über 82,9 Millionen Meinungen übrig, die anders lauten können. Nämlich uns neutral oder uns sehr gewogen. Blödsinn? Klar, was interessieren uns die 83 Millionen, wenn uns doch die wenigen um uns herum am Herzen liegen? Doch wissen wir wirklich genau, was diese denken? Ich behaupte, wir können es nicht nie konkret wissen. Jedenfalls so lange, bevor wir unsere Annahmen von deren Gedanken nicht überprüfen, indem wir sie fragen. Ist dies nicht möglich, bleibt es eine Einbildung. Eine Fantasie unserer frühkindlichen Prägung. Und was unterscheidet dann deren Denken von dem der anderen Millionen, die uns egal sind? Doch gerade diesen paar von uns selbst ausgewählten und imaginierten „Gedanken-Influencern“ erlauben wir, uns unsere Kraft und unser Selbstvertrauen zu beeinflussen. Uns zu boykottieren! Wollen wir so bis ans Ende unserer Tage weiterleben?

Annehmen und Loslassen

Und wenn tatsächlich die anderen anderer Meinung sind, andere Ideen haben , sich über uns lustig machen , einen anderen Weggehen , uns verurteilen …?

Wir können lernen, diese Andersartigkeit anzunehmen. Als Ausdruck anderer Erfahrungen, Lebenswege, Werte und Bedürfnisse. Nichts weiter! Sie unterscheiden sich. Wie wir auch! „Let‘s agree to differ“ sagt eine englische Weisheit. Leider gibt es dafür keine ähnlich griffige Formulierung im Deutschen. „Wir einigen uns, dass wir uneinig sind“ könnte sie lauten. Dann haben wir immer noch die Möglichkeit, zu überdenken, ob wir die andere Auffassung vom gleichen Kontext, bzw. Teile von ihr, in unser Denken integrieren. Ob wir Neues probieren. Oder auch nicht. So kann es gelingen, sich auf Augenhöhe mit anderen zu entwickeln.

Unser Denken über das Denken anderer

Erleichternd können auch Fragen an uns selbst sein, angelehnt an die Methodik „The Work“ von Byron Katie, die wir uns ganz ehrlich beantworten:
Kann ich sicher davon ausgehen, das dies passiert? Zu 100% sicher? Was passiert, wenn ich an diesen Gedanken festhalte? Was, wenn ich sie nicht habe? Sind auch andere Reaktionsmöglichkeiten der Chefin denkbar?  In welchen ähnlichen Situationen haben sich meine Befürchtungen nicht bestätigt; was war anders? Wie kann ich mich auf die befürchtete Situation mit meinen Kräften, Ressourcen, Kompetenzen und Fähigkeiten vorbereiten? Auf diese Weise kann z.B. die Aussage von oben „Wenn ich das so mache, ist meine Chefin mir böse.“ überprüft werden. Wir erlangen neue Erkenntnisse zu unseren inneren Bildern.

So geben wir uns selbst unsere Selbstwirksamkeit zurück. Die Wahrheit gibt es sowieso nicht. Wir schaffen sie uns tagtäglich selbst. Dabei können die Gedanken anderer hilfreich sein oder hinderlich. Doch für unser eigene Zufriedenheit, für unser eigenes Glück und den eigenen Erfolg sind in erster Linie wir selbst zuständig! Und nicht das Denken der anderen.

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