Unangenehme Wahrheiten

Es ist traurig, aber wahr: Die meisten von uns haben im Laufe ihrer Karriere wahrscheinlich eines von mittlerweile ungezählten Rhetorik-Seminaren besucht, manche sogar mehrere. Was bei Seminaren zu Steuer- oder juristischen Themen undenkbar wäre, scheint hier gang und gäbe. Neben seriösen Anbietern, die fundiert arbeiten, tummeln sich Scharlatane, selbsternannte Päpste, Sprechtrainer, Logopäden, Psychologen, Schauspieler oder sogar Menschen, die nie eine Hochschule von innen gesehen haben. Dieses Tohuwabohu hat zwei Folgen: Zum Ersten wird der Begriff Rhetorik aufgeweicht und mit allen möglichen Inhalten gefüllt. Die zweite fatale Folge daraus: Jeder versteht unter Rhetorik etwas anderes.

Schauspielunterricht bleibt Schauspielunterricht

Manche „Rhetorik“-Trainer begreifen Rhetorik als die scheinbar richtige Sprechweise, die sich an der Bühnensprache, einer idealen Aussprache, orientiert. Andere suggerieren potentiellen Seminar-Teilnehmern, dass es bestimmte mimische und gestische Zeichen gäbe, welche einzustudieren seien, um mittels dieser nonberbalen Elemente beeinflussen zu können. In der Regel legen all diese Seminare einen Mythos ihrer Argumentation zugrunde, der seit seiner Entstehung an Attraktivität gewonnen hat:

Mythos 1: Die berühmten sieben Prozent.

Angeblich beruht die Wirkung gesprochener Sprache nur zu sieben Prozent auf dem Inhalt des Gesagten, der Rest geht auf Mimik und Gestik. Hier drei aktuelle Varianten des unausrottbaren Märchens:

„Ergebnisse der kommunikationspsychologischen Forschung zeigen, dass diese Eigenschaftszuordnungen, also die Ausstrahlung einer Person, nur zu etwa 7 % davon bestimmt werden, was jemand sagt…. Der Eindruck von einem Sprecher hängt nur zu einem geringen Teil davon ab, was er sagt.“ (Cornelia Gericke: Die Kunst zu überzeugen und sich durchzusetzen. Berlin, 2008, S. 11 f.) „Zur positiven Wirkung einer Person tragen zum Beispiel laut einer Untersuchung des Sozialpsychologen Albert Mehrabian vor allem drei Komponenten bei: Der Sprachinhalt mit erstaunlich geringen sieben Prozent.“ (Sabine F. Gutzeit: Die Stimme wirkungsvoll einsetzen. Weinheim / Berlin, 2003, S. 11)

„Worauf kommt es bei einer Präsentation an? Auf den Inhalt!, würden wohl die meisten antworten. Ein Irrtum, der sich hartnäckig auch in den Köpfen vieler Rhetoriktrainer hält. Man hat nämlich herausgefunden, dass den Zuhörern vom Inhalt einer Rede gerade mal magere sieben Prozent im Gedächtnis bleiben.“ (Mathias Pöehm, Präsentieren Sie noch oder faszinieren Sie schon? Heidelberg, 2006, o. Seitenangabe)

Die „Regel“, das „Gesetz“ über die sieben Prozent beruht auf zwei Experimenten, die der US-Amerikaner Merahbian 1967 mit Studenten durchführte. Diese sollten Ein-Wort-Sätze (im Original-Experiment z.B. „Really“, „Thanks“ oder „Honey“) verschieden sprechen und unterschiedliche Gestik verwenden. Aufs Deutsche übertragen führen wir den Versuch als Gedankenexperiment durch, indem wir ebenfalls Ein-Wort-Sätze mit unterschiedlichem Ausdruck bilden:

  • „Ja!“ (Jawohl, ich mach das und fang sofort an.)
  • „Ja.“ (Auch wenn es mich nervt, mach in den Fernseher aus.)
  • „Ja?“ (Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein?)
  • „Jaaa.“ (Na klar, wenn ich euch’s doch sage!)
  • „Ja?“ (Ist nicht wahr, das hat die Meiersche erzählt?)

Und so weiter und so fort. Im Jahr 2001, also bereits vor acht Jahren, haben sich zwei Spezialisten des Mythos’ angenommen und folgende Argumente gegen die sieben Prozent vorgebracht:

  1. Die Untersuchung bezieht sich auf Ein-Wort-Sätze und ist demnach nicht auf Sätze oder ganze Texte übertragbar.
  2. In der Kommunikationssituation werden „Extremgrade von emotionalen Einstellungen getestet“.
  3. Die Probanden sind dreißig Studenten in einer Laborsituation, die nicht der täglichen face-to-face-Komunikation entspricht. (vgl. Heinrich Lenhart / Stefan Wachtel: 7% Inhalt: Wie ein Virus entsteht, in: Dyck / Jens / Ueding: Rhetorik, Bd. 20, Tübingen, 2001)

Die Gründe, warum die sieben Prozent immer wieder auftauchen, liegen auf der Hand. Für Sprechtrainer, Schauspieler und Logopäden ist es natürlich ein gefundenes Fressen zu behaupten: Kümmert Euch nicht um den Inhalt, lasst uns an der Stimme, an Gestik und Mimik arbeiten. Für die andere Seite, die potentiellen Kunden, eröffnet sich ebenfalls eine bequeme Perspektive: Wenn ich „richtig“ spreche, im „richtigen“ Moment meine Stimme anhebe oder eine energische Handbewegung vollführe, werde ich überzeugen. Dieses Training wird mich daher weitaus weniger Kraft und Zeit kosten, als in einen überzeugenden Text zu investieren.

Mythos 2: Mittels rhetorischer „Kniffe“, „Tricks“ oder „Regeln“ kann ein gewiefter Rhetor überreden oder manipulieren.

Manipulation bedeutet: Ein Mensch ist in der Lage, andere mittels eines oder mehrerer Zeichensysteme zu einer Handlung oder zu einem bestimmten Denken zu bewegen. Als Beispiele werden aufgeführt: Werbung und Propaganda. Verschiedene Sozialwissenschaften haben mittlerweile die Manipulationsthese widerlegen können. Weil sich Manipulation gegen den Willen, gegen die Überzeugung, gegen Glaubensgrundsätze und individuelle Wahrheiten richtet, ist sie eben nicht möglich, schon gar nicht durch Sprache allein. Wenn Menschengruppen scheinbar manipuliert werden, dann handeln sie entweder parallel zu ihren Glaubensgrundsätzen und Intentionen, eben weil sie mit den dargestellten Inhalten übereinstimmen, oder widerwillig, weil äußere Machtfaktoren dies zum Beispiel als opportun erscheinen lassen. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass sie sich die Inhalte der „Manipulation“ zu Eigen gemacht hätten.

Aber in totalitären Systemen, da werden sie doch manipuliert, oder? In totalitären Systemen handeln Menschen, weil sie unter Druck stehen oder die Ideologie bzw. deren Vorstellungen und Werte teilen. Dies mag für alle schmerzlich sein, die nur wenigen Exponenten die Schuld in die Schuhe schieben wollen und dafür die Manipulationsthese bemühen, es ändert aber nichts an den Tatsachen.

Individuen verstehen individuell

Manipulation durch Sprache muss schon deswegen scheitern, weil ein Hörer immer individuell versteht und er das Gehörte ständig mit seinem individuellen Wissen, seinen Wünschen, Zielen und Ansichten in Beziehung setzt.

Ein letztes Argument, das gegen die scheinbar überragenden Möglichkeiten der Rhetorik spricht, resultiert aus dem Prozess des Textverstehens. Entgegen behavioristischer Kommunikations-Modelle aus den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts (die auch heute noch kursieren) funktioniert Kommunikation nicht nach dem einfachen Sender-Empfänger-Modell als Reiz-Reaktions-Kette, die wiederum den Nürnberger Trichter suggeriert: Ein Sender, der dem Empfänger die Informations-Pakete in dessen Black-Box pflanzt, auf dass dieser danach automatisch handeln möge. Kommunikation mittels Sprache ist hochkomplex und von vielen Faktoren abhängig, die einander auch noch beeinflussen. Hier nur die wichtigsten:

  1. Textproduzent: Seine Intentionen und Erfahrungen, sein Hintergrundwissen, sein Verständnis von den verwendeten Worten
  2. Kontexte: Kontext der Entstehung des Textes, Kontext der Weitergabe durch den Sprecher, Kontext der Aufnahme durch den Hörer
  3. Zuhörer: Seine Intentionen und Erfahrungen, sein Hintergrundwissen und Verständnis von den verwendeten Worten

Rhetorik ist Überzeugen nicht Überreden

Rhetorik ist entgegen einer weit verbreiteten und in diversen „Rhetorik“-Ratgebern dargestellten Meinung keine Kunst der Überredung, Beeinflussung oder gar Manipulation. Sie ist nicht von schlauen Menschen erdacht worden, um die hier dargestellten Ziele zu erreichen. Rhetorik ist eine Erfahrungswissenschaft, die versucht, sich im Alltag vollziehende schriftliche und mündliche Kommunikationsakte vom Standpunkt der Überzeugung aus zu klassifizieren und einzuordnen. Redner haben ihr Handwerk rückwirkend analysiert, klassifiziert und vervollkommnet.

Im klassischen Sinne besteht die Rhetorik aus folgenden Teilbereichen:

  1. Überzeugung (nicht Überredung!) des Kommunikationspartners (Techniken, um Ideen zu finden, Anordnung der Redeteile, sprachlicher Ausdruck der Gedanken, Merktechniken)
  2. Argumentation (Aufbau, Formen, Finden wirksamer Argumente)
  3. Umsetzung (Wahl der Wörter, Aufbau der Sätze, Struktur der Rede, rhetorische Figuren) (vgl. Ugo Volli. Semiotik, Tübingen / Basel, 2002: 270 ff.)

Allein an dieser sehr groben Einteilung wird schon deutlich, dass es mehr bedarf, als gewieft die Augenbraue hochzuziehen. Weil Kommunikation eben weitaus komplexer und manchmal auch komplizierter ist, werden keine zwei Tage Sprechtraining oder Schauspielunterricht genügen, um einen überzeugenden Monolog vorzubringen.

Um es ganz klar zu sagen: Mimik, Gestik und Sprechweise sind ebenso wichtig wie der Text selbst. Im Idealfall kommuniziert der Redner auf allen Kanälen parallel. Er kann aber weder durch Anheben seiner Stimme noch durch körperliche Zuwendung zum Publikum einen schlechten Text verbergen. Im Gegenteil: Wenn die gesprochenen Worte im Widerspruch zu Mimik und Gestik stehen, wirkt dieser Widerspruch auf den Redner selbst zurück und macht ihn unglaubwürdig. Das Gegenteil ist Ziel des Redners: Inhalt und Ausdruck bilden eine Einheit, denn nur so wird das Individuum als authentisch wahrgenommen und kann überzeugen.

 

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