Störungen bewusst wahrnehmen

Stell dir vor, du sitzt wieder im Meeting und diese Typen klauen deine Zeit. Nebensächliches, Unwichtiges, Banales, Unintelligentes, … beschallen dich. Ja, es kotzt dich an, gerne würdest du auf den Tisch hauen und dem Trauerspiel ein Ende bereiten. Doch wie macht man das geschickt? So, das eine konstruktive Zusammenarbeit auch weiterhin möglich ist? Antworten darauf liefert Philipp Karch.

Stell dir vor … Du sitzt – mal wieder – im Meeting. Eine Welt ohne Besprechungen, denkst du dir manchmal, das wäre was Feines. Dann könntest du ja mal richtig arbeiten. Aber nein, die Firma hat entschieden: Regelmäßiger Austausch im Team ist wichtig und richtig. Heute also das neunte Meeting der Woche, und Kollege Stefan ist mal wieder in Höchstform: Dieses Hölzchen und jenes Stöckchen, einmal von vorn, einmal von hinten betrachtet und am Ende noch ein kleines Schleifchen drum herum. Redundanz hoch drei. Und niemand sagt was. Effektivität geht anders, Effizienz auch. Der Typ klaut dir deine Zeit. Er spricht in dein Ohr, was dein Ohr nicht hören will: Nebensächliches, Kleinteiliges, Verwirrendes.

Es kotzt dich an. Ja, es kotzt dich richtig an. Am liebsten würdest du mit der Faust auf den Tisch hauen. Aber das tust du natürlich nicht. Du hast Angst vor den beruflichen Konsequenzen.

Logisch. Doch auch deine Untätigkeit hat Folgen: Sie lässt deinen Ärger kontinuierlich ansteigen. So weit, dass du glaubst jeden Moment vor Wut zu platzen. Kollege Stefan hat davon natürlich keine Ahnung und redet und redet, dass es dich geradezu körperlich schmerzt. »Lange wird das nicht mehr gut gehen«, sagst du dir. – Da endlich: die ersehnte Pause. Du ergreifst sofort die Gelegenheit für ein privates Gespräch mit Nora. Sie denkt ähnlich über Stefan, das weißt du genau. Und schon geht‘s los. Du lästerst, was das Zeug hält, und sie nickt und feuert dich an. Du spürst Freude und Erleichterung, denn geteiltes Leid ist halbes Leid. Du genießt die gemeinsame Hetze gegen den abwesenden Kollegen, auch wenn du vielleicht ganz leise so etwas wie Scham spürst. Trotzdem: Jetzt gerade tut es einfach gut und musste sein. Lästern als Ärger-Entladung. Was ist schon dabei? Doch dann die nächste Woche, das nächste Meeting. Stefan gibt wie immer alles. Und du verwandelst dich erneut in Darth Vader, suchst den Blick von Nora, hoffst auf Entlastung. Jedes Mal das gleiche Spiel.

Irgendwann hast du genug. Es kickt dich nicht mehr. Das bloße Lästern kann dich nicht mehr entlasten. Steigst du aus? – Nein, im Gegenteil: Du brauchst mehr. Wie ein Junkie, der die Dosis erhöhen muss, eskalierst du, ohne es zu merken. Eben noch im Stillen mit der Kollegin gelästert, beginnst du nun mit dem Bloßstellen. Denn jetzt möchtest du Stefan kränken. Und zwar vor allen. Also endlich raus damit in der Teamsitzung, was bisher nur Nora hören durfte: »Sag mal, Stefan, wirst du hier eigentlich nach der Länge deiner Redebeiträge bezahlt?«

Und damit hast du den Konflikt von Stufe 4 auf Stufe 5 angehoben. Bei insgesamt neun Eskalationsstufen ist das schon ganz beträchtlich. Was auf den einzelnen Stufen passiert und warum es wichtig ist, die innewohnende Dynamik von Konflikten zu kennen, erfährst du im nächsten Kapitel.

Theoretisch heißt das … Was sind Eskalationsstufen? Nach der Theorie des Organisations- und Konfliktforschers Friedrich Glasl, der 2017 mit dem Life Achievement Award der Weiterbildungsbranche für sein Schaffen ausgezeichnet wurde, können Konflikte bis zu neun Eskalationsstufen durchlaufen (Glasl 2002). Was als Verhärtung oft unbemerkt beginnt, kann sich so weit steigern, bis schließlich alle Beteiligten gemeinsam in den Abgrund stürzen. Aus einer harmlosen Interessenkollision kann ein handfester Krieg werden, den die Beteiligten bis zur Vernichtung des Gegenübers zu betreiben suchen. Diese typischerweise in jedem Konflikt lauernde Dynamik ist auch mit ein Grund dafür, warum geschäftliche wie private Partnerschaften scheitern, obgleich dieses zu Beginn der Auseinandersetzungen von keiner Seite gewollt worden ist. Wie es dazu kommt, zeigt die folgende Aufschlüsselung.

Die neun Eskalationsstufen im Überblick (nach Glasl)

Stufe 1: Verhärtung
Aufeinanderprallen unterschiedlicher Meinungen oder Verhaltensweisen. Beispiel: Andrea bemerkt, dass Nandor nicht (mehr) grüßt oder E-Mails nicht mehr weiterleitet.

Stufe 2: Debatte und Polemik
Sichtbarwerden des Konflikts (offene Streits). Beispiel: Bettina: »Was fällt dir ein?«; Markus: »Stell dich nicht so an!«

Stufe 3: Taten statt Worte
Rückzug der Beteiligten, die ihr Ding durchziehen, ohne miteinander zu reden. Beispiel: Bernd verschränkt die Arme und beschließt, nichts mehr zu sagen. Edda verlässt daraufhin lautstark den Raum.

Stufe 4: Sorge um Image und Koalition
Suche nach Verbündeten und Hineinziehen von Dritten (Allianzen). Beispiel: Thorsten beschwert sich über Annika beim Schulleiter; Annika über Thorsten beim Elternabend.

Stufe 5: Gesichtsverlust
(Öffentliches) Bloßstellen der Gegenseite durch Übergriffe aller Art (Vorwürfe, Provokationen etc.). Beispiel: Toni schaut demonstrativ auf die Uhr, als Mona zu spät zur Besprechung eintrifft. Mona ahmt Tonis verlegenen Gesichtsausdruck nach.

Stufe 6: Drohstrategien
Drohungen mit drastischen Konsequenzen. Beispiel: Walter kündigt an, nicht mehr an Meetings teilzunehmen, wenn Evi ihn noch einmal unterbricht; Evi droht an, sich beim Personalrat über Walter wegen Mobbing zu beschweren.

Stufe 7: Begrenzte Vernichtungsschläge
Erste Zerstörungsaktionen zur Ausschaltung des anderen. Beispiel: Jenny klaut oder löscht Unterrichtsmaterialien von Christian; Christian schlitzt die Reifen von Jennys Auto auf.

Stufe 8: Zersplitterung
Vernichtungsaktionen, um die Gegenpartei zu erledigen. Beispiel: Aneta sendet Drohbriefe an Klaus und macht Telefonterror.

Stufe 9: Gemeinsam in den Abgrund
Finale Vernichtungsschläge – auch zum Preis der Selbstvernichtung. Beispiel: Die Beteiligten führen lange, teure Gerichtsprozesse.

Bei seiner Untersuchung von Konfliktdynamiken hat Glasl folgende grundlegenden Dynamiken beobachtet:

  • Konflikte haben die Tendenz zu eskalieren (von 1 nach 9).
  • Nicht alle Konflikte durchlaufen alle Phasen, und nicht alle Phasen sind immer voneinander trennbar.
  • Elemente der früheren Phasen können auch in späteren Phasen auftauchen.
  • Beteiligte Parteien können sich auf unterschiedlichen Ebenen befinden.
  • Je weiter der Konflikt eskaliert, desto schwieriger ist es, ihn zu lösen (Stufen 1 bis 3: win-win; Stufen 4 bis 6: win-lose; Stufen 7 bis 9: lose-lose)

Wenn du dir das Durchlaufen aller neun Stufen an einem konkreten Beispiel betrachten möchtest und gerne Filme schaust, dann empfehle ich dir die Beziehungsdramen Der Rosenkrieg und Gott des Gemetzels.

Praktisch bedeutet das … Ich habe vier Anregungen für dich, wie du an deinen Wahrnehmungen, deinem Denken und deinem Verhalten arbeiten kannst:

Nimm die Lupe, nicht das Fernglas

Schule deinen Blick für Konfliktpotenziale. Egal, welche Rolle du gerade innehast, ob Moderator, Beobachter, Entwickler oder Umsetzer, sei immer auch Konfliktvorbeuger. Stell deine Antennen auf Empfang für alle erdenklichen Konfliktmerkmale, die dir das vorherige Kapitel vorgestellt hat. Behalte jederzeit die sechs Merkmale im Auge: die drei inneren (Worte, Stimme, Körpersprache), genauso wie die drei äußeren (Körper, Geist und Seele). Denn nur wenn du dich auf alle sechs Ebenen geeicht hast, kannst du sich anbahnende Konflikte in frühen Phasen wahrnehmen und ihnen entgegensteuern.

Benutze also Lupe, statt Fernglas, und mach es dir zur Aufgabe, schon die kleinsten Anzeichen von Unstimmigkeiten, Interessenskollisionen oder Antipathien zu erfassen.

Erkenne Lästern als Wendepunkt und Schwelle zum Destruktiven

Die ersten drei Stufen der Konflikteskalation, also Verhärtung, Debatte und Polemik sowie Taten statt Worte, sind noch nicht weiter kritisch und meist unvermeidbar. Denn da, wo Menschen zusammentreffen, kommt es früher oder später zwangsläufig zu Differenzen, und wo Unterschiede auftreten, gibt es Konflikte. Ob »Verhärtung« als Stufe 1, »Debatten und Polemik« als Stufe 2 oder »Taten statt Worte« als Stufe 3 – die Erscheinungsformen ähneln sich und sind nicht weiter tragisch. Gruppen können sich aus diesen Phasen in der Regel selbst befreien und wieder zu einem offenen, wertschätzenden und konstruktiven Miteinander zurückkehren.

Anders verhält es sich, wenn ein Konflikt bereits Stufe 4 erreicht hat, die Suche nach Allianzen und Koalitionen, wie im Fallbeispiel oben. Ab dieser Phase beginnt häufig eine gewisse Sog-Wirkung, hin zu den sich anschließenden höheren Stufen. Insofern kommt dieser vierten Phasen meines Erachtens eine besondere Bedeutung zu. Betrachte sie wie eine gefährliche Schwelle. Wer sie überschreitet, wird nur schwer zu den vergleichsweise harmlosen Stufen eins bis drei zurückkehren können. Wenn überhaupt. Viel wahrscheinlicher ist eine kontinuierliche Steigerung des Konflikts. Viele Menschen neigen zu einem Automatismus, einen Konflikt auf die Spitze zu treiben, wenn erst einmal die Stufen vier bis sechs erreicht sind (Stufe 4 »Suche nach Allianzen und Koalitionen«, Stufe 5 »Bloßstellungen«, Stufe 6 »Drohungen«).

Wann immer du also hinter ihrem Rücken schlecht über andere redest, sei dir bewusst, dass du ein riskantes Feld betrittst. Und umgekehrt: Wann immer jemand dein Ohr für sein Lästern nutzen möchte, überlege gut, ob du es ihm anbietest. Denn zum Lästern gehören immer mindestens zwei Personen. Also: Stell dir vor, es gibt ein Läster-Angebot, und keiner nimmt es an. Du hast die Wahl.

Verfolge gnadenlos den Grundsatz »Störungen haben Vorrang«

Dieser Grundsatz entstammt der Themenzentrierten Interaktion nach Ruth Cohn und anderen (www.ruth-cohn-institute.org/tzi-konzept.html). Stell dir vor, du sitzt mit deinen Kollegen in einem Workshop und spürst aufkommende Verstimmungen. Jetzt liegt es an dir: Hälts du die Klappe oder bringst du den Mut auf, deine Beobachtungen und Empfindungen offen anzusprechen? Eine schwierige Entscheidung. Wenn du dich für den ehrenhaften zweiten Weg entscheidest, wirst du dir nicht nur Freunde machen. Im Gegenteil. Denn wer aus der Gruppe wird es wohl begrüßen, die Sachebene zu verlassen, um auf der Beziehungsebene schwer greifbare Verstimmungen zu klären? Es passt nicht in unsere Leistungsgesellschaft, die Leitbilder Effektivität und Effizienz einfach über Bord zu schmeißen, nur weil jemand sich gerade nicht so gut fühlt. Das Leben ist schließlich kein Ponyhof.

In den meisten Fällen wirst du mit deinem Ich-möchte-mal-was-zur-Gruppenatmosphäre-sagen alleine sein. Und weil du wahrscheinlich keine Lust auf Ablehnung hast, wirst du vielleicht klein beigeben und eine innere Stimme in dir wird deine Sorge vor Eskalation unterdrücken. Verständlich. Einerseits.

Andererseits: Wie steht’s mit deiner Verantwortung? Ich möchte dich darin bestärken, die erwachsene Aufrichtigkeit zu wählen und anzusprechen, was du beobachtest hast. Vielleicht danken es dir manche gleich, andere vielleicht später – und womöglich auch niemand jemals. Was dir jedoch keiner nehmen kann, ist deine Integrität, in einem wichtigen Moment Verantwortung für die Gruppe übernommen zu haben und etwas Unpopuläres, aber Erfolgskritisches eingebracht zu haben.

Es geht in diesen heiklen Momenten nur vordergründig um dich und deine Anerkennung und Wertschätzung. Viel entscheidender ist aus meiner Sicht: Beuge höhere Eskalationsstufen vor und damit zugleich dauerhaften Zerwürfnissen in der Gruppe. Denn sind das bleibende Wohlergehen und – vor allem – die Arbeitsfähigkeit der Gruppe nicht wichtiger als der vorübergehende Verzicht auf Anerkennung? Wenn du dein Ego hintanstellen und das größere Ganze sehen kannst, dann gib Gas und überwinde dich. Der Stolz über deinen Mut und deine Unabhängigkeit wartet als Belohnung. Früher oder später. Und noch etwas wartet auf dich: Dein Selbstbewusstsein wird gestärkt, wenn du beobachten kannst, dass du auch so subtile und komplexe Prozesse, wie Gruppenprozesse und Teamentwicklungen, beeinflussen kannst. Du kannst also abwägen, was für dich besser ist: die kurzfristige Befriedigung des Bedürfnisses nach Anerkennung oder die langfristige Befriedigung des Bedürfnisses nach Leistung und Wirksamkeit des eigenen Handelns.

Lass das Kind nicht in den Brunnen fallen

Neben dem Ob gibt es auch die Frage nach dem Wann, dem passenden Moment. Denn Störungen irgendwann mal anzusprechen, reicht leider nicht. Sprich sie so früh wie möglich an. Getreu dem Motto: »Wehret den Anfängen«. Denn je später du ein Stopp-Zeichen sendest, desto schwieriger wird die Klärung. Und manchmal wird es sogar zu spät sein. Denn nicht alles, was zu Bruch gegangen ist, kann wieder repariert werden. Es ist wie beim Braten im Ofen: Wenn du das erste leise Zischen und den ersten zarten Qualm ignorierst, kann es schnell vorbei sein mit dem üppigen Abendessen. Denn was einmal verbrannt ist, kann nicht mehr entbrannt werden. Ein Zu-früh kann es nicht geben, ein Zu-spät schon.

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