Mit Anlauf auf die Fresse

Das Thema der ganzheitlichen Gesundheit bekommt zur aktuellen Zeit eine immer größer werdende Relevanz. Insbesondere wenn es um die psychische Gesundheit geht, wird es spannend. Allein die Zahl der psychisch bedingten Fehltage in Unternehmen hat sich in den letzten zehn Jahren in Deutschland knapp verdoppelt. Es gibt immer mehr Fälle von Burn-out, Depressionen, Angststörungen, Panikattacken, psychosomatischen Beschwerden, Verhaltensauffälligkeiten, Essstörungen oder auch Schlafstörungen. Und möglicherweise hängen all diese Themen miteinander zusammen und lassen sich gar nicht so einfach isoliert voneinander betrachten, wie es gerne gemacht wird.

Was will ich sein? Die Geschichte von P H I L

Ich würde mal behaupten, es gibt bestimmte Attribute, die wir in einer leistungsorientierten Gesellschaft fast alle von uns selbst erwarten. Um diese Attribute vorzustellen und deren Konsequenzen zu verdeutlichen, möchte ich eine kurze Geschichte erzählen. Anhand dieser Geschichte werden Sie sehr eindrücklich verstehen, was aktuell in Deutschland in Sachen Gesundheit passiert. Der Hauptdarsteller meiner kleinen Geschichte ist Phil – den habe ich mir ausgedacht. Denn PHIL ist ein Akronym. Jeder Buchstabe seines Namens steht für eine Eigenschaft, die er besitzt.

Das P steht für Perfektionismus. Phil hat sehr hohe Anforderungen und Erwartungen an sich selbst. Er will immer zweihundert Prozent geben. Sie können sich vorstellen: Jemand, der sehr hohe Erwartungen an sich selbst hat und perfektionistisch ist, der hat Angst davor, Fehler zu machen – denn wenn immer alles richtig sein muss, dann darf verständlicherweise niemals etwas falsch sein.

Das H steht für Harmoniebedürftigkeit. Phil möchte die Erwartungen der anderen möglichst immer restlos erfüllen, wenn nicht übersteigen. Er möchte es allen anderen recht machen und am liebsten auf allen Hochzeiten gleichzeitig tanzen. Sie ahnen es: Jemand, der sehr harmoniebedürftig ist, entwickelt durchaus so etwas wie eine Angst vor Kritik – denn er möchte ja den Erwartungen der anderen entsprechen und am besten niemanden jemals enttäuschen.

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Das I steht für Intelligenz. Ich denke, wir können an dieser Stelle festhalten: Wir haben in Deutschland sehr viele intelligente und intellektuelle Menschen – wir haben, weltweit verglichen, ein sehr gutes Bildungssystem. Auch Phil ist ein intelligenter Mensch, der ein gutes Bildungssystem genießen durfte, er hat einen guten Lebenslauf, gute Qualifikationen und wahrscheinlich auch eine gute Position in einem guten Unternehmen.

Das L steht für Leistungsstärke. Das bedeutet: Phil zieht sein Selbstwertgefühl aus seiner Leistung. Wenn er funktioniert, viel leistet und gute Ergebnisse erzielt, dann fühlt er sich wertvoll. Wenn er aber nicht so gut funktioniert, einen Fehler macht oder mal krank und schwach ist, dann fühlt er sich schlimmstenfalls wertlos. Sein Selbstwertgefühl ist nicht bedingungslos, sondern an seine Leistung gekoppelt. Möglicherweise ist dieser Zustand bei uns fast selbstverständlich geworden – dass wir uns nur dann wertvoll fühlen, wenn wir glauben, es verdient zu haben. Ich gehe davon aus, dass sich die meisten Menschen sehr gerne mit diesen Attributen identifizieren. Wir sind gerne perfektionistisch und geben dies sogar gerne als eigene Schwäche zu. Wir sind auch gerne harmoniebedürftig, da wir schließlich soziale Wesen sind und Wertschätzung, Lob und Sympathie ernten wollen.

Wir bezeichnen uns auch gerne als intelligent – ich glaube, wir alle kennen keinen Menschen, der nicht von sich überzeugt ist, intelligent zu sein, oder?

Der letzte Aspekt jedoch, das L, bedarf besonderer Aufmerksamkeit. Der letzte Aspekt ist die Leistungsstärke. Ich denke, auch die Bedeutsamkeit dieses Attributs können die meisten Menschen sehr gut nachvollziehen: Wenn wir Gutes leisten und perfekt funktionieren, dann fühlen wir uns gut, fühlen uns wertvoll, ist alles in Ordnung. Wenn wir aber mal nicht so gut funktionieren, Fehler gemacht haben oder schwach sind, dann fühlen wir uns richtig elend. Dann können wir uns am Abend nicht einmal im Spiegel betrachten, dann verurteilen wir uns selbst: Nicht gut genug, nicht perfekt genug – dann erlauben wir uns nicht, zufrieden zu sein und hassen uns teilweise selbst.

Motiviert bis zum Umfallen

Nehmen wir also an, Phil ist in einem Unternehmen beschäftigt und hat eine sehr gute Position. Wahlweise ist dieselbe Geschichte übrigens auch im Kontext »Familie« anwendbar, denn auch in Familien gibt es diesen PHIL-Charakter. Nehmen wir also einmal an, in der Familie oder im Unternehmen gibt es eine Aufgabe zu verteilen. Alle anderen Beteiligten wissen sehr gut, wie Phil üblicherweise tickt und dass er normalerweise immer alles macht: Wer wird bei der Aufgabenverteilung wohl üblicherweise als Erstes gefragt?

Genau, logischerweise Phil, weil der macht es immer perfekt und sagt auch immer »Ja«. Phil ist also die erste Wahl. Und Phil freut sich auch darüber und nimmt die Aufgabe sehr gerne an, denn er ist ja harmoniebedürftig. Er freut sich darüber, es anderen Leuten recht zu machen – er könnte nämlich für die Bewältigung dieser Aufgabe ein Lob und ein Zeichen der Wertschätzung bekommen. Ein Lob zu bekommen, ist für einen harmoniebedürftigen Menschen etwas unglaublich Tolles – wie der Himmel auf Erden. Das ist wie früher, wenn Papa oder Mama gesagt haben: »Das hast du gut gemacht« – da wird einem ganz warm ums Herz!

Mit der Aussage »Ich mache das! Ich schaffe das!« kann er sein Selbstwertgefühl puschen: Schließlich definiert er sich über seine Leistungsfähigkeit und bezieht hierüber sein Selbstwertgefühl.

Da Phil perfektionistisch ist, steckt er zweihundert Prozent in diese ihm zugeteilte Aufgabe hinein. Am Ende liefert er, wie erwartet, wieder ein perfektes Ergebnis ab – und hört von allen Seiten: »Das hast du super gemacht.« Er wird zum Mitarbeiter des Monats gekürt, bekommt den besten Firmenwagen, kassiert Bonuszahlungen und wird von allen gefeiert. Bis hierhin klingt Phil wie ein Superheld – wie der immer abrufbare High-Performer oder auch wie der berühmte Eve­ry­bo­dy’s Dar­ling.

»Wow, was für ein Mensch«, sagen seine Kollegen, »bester Mitarbeiter!«

Und an dieser Stelle sind viele von uns sogar neidisch auf Phil, oder? Weil so wären wir doch auch gerne.

Okay, spielen wir das Spiel weiter und beobachten wir einmal, ab wann es möglicherweise kritisch wird. Nehmen wir mal an, es gibt nicht nur die eine Aufgabe zu verteilen – sondern es gibt von unterschiedlichen Personen viele weitere Aufgaben zu verteilen: Aufgabe 2, Aufgabe 3, Aufgabe 4, Aufgabe 5. Und da jeder der Aufgabengeber Phil und seinen guten Ruf kennt, wird auch hier immer er als Erstes gefragt.

Eigentlich ist diese Fülle an Aufgaben viel zu viel Arbeit für eine Person, doch das Problem ist: Aufgrund seiner Harmoniebedürftigkeit ist »Nein« zu sagen für Phil keine Option. Er möchte ja nicht kritisiert werden, möchte ja niemanden enttäuschen, möchte die Erwartungen an ihn erfüllen und am liebsten für seine Arbeit gelobt und wertgeschätzt werden: Also sagt er aus seiner Harmoniebedürftigkeit heraus zu allen Aufgaben »Ja«.

Zu sagen »Ich schaffe das nicht«, wäre für Phil außerdem ein Eingeständnis von Schwäche. Dadurch, dass er sein Selbstwertgefühl von seiner Leistungsstärke abhängig macht, würde es sein Selbstwertgefühl herunterdrücken, müsste er eine Aufgabe ablehnen: Deswegen nimmt er auch aufgrund der Abhängigkeit von seiner Leistungsstärke alle Aufgaben an.

Da er außerdem so perfektionistisch ist und jede Aufgabe zu mindestens einhundert Prozent lösen möchte, steckt er nun unglaublich viel Energie in jede dieser Aufgaben hinein – da er fünf nicht gerade sein lassen kann. Das Einzige, was für Phil jetzt interessant ist, ist logischerweise Effizienz, Effizienz, Effizienz! Wir sind alle sehr stolz auf unsere Effizienz und auch Sie kennen vermutlich ihre eigene Effizienz-Affinität.
Das Problem ist: Wenn ein Mensch nur noch auf Effizienz aus ist, lässt sich das mit Gesundheit nicht vereinbaren.

Wer nur auf Effizienz aus ist, der wird so etwas sagen wie: »Schlafen kann ich, wenn ich tot bin – das ist ja Zeitverschwendung!« (Im Alter von achtzig Jahren werden Sie in etwa zweiundzwanzig Jahre mit Schlafen verbracht haben.) Auch Aussagen wie »Pausen brauche ich nicht zu machen« passen zu dieser Einstellung. Wussten Sie, dass circa sechs von zehn Mitarbeitern ihre Mittagspause nicht vollständig in Anspruch nehmen?

Menschen, die nur an ihre Effizienz denken, bevorzugen gerne auch so etwas wie Multitasking: Sie arbeiten beim Essen oder sprechen dabei über die Arbeit – so wird das Mittagessen plötzlich zum Meeting. Sie rauchen beim Autofahren oder telefonieren gleichzeitig noch – Autofahren erscheint ihnen generell effizienter als mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren, Fahrstuhl zu fahren effizienter als die Treppen zu laufen. Ob Rolltreppe oder Fast Food – es ist sehr verlockend, immer wieder die zeitsparende Option zu bevorzugen.

Sie kennen solche Aussagen wie: »Ich habe keine Zeit zum Kochen, ich habe keine Zeit für Bewegung, ich habe keine Zeit für Entspannung, ich habe keine Zeit für Schlaf.« Der Ausspruch »Ich habe keine Zeit« kann dabei ein Ausdruck von Leistungsstärke sein. Auch die Aussage »Ich bin gestresst« kann für manche Menschen ein Ausdruck von Leistungsstärke sein.

Stellen Sie sich einmal vor, eine Führungskraft würde sagen: »Ich bin relativ entspannt mit meinem Job« – da würde jeder andere doch sagen: »Warum verdient der dann so viel Geld? Es heißt doch Geld verdienen. Der muss doch bluten für sein Geld.« Denn das wäre doch ungerecht, wenn jemand, der mehr Geld verdient, weniger gestresst wäre, oder? Es heißt schließlich auch »No pain, no gain« oder »Work hard, play hard«.

Erst die Arbeit – dann das Vergnügen: Demnach kann es doch gar nicht sein, dass Vergnügen und Arbeit gleichzeitig stattfinden, oder etwa doch? Spüren Sie in sich hinein. Muss Arbeit immer anstrengend sein? »Eine gute Partnerschaft ist Arbeit« – auf diese Art nutzen wir den Begriff der Arbeit auch im Alltag. Doch heißt das automatisch, dass eine gute Partnerschaft auch anstrengend sein muss? Muss Arbeit immer anstrengende Arbeit sein?

Doch gerade im Kontext der Arbeit gehört keine Zeit zu haben zum guten Ton. Denn es signalisiert Leistung, Disziplin und Anstrengung.

Es gibt einen Grund, warum viele Mitarbeiter und gerne auch Führungskräfte tendenziell nie bei Veranstaltungen zum Thema Gesundheit anzutreffen sind. Denn um es mal auf gut Deutsch zu sagen: »Die haben für so einen Quatsch wie Gesundheit keine Zeit. Die haben Besseres zu tun – als sich von einem Körnerfresser sagen zu lassen, was sie zu tun und zu lassen haben. Das machen doch nur Schwächlinge und Dumme.« Und am besten steht im Seminar über gesunde Ernährung auch noch eine Frau Mitte dreißig, die Assoziationen aufwirft wie: »Eine Mischung aus meiner Frau und meiner Mutter, die mir jetzt schon wieder sagt, dass ich mal einen Apfel essen und weniger saufen soll.«

Sie merken: Phil ist von der Grundmentalität her so ein Mensch, der sagt: »Wer noch lacht, hat noch Kapazitäten.«

Dies ist jedoch durchaus auch eine Frage der gesamten Unternehmenskultur und wird gerne durch diese gefördert. Normalerweise sagen Leute zur Mittagszeit so etwas wie »Ich geh mal kurz/schnell eine Kleinigkeit essen.« Wenn jemand sagen würde: »Ich geh mal ausgiebig mein Mittagessen genießen«, dann würde jeder andere sagen: »Sag mal, hast du keine Aufgabe, oder was?« – Je mehr Phils, desto spannender wird’s.

Ja, Gesundheit wird in vielen Unternehmen eher geduldet, als dass sie um ihrer selbst willen wirklich erwünscht ist. Denn in erster Linie geht es eher darum, dass die Mitarbeiter möglichst schnell und perfekt ihre Arbeit erledigen und den Gesundheitsquatsch in ihr Privatleben verfrachten.

Entschuldigen Sie an dieser Stelle bitte diese klaren Worte, doch es ist wichtig, hier eine Sprache zu wählen, welche die Haltung der Menschen widerspiegelt, denen ich in meiner Arbeit begegne. Denn es geht an dieser Stelle um gerade diese Haltung, die hinter solchen Aussagen steckt. Wenn ich als Gesundheitsexperte zum Beispiel im Rahmen von betrieblichem Gesundheitsmanagement einen Vortrag zum Thema »Schlaf oder Ernährung« halte – passiert manchmal Folgendes:

Die Menschen, die an diesem Vortrag teilnehmen, werden nicht selten von ihren Kollegen dafür ausgelacht, dass sie dort hingehen – so nach dem Motto: »Macht ihr dort schon wieder Nickerchen oder schmiert euch Pausenbrote?« Obwohl es hierbei teilweise um ernst zu nehmende Schlafstörungen geht, werden teilnehmende Menschen von ihren Kollegen dafür belächelt.

Und spätestens dann, wenn Mitarbeiter von ihren Kollegen dafür belächelt werden, dass sie Hilfe in Anspruch nehmen – dann haben wir ein großes Problem! Denn dann wird die Entscheidung, nach Hilfe zu fragen, belächelt! Hilfe in Anspruch zu nehmen ist dann ein Zeichen von Schwäche.

Denn für einen Menschen wie Phil ist die Entscheidung, nach Hilfe zu fragen, ein Eingeständnis von Schwäche und damit keine Option. Phil fällt es schwer, nach Hilfe zu fragen, oder auch Hilfe anzunehmen – unabhängig davon, ob er sie braucht. Es fällt ihm schwer, da er glaubt, es sei schwach, Hilfe anzunehmen. Einen Fehler zugeben? Schwäche eingestehen? No way!

Phil beißt sich also durch. Er zeigt Stärke und hat durch seine narzisstischen Tendenzen in unserer Gesellschaft sogar eine recht große Chance, eines Tages eine Führungskraft zu sein. Er funktioniert wie eine Maschine, er macht, er macht, er macht. Er wird also tendenziell auch unbezahlte Überstunden machen.

Wir verschenken in Deutschland im Durchschnitt jedes Jahr circa eine Milliarde unbezahlte Überstunden. Phil wird jemand sein, der tendenziell trotz Erkrankung/krank zur Arbeit geht. Ein typisch deutscher Satz an dieser Stelle:

»Ich darf nicht krank werden, ich muss ja arbeiten.«

Er wird jemand sein, der tendenziell keine Zeit hat für sich und seine Bedürfnisse und den Workaholic-Lifestyle lebt. Er wird am Wochenende arbeiten, für seine Familie, Partner, Freunde und Kinder wahrscheinlich ebenfalls wenig Zeit und Aufmerksamkeit haben und er wird auch nach Feierabend erreichbar sein. Wussten Sie, dass neun von zehn Mitarbeitern auch außerhalb ihrer Arbeitszeiten erreichbar sind?

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