Wenn wir uns die aktuellen Ernährungstrends und Diskussionen über Ernährung anschauen, dann ist die Überschneidungsfläche zu gestörtem Essverhalten möglicherweise sehr groß.
In den Sozialen Medien beobachtet man immer mehr Ernährungsformen in allen Facetten und Farben. Ob Paleo, vegan oder Low Carb, um mal die bekanntesten an dieser Stelle zu erwähnen Hauptsache extrem. Der häufig zitierte Vergleich zur Ernährungsreligion, die häufig dogmatisch, identitätsstiftend und moralisierend verkündet wird, ist für viele Menschen inzwischen naheliegend.
Die Durchschnittsdiät: Ausgewogene Ernährung
Dabei wissen die meisten Ernährungswissenschaftler: Wenn wir sämtliche in den Medien diskutierten Ernährungsformen in einen Topf schmeißen und umrühren würden, dann hätten wir eine ganz normale, ausgewogene Ernährung. Aber normal und Normalität ist nun mal uninteressant geworden und nicht ausreichend sensationell.
Es gibt viele Menschen, sogar beziehungsweise insbesondere unter Kollegen im Gesundheitssektor, die haben schon sämtliche Ernährungsformen ausprobiert, aber das Einzige, was für sie keine Option ist, ist eine normale, ausgewogene Ernährung.
Es ist sehr bezeichnend, dass auch ich als Ernährungsfachkraft jahrelang stark essgestörte Tendenzen in mir getragen habe – denn auch ich habe sämtliche Diäten und Ernährungsformen in meiner Vergangenheit durchlebt. Wenn wir also aufhören, Ernährungsformen und Diäten miteinander vergleichen zu wollen, um die beste herauszufinden, sondern allgemein hinterfragen, warum es immer mehr Ernährungsformen und -extreme gibt, dann bekommen wir möglicherweise sinnvollere Antworten auf die Frage nach einer ganzheitlichen Gesundheit.
Was passiert also in einem extremen Ernährungsverhalten?
Wenn ich mich beispielsweise dazu entscheide, mich nach einer gewissen Ernährungsform zu ernähren – zum Beispiel Low Carb – und in einem der vielen Foren ein entsprechendes Foto poste, dann habe ich in kürzester Zeit eine riesige Community, die mir sagt »Du gehörst zu uns« und mich in meinem Verhalten bestätigt und bestärkt. Durch die Bekennung zu Low Carb wird das Gefühl von Zugehörigkeit sofort bedient.
Ich bin in diesem Falle sogar etwas Besonderes, wenn ich sage: »Ich mache jetzt Paleo« – ich bekomme Anerkennung, bin außergewöhnlich und kann mich distanzieren von dem langweiligen Normalen.
Der Gedanke, der dahintersteckt, ist: Ich ernähre mich besonders, weil ich besonders bin. Wir haben die Tendenz hin zum Extremen mit einem angenehmen Beigeschmack der Selbstoptimierung.
Die vegane Ernährung ist aus ethischen Gründen interessant, denn sie beinhaltet häufig auch den Aspekt der moralischen Überlegenheit. Ganz nach dem Motto: Ich bin ein besserer Mensch als du, denn ich achte auf die Tiere und du Arschloch tust es nicht. Auch das kann eine selbstwertstiftende Haltung sein.
Ich halte es für sehr sinnvoll, die ethischen und ökologischen Aspekte des Konsumverhaltens zu hinterfragen. Nachdenklich werde ich jedoch dann, wenn offensichtlich wird, dass die Intention hinter gewissen Mustern eine andere ist als die, die im Rampenlicht angegeben wird. Und hellhörig werde ich insbesondere dann, wenn jemand versucht, einem Extrem das Etikett »gesund« aufzulegen, wenn für mich gleichzeitig klar ist, dass sich in den Extremen die meisten psychischen Erkrankungen (mit resultierenden, zwanghaften Verhaltensweisen) wiederfinden. Denn weder vegane Ernährung noch Low Carb noch Paleo hat irgendetwas mit Gesundheit zu tun. Vor hundert Jahren schon hat man sich von anderen Menschen und Gruppen über das Konsumverhalten distanzieren können, indem man sagte: »Ich kann mir Fleisch leisten und du kleiner Mann kannst es nicht«, »Ich bin besser als du, denn ich kann mir Wein leisten, und du musst Bier trinken«.
Daher der Ausdruck: »Bier auf Wein, lass das sein … Wein auf Bier, das rat ich dir.« Es ist ein Ausspruch über den sozialen Status: Wein auf Bier ist ein symbolischer sozialer Aufstieg, Bier auf Wein ein symbolischer sozialer Abstieg.
Heute hat die Selbstdarstellung über den Konsum ein nie da gewesenes Ausmaß angenommen, welches starke emotionale Diskussionen mit sich bringt, die spannender- und logischerweise an Religionskriege erinnern.
Sie erinnern sich: In den Extremen haben wir immer die Störungen. In allen Ernährungsextremen haben wir demnach eine hohe Dunkelziffer von Essstörungen. Ja, auch Bodybuilding als Essstörung zu bezeichnen, ist durchaus legitim. Sich nach ganz bestimmten Verhaltensmustern zu verhalten, gibt ein Gefühl von Kontrolle, Struktur und Sicherheit. Das Problem an dieser Stelle ist: Essen wird funktionalisiert – der Kopf übernimmt die Kontrolle, die Kontrolle über sich, über das eigene Verhalten und über den eigenen Körper.
Nehmen wir nochmals Phil als Musterbeispiel für Effizienz und Selbstoptimierung, der für Gesundheit keine Zeit hat, jedoch immer leistungsfähiger sein möchte.
Anhand von Phil lässt sich sehr gut beurteilen, was aktuell auf dem Gesundheitsmarkt so passiert. Denn wenn überall von Gesundheit gesprochen wird, stellt sich die Frage: Wer redet denn hier noch wirklich darüber, gesund zu sein? Geht es nicht vielmehr nur noch ums Abnehmen und den Sex-Appeal?
Diäten sind in unserer Gesellschaft ein Dauerbrenner
An dieser Stelle ist es sehr sinnvoll zu hinterfragen, warum jemand tatsächlich abnehmen möchte. Geht es wirklich um die Gesundheit? Oder geht es vielmehr um den Aspekt der Ästhetik?
In meiner Zeit als Ernährungsberater habe ich die Erfahrung gemacht, dass über neunzig Prozent der Menschen, die abnehmen wollten, im Grunde nicht beunruhigend übergewichtig waren. Die meisten Menschen, die Diäten machen, sind gesund, glauben jedoch, nicht gut genug, nicht schön genug oder nicht dünn genug zu sein.
Bei der Frage »Ästhetik oder Gesundheit – worum geht es dir in erster Linie?« ist die Antwort fast immer »Ästhetik«.
Ästhetik hat also auch im Themenkomplex Gesundheit einen größeren Stellenwert als die Gesundheit selbst. Es sind häufig diese fünf bis zehn Kilo, die jemand abnehmen will, um endlich einen flachen Bauch zu haben.
Ich wette mit Ihnen: Wenn ich Ihnen eine Pille verkaufen könnte, dank der Sie innerhalb von einer Woche ihren Traumkörper hätten, aussähen wie Mitte zwanzig und nicht mehr schlafen müssten: Den meisten von Ihnen wäre es scheißegal, ob dies gesund ist oder nicht!
Und warum ist das so? Weil Zugehörigkeit und Anerkennung einen größeren Stellenwert als Vernunft haben. Wir reden also bei Menschen, die fünf bis zehn Kilo abnehmen wollen, eher über ein Selbstwertproblem, da diese Menschen sich so, wie sie sich im Spiegelbild sehen, nicht aushalten. Fünf bis zehn Kilo weniger: Dann kann ich mich und meinen Körper endlich so akzeptieren, wie er ist.
Wenn man Menschen im Alter von unter vierzig Jahren, die noch keine gesundheitlichen Beschwerden haben, fragt: »Worum geht es dir beim Sport?« – Dann ist die Antwort »Gesundheit« eine Lüge! Denn es geht fast immer um Sex-Appeal, ums Sexysein für eine potenzielle Partnerschaft oder fürs Bett.
Attraktiv zu sein oder einfach nackt gut auszusehen ist wichtiger als Gesundheit. Auf dem Weg dorthin benötigen wir immer wieder Reize, die uns unser Ziel nicht aus den Augen verlieren lassen. Viele Klienten haben in meiner Zeit als Personal Trainer von mir erwartet, dass ich ihnen im übertragenen Sinne in den Arsch trete, damit sie sich bewegen. Der Wunsch, dabei schnell abzunehmen, triggert unsere Ungeduld. Manchmal wünschen wir uns einen Personal Trainer, der uns sagt, dass wir hässlich und schwach sind. Wir wollen manchmal beschimpft werden, da wir uns selbst als ekelhaft empfinden. Selbst auf großen Fitnessmessen arbeiten große Fitnessmarken mit Werbesprüchen wie: »Gut genug ist nicht genug.« Es spricht Menschen an, weil es das Gefühl von »nicht genug sein«, »noch nicht dünn genug«, »noch zu wenig Sixpack«, »ich bin noch unzufrieden mit meinem Körper und meinem Aussehen« triggert.
Und hoch bezahlte Motivationstrainer stehen auf den großen Bühnen der Welt mit Aussagen wie: »Akzeptiere niemals den Status quo.« In den Extremen haben wir den Perfektionismus und die Intoleranz gegenüber der Normalität.
Frédéric Letzner steht für provokantes Gesundheitsmanagement. Der Experte für Ernährungs- und Gesundheitspsychologie bricht mit seinen Vorträgen frisch, amüsant und ehrlich Tabus und rückt so manchen Gesundheitsmythos gerade. Gekonnt hält er seinen Zuhörern den Spiegel vor und schärft das Bewusstsein für das, worauf es im Leben wirklich ankommt.