Macht und Extraversion

Warum bevorzugt unser Gesellschaft eigentlich die Exravertierten. Überwiegend sind Funktionen die mit Macht ausgestattet sind von Extravertierten besetzt. Warum ist das so? Sind etwa extravertierte Menschen eher an Macht interessiert als die Introvertierte Spezies? Oder üben introvertierte Menschen ihre Macht anders aus? Erste Antworten darauf liefert Ihnen die Psychologin Chris Wolf.

Worum geht’s? Macht und Extraversion oder Introversion – wie ist der Zusammenhang? Sind Extravertierte eher an Macht interessiert? Nutzen sie Macht anders? Gehen sie andere Wege, um Macht zu vermehren? Spannende Fragen, die nicht endgültig geklärt werden können, doch lohnt das persönliche Reflektieren!

Wie immer muss man zuerst klären, was man genau meint, bevor man darüber spricht oder schreibt. Was ist eigentlich Macht? Das ist gar nicht so einfach zu klären! Für unser Thema mag eine einfache und pragmatische Sichtweise genügen: Unter Macht kann man die Möglichkeit verstehen, Prozesse und Strukturen auch gegen Widerstände gestalten zu können. Dabei erscheint es sinnvoll, die Begriffe Dominanz und Einfluss als wichtige Facetten von Macht differenziert zu betrachten:

  • Einfluss meint, dass man zielgerichtet und mit Ergebnis mitwirken kann, egal aus welcher Position.
  • Dominanz hingegen fokussiert auf die überlegene Position, Ranghöhe oder Status, welche per se Machtausübung erlaubt.

Beides sind sehr unterschiedliche Aspekte, die für das Verständnis von Macht essenziell sind. Für ausführlichere grundsätzliche Betrachtungen empfiehlt sich Greene (1999): Die 48 Gesetze der Macht.

Introvertierte haben mutmaßlich das gleiche Interesse an Einfluss wie Extravertierte. Es zeigt sich ja immer wieder, das besonders Introvertierte ihre inhaltlichen Interessen vehement verfolgen und sich extrem für ihre Themen engagieren. Kennen Sie das von sich auch? Im Alltag zeigt sich, dass Einfluss mit Visibilität zusammenhängt (siehe Kapitel 5.2 Visibilität – leise auffallen). Insofern ist das Streben nach introversionsgerechter Visibilität wichtig, um Einfluss nehmen zu können.

Anders sieht es hingegen mutmaßlich mit dem Streben leiser Menschen nach Dominanz aus: Es dürfte weitaus weniger ausgeprägt sein. Zu genau dieser Frage war leider keine empirische Arbeit zu finden, gewiss sind sämtliche angesprochenen Parameter auch nicht eben einfach zu messen. Gehen wir daher für den Moment davon aus, dass diese plausible Vermutung zutrifft: Introvertierte Menschen wünschen sich Einfluss, aber nicht so stark Macht via Dominanz.

Extravertierte hingegen fokussieren stärker auf beide Anteile und sind dabei definitionsgemäß lauter. Lautstärke schafft aber zwangsläufig gehört zu werden. Damit ist sie per se ein Macht erhaltender Faktor. Dieser Argumentation folgend sind Introvertierte bezüglich Machteinsatz deutlich benachteiligt. Ein kürzlich erschienenes Büchlein mit Aphorismen von Mark Twain karikiert dies mit dem schönen Titel: Lautstärke beweist gar nichts (Twain 2013).

Im Folgenden werden Sie Hinweise darauf erhalten, wie gerade leise Menschen wirksam kommunikative Mittel einsetzen können, die die mangelnde Lautstärke im Sinne Mark Twains mehr als kompensieren.

Machtinteresse als legitimer Motivationsanteil

Das Interesse an Macht ist legitim und normal. Ich möchte dies am liebsten noch einmal schreiben: Das Interesse an Macht ist legitim und normal.

In unserer Gesellschaft wird der Begriff hingegen häufig tabuisiert. Macht ist kein Tischgesprächsthema! Das ist bedauerlich und hinderlich, da es oft die Diskussion über ein ausgeprägtes und völlig normales Motiv des Handelns erschwert. Wer sagt schon von sich: ›Ich wünsche mir mehr Macht.‹ oder ›Macht ist ein Grund, warum ich einen Führungsjob ausüben möchte‹? Natürlich sind diejenigen Menschen, die sich Einfluss und Gestaltungsspielräume wünschen, auch an Macht interessiert. Der Zusammenhang ist ja so eng, dass es gar nicht anders vorstellbar ist. Es ist speziell für den Introvertierten, der oft gerade nicht so wirkt, als habe er eine starke Machtmotivation, wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, wie viel Macht er sich wünscht, im Sinne von Einfluss oder Position. Und darüber darf und kann man nachdenken und darüber kann und sollte man reden.

Wenn man sich Theorien über Motivation ansieht, fällt einem natürlich direkt auf, dass Macht gar nicht wegzudenken ist. So unterscheidet etwa McClelland drei zentrale Motivgruppen: Leistungsmotivation, Machtmotivation und soziale Anschlussmotivation. (McClelland/Winter 1969) und in anderen Motivationstheorien finden Sie Ähnliches.

Introvertierte sind es nur oft nicht gewohnt, über sich selbst in Termini von Macht oder Einfluss nachzudenken, weil sie sich ja ohnehin zurückhalten, wenn Macht etwa in Form von Positionen verteilt wird. Das ist natürlich eine sehr eingeschränkte Sichtweise! Wer Gestaltungsspielräume möchte, wegen seines leidenschaftlichen Bezuges zu den Zielen und Inhalten seiner Arbeit, der kann die Frage nach Macht nicht elegant ignorieren.

Einfluss ist nur mit Macht möglich. Man kann über die Machtmittel nachdenken und die Überzeugungsmethoden ethisch nutzen, die einem zur Verfügung stehen. Man sollte etwas über Machtmissbrauch wissen, um den Missbrauch aus Täter- und aus Opfersicht zu vermeiden. Es ist kein Zufall, dass die Namen einiger besonders erfolgreicher Politiker (zum Beispiel Barack Obama oder Abraham Lincoln, vergleiche Kapitel 4.3 Introvertierte bekannte Persönlichkeiten auf Seite 75) immer wieder fallen, wenn man über Introversion diskutiert. Offenbar ist es möglich, Mechanismen zu identifizieren und zu erlernen, die dem Leisen guten Umgang mit Macht ermöglichen. Ich glaube, dass ein erster und wichtiger Schritt auf diesem Weg darin besteht, zu sich zu stehen und anzustreben, seine eigenen Wege zu finden, wenn die Wege der Extravertierten uns möglicherweise nicht angenehm sind. Wer genau weiß, wie er wirken kann, braucht sich um Macht keine Sorgen zu machen. Ich plädiere dafür, hier bewusst und gründlich und ohne Tabus nachzudenken. Es hilft nichts, sich vornehm und introvertiert zurückzuhalten, wenn es um das Thema Macht und vor allem Einfluss geht und später zu leiden, weil einem der gewünschte inhaltliche Einfluss fehlt.

Warum unsere Gesellschaft die Lauten meistens bevorzugt

»It makes sense that so many introverts hide even from themselves. We live with a value system that I call the Extrovert Ideal – the omnipresent belief that the ideal self is gregarious, alpha, and comfortable in the spotlight.«

Susan Cain (Autorin zum Thema Introversion)

Aktuell kursieren im englischsprachigen Raum und zunehmend auch in Deutschland nahezu zahllose Publikationen und Texte im Web über Introvertierte und deren Besonderheiten. Besonders Blogs scheinen eine Form zu sein, die für Introvertierte besonders attraktiv ist! Gemeinsam ist den meisten Texten (vergleiche Literaturverzeichnis oder führen Sie eine aktuellen Google-Suche durch, Sie werden überrascht sein über die Anzahl spannender Links, die Sie erhalten!), dass sie begründet vermuten und diskutieren, dass unsere Gesellschaft Extravertierte deutlich bevorzugt. Vielleicht trifft dies noch mehr auf die USA als auf Deutschland zu und bestimmt gibt es auch ein Ost-Westgefälle. Indes scheinen viele Menschen, die darüber nachdenken, eine deutliche Tendenz wahrzunehmen. Susan Cain (2012) diskutiert Studien, die zeigen, dass die Mehrzahl der Lehrer denkt, dass Extravertierte die besseren Schüler seien und dass Extravertierte generell besser für Führungspositionen geeignet seien. Zu diesem Punkt waren leider keine weiteren fundierten empirischen Studien zu finden – der Augenschein ist indes deutlich genug.

Augenschein: einige Situationen

Lassen Sie uns alltägliche und vertraute Situationen aus dieser Perspektive betrachten:

Bewerbungsgespräche

Es wird gefordert und erwartet, dass man kommunikativ sei, keine Scheu vor dem Gesprächspartner habe und eben bereitwillig rede. Introvertierte, ruhige Menschen mögen bitte an sich arbeiten, damit sie engagiert, zielstrebig und teamfähig erscheinen. Solche und ähnliche Formulierungen findet man zuhauf. In Assessment-Centers werden häufig Fähigkeiten in Übungen gefordert und beobachtet, die eng mit der Intensität der Beteiligung an Gruppenprozessen zusammenhängen, oder, einfacher gesagt, mit der Anzahl an Worten, die abgesondert werden. Das mag nicht so deutlich geäußert werden, implizit steckt diese einfache Idee jedoch in den meisten Fällen dahinter.

Auswahl von Mitarbeitern, zum Beispiel studentischer Hilfskräfte: Für Studenten werden finanziell und inhaltlich recht attraktive Jobs angeboten, deren Einnahmen das studentische Leben deutlich einfacher machen. Was glauben Sie, welche Studenten in der Regel angesprochen werden? Diejenigen, die in Lehrveranstaltungen sichtbar und hörbar sind, häufig nur mit lockerem Zusammenhang der Qualität der Beiträge zu deren Quantität. Dies gilt ähnlich für Aufstiegschancen in anderen Bereichen.

Meetings

Besprechungen sind ohnehin für leise Menschen eine eher missliebige Situation. In Meetings werden die lauten Teilnehmer, die früh mehr oder weniger durchdachte Beiträge leisten, allzu häufig mehr gehört als die leisen Teilnehmer und auf deren Umgang mit Zeit wird oft wenig Rücksicht genommen, was Vorbereitung, Beiträge, Durchdenken und Ergebnisfindung betrifft. Laute Beiträge jedoch dämpfen die Effizienzbilanz von Meetings in der Wahrnehmung der Introvertierten, wenn die Beiträge eher dem Durchdenken dienen, als dass sie schon durchdacht sind.

Bürgerinitiativen

Bürgerinitiativen leben auch davon, dass sich Menschen engagieren und ihre Stimme erheben für ein Anliegen, das ihnen wichtig erscheint. Häufig ist die erhobene Stimme auch wörtlich zu verstehen und das Engagement von leiseren Menschen könnte dadurch erschwert sein.

Politik

Bei Duellen vor wichtigen Wahlen (Bundestagswahl in Deutschland, Präsidentschaftswahl in USA) ist die Redezeit pro Kandidat und Thema festgelegt. Die Redezeit wird also offenbar als ein wichtiger Parameter gesehen – das ist eine ulkige Vorstellung aus Sicht des Introvertierten, wird aber allgemein akzeptiert. Die Gleichheit ist hier selbstverständlich der richtige Gedanke im Sinne der Fairness – es ist indes amüsant, dass ausgerechnet die Redezeit der (einzige) relevante Parameter ist.

Wen wundert es da noch, dass Introvertierte oft Extravertierte bewundern und versuchen, gegen ihre Präferenz und ihr innerstes Selbst und ihre Stärken zu handeln?

Soziale Normen, die eigentlich für Extravertierte gemacht sind und gut passen, lauern überall. Ich kämpfe zum Beispiel seit Jahren gegen die Voreinstellung, dass nur derjenige Mitarbeiter ein gutes Teammitglied sei, der bei mehrtägigen Tagungen im Industriekontext allabendlich bis zum Ende der (verordneten und gemeinschaftlich zu besuchenden) Nahrungsaufnahme- und Unterhaltungsveranstaltungen fröhlich durchhält und möglicherweise auch angemessen den geistigen Getränken zuspricht. Das ist jedoch besonders für introvertierte Mitarbeiter extrem energiezehrend. Müsste ein gutes Team nicht die unterschiedlichen Präferenzen der Mitglieder so gut wie möglich in Einklang zu bringen versuchen? Wie soll ein Introvertierter am nächsten Morgen fit genug für weitere Großtaten im nächsten Meeting, die meist aus konzentriertem Zuhören bestehen, sein und die Dinge mit gewohnter Konzentration und Gründlichkeit betrachten? Ein guter Schüler, um den Bereich zu wechseln, ist der, der gut mitarbeitet. Zumindest zu meiner Schulzeit hieß Mitarbeiten häufig und schnell eine Wortmeldung anzubieten. Das introvertierte Kind wird jedoch meist etwas später als das laute, extravertierte Kind in der Lage und willens sein, eine Antwort zu geben. Dann ist es jedoch zu spät. Wäre es nicht toll, diese wirklich simple Zeitcharakteristik zu nutzen? Wie oft begegnet man in Meetings und Seminaren Menschen, die sich erst ein bisschen später (oft nach der offiziellen Zeit …) zu Wort melden. Oft ist es schade drum. In der Moderation könnte man dieser Unterschiedlichkeit an sich ja gut gerecht werden und so wertschätzend, wertschöpfend und effizient mit den verschiedenen Teilnehmern oder Schülern umgehen.

Soziale Norm zur Extraversion

Die sozialen Normen sind jedoch wahrnehmbar anders. Wenn ich in meiner Arbeit als Beraterin bisweilen mit Unternehmen über Anforderungen für Nachwuchsführungskräfte oder Vertriebsmitarbeiter diskutiere, dann wird häufig Extraversion früh in der Diskussion als eine Anforderung genannt. Das kann ich meist nicht unkommentiert lassen. Dies illustriert diese gesellschaftliche Norm für mich überdeutlich. Extravertiertes Verhalten wird als normal und erwünscht angesehen und die Karrierespiele haben Extraversion nahezu als eine unerlässliche Spielregel, um erfolgreich mitspielen zu können. Die Vorliebe für Introversion wird in etwa so hingenommen wie früher die Vorliebe für das linkshändige Schreiben: Man nimmt das beim Kinde (respektive beim Mitarbeiter) milde missbilligend zur Kenntnis und versucht alsbald umzuerziehen (oder den Mitarbeiter in Richtung Extraversion zu coachen). Ich wünsche mir, dass dieses Buch einen kleinen Beitrag dazu leistet, dass unsere Gesellschaft hier die gleiche Entwicklung durchlaufen wird wie beim Thema ›Schreiben lernen‹.

Das Interesse an Macht ist vollkommen legitim und das Streben nach Macht ein normaler und wichtiger Motivationsanteil. Eine Unterscheidung der Anteile Dominanz und Einfluss liefert sinnvolle Denkanstöße. Während Introvertierte vermutlich an Einfluss genauso interessiert sind wie Extravertierte, könnten sie bezüglich Dominanz aufgrund ihrer Präferenz benachteiligt sein. Umso wichtiger erscheint es, sich über Einfluss und Überzeugen Gedanken zu machen. Unsere Gesellschaft hängt offensichtlich dem Ideal des extravertierten Menschen an. Mein Traum: Dies sollten wir gemeinsam ändern, sodass Introversion eine neue Wertigkeit erfährt und die Ideen des Umerziehens verschwinden.

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