Lean Start-up – Wie man das Terra incognita erobert

Dort, wo Design Thinking endet, beginnt das Lean-Start-up. Denn die Lean- Start-up Prinzipien gelten überall dort, wo neue Produktideen in neuen und alten Märkten erfolgreich eingeführt werden sollen. Mit dem Lean-Start-up-Ansatz lässt sich das Pferd von hinten aufzäumen. Denn nur das, was ein real existierender Kunde faktisch wirklich kauft, hat das Potenzial, ein erfolgreiches Produktzu werden. Und nicht das, von dem ein Marktforscher behauptet, es hättedas Potenzial …

In seiner eigenen Karriere als Unternehmer hat Eric Ries, der Autor des wegweisenden und empfehlenswerten Buches The Lean Startup (2011), sich selbst und andere immer wieder beobachtet und festgestellt, dass Menschen dazu tendieren, immer wieder unglaublich viel Energie in Konzepte zu stecken, die am Ende keiner brauchen kann beziehungsweise kaufen wird. Psychologisch könnten wir von dem Prinzip Selbsttäuschung sprechen!
Und wenn Sie jetzt sagen: »Wir sind ja gar kein Start-up, das Kapitel hat also gar nichts mir zu tun!«, dann sagen ich Ihnen: Doch, genau dann sollten Sie hier weiterlesen. Denn Eric Ries, der Erfinder dieses Konzepts, sagt, gerade etablierte Unternehmen unterlägen oft dem Trugschluss, dass die Wachstumstreiber der Vergangenheit sich eins zu eins auf die Zukunft anwenden ließen. Oder glauben, dass sie an einer durchschlagenden Sache dran seien: Geheimhaltung, Perfektionismus und technische Verspieltheit führen dazu, dass die Idee dann viel zu spät im Markt getestet wird.
Nach Eric Ries geht es vor allem darum, schnell von den eigenen Kunden zu lernen, nicht nur zu erkennen, was angesagt ist und was vielleicht gar nicht mehr ankommt. Auch fordert The Lean Startup geradezu, das Produkt permanent mit neuen Kundenideen weiterzuentwickeln. Ihr Produkt fliegt gewissermaßen, weil es in der Luft immer wieder mit neuem Treibstoff versorgt wird.

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Eric Ries hat sich sehr intensiv mit Toyota beschäftigt und ist dabei immer wieder auf dem Begriff »genchi genbutsu« gestoßen, und zwar nicht nur in der Produktion, sondern auch im Vertrieb, in der Logistik, im Marketing oder in der Produktentwicklung. »Geh und sieh‘ selbst«. Im übertragenen Sinne bedeutet das, jederzeit willens und in der Lage zu sein, den Schreibtisch zu verlassen und sich die Dinge selbst vor Ort anzuschauen und nicht etwa irgendwelchen Berichten zu vertrauen oder sich auf eine andere Weise etwas vorzumachen oder vormachen zu lassen.
Als Toyota in den Sechzigerjahren den US-Markt mit neuen Kleinwagen erobern wollte, setzt sich der japanische Chefingenieur in einen ersten Prototyp und fuhr mit ihm von der US-amerikanischen Ostküste bis nach Kalifornien an der Westküste und kam bei jedem Stopp mit unzähligen Interessenten ins Gespräch und sog gewissermaßen alles auf, was dann wieder für weitere Produktverbesserungen eingesetzt werden konnte.
Das war sicherlich eine gute Idee, Lean-Start-up geht jedoch noch einen Schritt weiter. Hätten die Japaner dieses Konzept hier umgesetzt, dann hätten sie einen tatsächlichen Käufer ausfindig gemacht, ihm das Auto verkauft, gleichzeitig eine gute Beziehung aufgebaut und den Käufer dann für die nächste Zeit begleitet, bei seinen alltäglichen Verrichtungen unterstützt und wären mit im immer wieder auf die Besonderheiten und Details des Produktes zu sprechen gekommen.
»Concierge-Service« nennt das Eric Ries. Finde einen ersten zahlenden Kunden für dein Produkt und dann besuche ihn regelmäßig, bringe ein paar Blumen mit und schaue dir an, was dein Kunde mit dem Produkt so alles anstellt. Wie er oder sie es wirklich nutzt. Und welche Weiterentwicklungsmöglichkeiten es gibt.

Nur nicht in die Perfektionsfalle tappen!

Die größte Gefahr besteht nach Eric Ries in der Perfektion. Die Technik so lange zu perfektionieren, bis man sie nach Jahren irgendwann einmal an die Kunden heranführt, führt nach Ries direkt und unmittelbar in den dunklen Abgrund der Selbsttäuschung.
Selbst Apple, durchaus für Perfektion bekannt, hat sich erlaubt, eine von den Funktionen und der Laufgeschwindigkeit her keineswegs perfekte Apple Watch auf den Markt zu bringen. Mit einem neuen Betriebssystem und entsprechenden Software-Updates wurde nachgesteuert und die Kunden waren trotzdem hochzufrieden!
In der Kognitionspsychologie wurde der sogenannte Confirmation Bias (deutsch Bestätigungsfehler) intensiv untersucht und beschrieben. Dies ist die Neigung, Informationen so auszuwählen und zu interpretieren, dass sie die eigenen Erwartungen erfüllen. Da Sie Ihre Idee schützen möchten, werden Sie andere Sichtweisen automatisch ausblenden. Damit kann sich die Idee jedoch nicht weiterentwickeln, ein spätes Scheitern scheint vorprogrammiert.
Eine alte hanseatische Kaufmannsweisheit lautet »Die Hoffnung ist des Kaufmanns Tod!« Ein eindringlicher Spruch, macht er doch deutlich, dass falsche Entscheidungen und überholte Strategien schnell korrigiert werden müssen, auch wenn dadurch Verluste gemacht werden. Die Alternative wäre, zu warten, und damit einen Totalverlust, geschäftlich gesehen eine Insolvenz, zu erleiden.
Bernd Klumpp, der im Innovationsbereich der Deutschen Telekom mit rund zweitausend Mitarbeitern agile Teams und agile Methoden eingeführt hat, sagt: »Wir hatten damals den Eindruck, dass neben Scrum und Kanban ein weiteres Element bei unseren agilen Ansätzen für die Validierung von Produkten oder Produktfeatures fehlt und haben daher den Lean-Start-up-Ansatz hinzugenommen. Das hat uns viel Geld und Misserfolge erspart.«

MVP – Minimum Viable Product

Das wahrscheinlich wichtigste Grundkonzept des Lean-Start-up ist das Minimum Viable Product (MVP). Wörtlich übersetzt handelt es sich bei dem MVP um ein »minimal lebensfähiges Produkt«.
Das MVP eines Kleinwagens wäre also etwas, das aus eigener Kraft fahren kann, vermutlich vier Räder hat und Menschen trocken von A nach B bringen kann, egal wie sicher, egal in welcher Optik, egal wie genau konstruiert. Allerdings schon mit den differenzierenden Merkmalen kleine Abmessung und geringer Verbrauch ausgestattet.
Die Herausforderung ist, die Schnittmenge eines Minimalproduktes und eines lebensfähigen Produktes zu finden. Die Frage ist also: »Was ist minimal funktionsfähig, aber damit trotzdem schon brauchbar?« Somit geht es um einen Funktionsumfang, bei dem bereits ein echtes Nutzerproblem gelöst wird, andererseits sollte es auf einfachem Wege erstellt, gebaut oder gefertigt sein, um nicht zu viele Ressourcen zu verschwenden.
Eric Ries geht es mit dem MVP vor allen darum, eine Nutzen-Hypothese wirksam zu validieren. Denn hier ist der Punkt, wo es oft zu einer Verleugnung der Realität und damit zu Selbsttäuschungen kommt. Der amerikanische Evolutionsbiologe Robert Trivers sagt: »Wer sich außerhalb der Realität bewegt, spielt ein gefährliches Spiel.«
In besonderer Weise trifft dies zu für übermäßiges Selbstvertrauen in Verbindung mit mangelndem Gefahrenbewusstsein. Trivers erklärt das am Beispiel eines Flugzeugabsturzes:

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Im Jahr 1982 zum Beispiel krachte eine Maschine von Air Florida kurz nach dem Start in Washington, D.?C., in eine Brücke über dem Fluss Potomac. Vierundsiebzig Menschen kamen ums Leben. Vor dem Start hatte der Co-Pilot das Enteisen der Tragflächen als unzureichend bezeichnet, der Pilot tat die Bemerkung ab. Als nach dem Start Instrumente verrücktspielten, warnte der Co-Pilot erneut. Der Pilot beschwichtigte. Wenig später stürzte die Maschine ab.
Der nächste Schritt in der Vorgehenslogik des Lean Start-up ist dann ein echtes Produkt, welches man zunächst einem kleinen Kreis an Nutzern oder Early Adoptern zur Verfügung stellt und welches schon einen ersten Cash-Flow generiert. Eric Ries sieht hier eine Chance für Start-ups, sich von externen Finanzierungen ein Stück weit unabhängiger zu machen.

Und auch für den Mittelstand und sogar Großunternehmen ist dieser Ansatz attraktiv, verspricht er doch, weit weniger Cash in Anspruch zu nehmen als im klassischen Produkt-Entwicklungsprozess. Diese Vorgehensweise ist auch psychologisch gesund, da mit dem Lean-Start-up faktisch ein sehr viel geringeres Risiko eines finalen Scheiterns entsteht. Und Ängste, zum Beispiel vor dem eigenen Versagen, sind ja oft nichts anderes als geistig vorweggenommene Manifestationen realer Risiken.
Probleme, Befürchtungen und Ängste beim MVP
Häufig gibt es Befürchtungen, dass das Produkt noch zu viele Fehler enthält und negative Auswirkungen für die Marke oder das Image des Unternehmens zu befürchten seien. Verbreitete Ängste bestehen auch in der Hinsicht, dass das noch unfertige Produkt nicht wieder genutzt wird, und zuweilen gibt es auch die Befürchtung, dass Wettbewerber zu früh Wind bekommen könnten.
Grundsätzlich gilt: Keine unbenutzbaren Produkte in den Markt geben! Die Nutzbarkeit ist eine notwendige Bedingung für ein MVP. Die Angst, alle Kunden ein für alle Mal zu verschrecken, ist dann nicht wirklich relevant, wenn man das Produkt nicht allen Nutzern aushändigt, sondern es nur auf einen limitierten Kreis von Early Adoptern beschränkt.
Diese sind aufgrund ihrer grundsätzlichen Begeisterung gegenüber neuen Technologien und neuen Konzepten in der Regel deutlich fehlertoleranter, wenn sie einen zusätzlichen Nutzen erkennen können. Die zentrale Frage ist und bleibt: Können sie diesen Nutzen wirklich sehen? Genau um diese Art der Konzept-Validierung geht es Eric Ries.

Menschen halten zu lange an schlechten Ideen fest

Gründer und Produktmanager haben häufig vielen Ideen; die wenigen, die dann konkretisiert werden, werden häufig wie eigene Babys gehegt und gepflegt und es sind große Erwartungen damit verknüpft. Und den meisten Menschen fällt es schwer, ein Produkt auf den Markt loszulassen, welches aus ihrer Sicht noch nicht fertig oder eben nur minimal ist. Das ist menschlich und lässt sich auch als ein Klammern am Status quo umschreiben. Alles in allem halten die meisten Menschen offenbar viel zu lang an schlechten Ideen fest.
Viele Menschen rechtfertigen ein bestehendes System, sogar wenn eigentlich ersichtlich ist, dass es zum Scheitern verurteilt ist. Der psychologische Mechanismus hierbei: Je stärker uns die Vorgaben eines Systems selbst betreffen, desto weniger neigen wir dazu, uns hiergegen zu stemmen.
Eine Studie der beiden US-Forscher Kay und Friesen von der Duke University und der University of Waterloo kommt zu dem Schluss, dass der Mensch in vier Fällen in besonderer Weise dazu neigt, bestehende Systeme zu unterstützen, anstatt sich für eine Veränderung einzusetzen. Erstens: Wenn das System bedroht ist, zweiten: Wenn man selbst davon abhängig ist, drittens: Wenn man aus dem System nicht ausbrechen kann und viertens: Wenn man selbst nur einen geringen Einfluss ausüben kann.
Zumindest die Punkte 1 bis 3 sind in den allermeisten Kontexten einer Inhouse-Produktentwicklung gegeben. Ein Umdenken aus eigenem Antrieb erscheint also eher unwahrscheinlich.
Das Konzept des MVP ist in der Lage, aus realen Experimenten reale Schlüsse zu ziehen und eine Weiterentwicklung anzustoßen. Es ist aber gleichzeitig auch in der Lage, einer schlicht gefährlichen Traumtänzerei den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Ein zu spätes Veröffentlichen eines Produktes birgt das größte Risiko: Sicher auch, dass ein Produkt auf den Markt geworfen wird, das keiner braucht! Aber vor allem, dass jahrelange Arbeit sich als überflüssig erweist

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