Wenn man über Form und Inhalt nachdenkt, wie das sich abgrenzt und wie es zusammenpasst, was wichtiger ist und mehr beachtet werden sollte, kann man sich schnell in philosophischem Dickicht verstricken. Gibt es Inhalt ohne Form, ist Form ohne Inhalt denkbar? Dabei gibt es einige durchaus praktische Fragen zu Inhalt und Form und deren Beziehung zueinander, die im Alltag eine Rolle spielen.
Man kann das ganze Thema am scheinbar banalen Thema der Businesskleidung exerzieren. Was ist wichtiger: Kompetenz oder Krawatte? Was ziehe ich zum Vorstellungsgespräch an? In welchem Outfit gehe ich ins Büro? Kann der Gesundheitsminister bei seiner Vereidigung mit offenem Hemdkragen erscheinen oder sollte er doch lieber auf die Fliege aus früheren Tagen zurückgreifen? Man kann auch über den Business-Tellerrand hinausschauen und über die richtige Kleidung für den Theater- oder Konzertbesuch nachdenken oder für die Hochzeit, für Geburtstagsfeiern oder Behördengänge.
Richtig oder angemessen?
Moment mal, geht es denn wirklich um das „richtige“ Outfit, um die „richtige“ Form? Wer bestimmt denn dann, was richtig ist? Und ist dann alles andere falsch? Ich glaube, es geht um Angemessenheit. Und hier sollte die Form dem Inhalt folgen. Zum Beispiel um die Angemessenheit, mit der wir unsere berufliche Professionalität (Inhalt) durch die Form unserer Kleidung ausdrücken können. Die Form kann und soll den Inhalt unterstützen, ihm entsprechen. So wird die Kleidung eines Handwerkers nicht nur funktional, sondern auch im Ausdruck und in ihrer Wirkung anders sein als die eines Politikers, eines Hochschulprofessors, eines Kochs oder eines Busfahrers. Für jeden dieser Berufe, wie auch für alle anderen, gibt es angemessene und unangemessene Bekleidung. Und genauso verhält es sich in allen anderen Bereichen.
An dieser Stelle muss man ein bisschen aufpassen. Hinter dem Begriff der Angemessenheit lauert eine Falle. Und wenn wir zulassen, dass irgendeine Autorität vorgibt, was für welche Gelegenheit angemessen ist, und wir dieser Autorität folgen, dann sitzen wir in der Falle.
Angemessenheit ist eine Herausforderung für jeden Einzelnen
Niemand kommt darum herum, für sich selbst und seine konkrete Situation zu entscheiden, was jeweils angemessen ist. Es sei, denn er oder sie will gerne fremdbestimmt sein. Aber wer will das schon, oder wer will das schon zugeben! Also müssen wir uns über die Angemessenheit der Form, zum Beispiel der Kleidung, zum jeweiligen Inhalt, zum Beispiel Anlass und Gelegenheit, immer wieder Gedanken machen, uns bewusst damit auseinandersetzen. Wer das nicht möchte, folgt entweder Autoritäten oder es ist ihm völlig egal. Im zweiten Fall muss er sich dann aber nicht wundern, als Außenseiter ins Abseits zu geraten. Wer das aushält – okay. Aber das dürften die wenigsten sein.
Angemessen ist relativ
Es ist ganz erhellend, wenn wir uns über das Prinzip der Angemessenheit ein paar Gedanken machen. Welche Einflüsse bestimmen, was angemessen ist? Da gibt es zweifelsfrei die allgemeinen Gepflogenheiten und Erwartungen, die meist anlassbezogen die Richtung für angemessene Kleidung, angemessenes Verhalten oder die angemessene Form vorgeben. Und diese Gepflogenheiten und Erwartungen, die sozusagen aus dem öffentlichen Raum kommen, verändern sich im Laufe der Zeit. Während es früher strenge Formvorgaben, zum Beispiel für die Businesskleidung gab, Anzug, Krawatte und vielleicht sogar Manschettenknöpfe, geht es heute selbst in den höchsten Hierarchieebenen deutlich legerer zu. Während früher die Umgangsformen straff reglementiert waren, die älteren Jahrgänge erinnern sich möglicherweise noch an die Belehrungen zu solchen Fragen im Elternhaus, in der Schule oder vor dem Tanzstundenball. Heute dagegen gibt es deutlich weniger Vorgaben. Das ist einerseits angenehm, andererseits stellt es den Einzelnen vor die Aufgabe, für sich selbst und die jeweilige Situation herauszufinden, was angemessen ist. Manche schaffen das problemlos, die meisten haben dabei allerdings Schwierigkeiten. Das führt zu einem breiten Spektrum von Formvarianten, bis hin zu Formlosigkeit. Sprich: Jeder macht, was er will, egal, welche Wirkung er damit bei seiner Umgebung erzielt.
Formverletzung soll Inhalt ersetzen
Zum Schluss noch eine Randerscheinung, die jedoch immer mehr Raum einnimmt. Manche Zeitgenossen haben inhaltlich wirklich nichts zu bieten. Solche findet man unter Politikern, Künstlern und auch unter den ganz normalen Alltagsmenschen. Sie wollen aber trotzdem Aufmerksamkeit und erreichen diese durch bewusste Verletzung von Formen und Konventionen. Kann man machen. Bedenklich wird es nur, wenn das die einzige Kompetenz bleibt. Denn dann entsteht eine Form – außerhalb der Angemessenheit – die inhaltsleer ist. Und eine Form ohne Inhalt klappt früher oder später in sich zusammen. Das sollten diese Leute bedenken, wenn sie es denn können.
ist Physiker, Unternehmer und Autor. Er lebt in der Nähe Hannovers und arbeitet als Impulsgeber und Sparringspartner für Unternehmer, Führungskräfte und Politiker.