Etwas weniger Sachlichkeit bitte!

Sachlichkeit ist das Credo unserer Zeit. Das Gegenteil – Emotionen – hat in unserer nüchtern-rationalen Welt keinen Platz. Kulturelle Leitfiguren wie Politiker, Vorstände, Journalisten .. brillieren durch Sachlichkeit. Denn Sachlichkeit wirkt souverän, Emotionen wirken kopflos. Weniger Sachlichkeit zu fordern wirkt vor diesem Hintergrund schon befremdlich. „Doch wenn wir Menschen aktivieren, motivieren und begeistern wollen, helfen nur echte Emotionen und keine staubtrockene Sachlichkeit“, sagt Markus Hornung. Ein Plädoyer für weniger Sachlichkeit.

Warum weniger Sachlichkeit? Ist es nicht vielmehr so, dass wir im Gegenteil mehr Sachlichkeit brauchen? Schließlich werden kulturelle Leitfiguren wie Politiker, Unternehmensbosse, Journalisten und sogar Manager großer Fußballclubs nicht müde, in emotional aufgeladenen Situationen zu mehr Sachlichkeit aufzufordern. Mehr Sachlichkeit in Diskussionen anzumahnen und eine Versachlichung der laufenden Debatten zu aktuellen Themen zu verlangen, wirkt souverän. „Lassen Sie uns bitte sachlich bleiben“ ist geradezu ein Klassiker der deutschsprachigen Meeting- und Diskussionskultur.

Warum eigentlich? Schaut man genauer hin, wünschen sich die oben genannten Protagonisten von denjenigen, die eben noch moderiert – also im wahrsten Wortsinn gemäßigt – werden sollten, bei allen möglichen Gelegenheiten mehr Engagement, mehr Beteiligung, ja sogar mehr Leidenschaft. Liegt hier nicht ein grandioser Widerspruch vor?

Wenn man sich intensiv mit Emotionen und Emotionalisierung beschäftigt, stellt man fest, dass vier Wissenschaftsgebiete, die sich diesen Themen widmen –die Psychologie, die kognitiven Neurowissenschaften, die Soziologie und die Philosophie – in großer und ungewohnter Übereinstimmung zu folgendem Schluss gelangen: Emotionen sind Kommunikations-Signale und Entscheidungsfaktoren.

Mit anderen Worten: Wir könnennicht wirkungsvoll und glaubhaft kommunizieren, ohne Emotionen als Signale einzusetzen und unser Gehirn ist ohne massive Unterstützung seiner emotionalen Zentren – insbesondere des limbischen Systems – nicht in der Lage, „vernünftige“ Entscheidungen zu treffen. Da diese beiden Erkenntnisse in der Zwischenzeit in allen Teilgebieten der vier genannten Disziplinen als gesichert gelten, erspare ich Ihnen die Details der entsprechenden Untersuchungen und widme mich den Konsequenzen.

Die folgenden 8 Gründe sprechen massiv gegen eine Kultur der Sachlichkeit und ebenso nachdrücklich dafür, dass Sie sich intensiv mit Ihren Emotionen und den Emotionen anderer beschäftigen sollten!

Emotionen sind Kommunikations-Signale

Sie können ohne Emotionen nicht glaubhaft und wirkungsvoll kommunizieren. Der Satz „Schatz, ich liebe dich“ wird ebenso wie die Aussage „Feuer im Treppenhaus“ vollkommen sachlich dargeboten keinerlei Wirkung erzeugen – von einem nachhaltigen Misstrauen im ersten Fall einmal abgesehen. Sicher könnten Sie sich einer ausgefeilten bildhaften Sprache bedienen. Aber diese alleine reicht nicht aus, um Sie glaubwürdig zu machen und dafür zu sorgen, dass man zum Beispiel Ihren Worten Taten folgen lässt. Egal ob Sie Verkäufer, Lehrer, Führungskraft, Vater oder Mutter sind: Um die Menschen zu bewegen, MÜSSEN Sie das, WAS Sie sagen, emotional so markieren, dass Ihr Gegenüber etwas SPÜRT. Damit kein Missverständnis entsteht: Dies bedeutet nicht, dass Sie alles, was Sie sagen, vollkommen übertrieben dramatisieren und damit wirken wie ein amerikanischer Verkäufer von Küchengeräten in einem Werbespot eines Home-Shopping-Kanals. Es geht um Dosierung und Wahl des richtigen emotionalen Ausdrucks. Und da wir dies in unseren Elternhäusern nur selten und in der Schule überhaupt nicht gelernt haben, ist es eine gute Idee, sich damit intensiv zu beschäftigen.

Emotionen sind Entscheidungsfaktoren

Wenn Sie – und insbesondere die kognitiven Neurowissenschaften haben dies in den letzten fünfzehn Jahren wieder und wieder nachgewiesen – sich klarmachen, dass alle Ihre Entscheidungen in letzter Konsequenz NICHT von Ihrem Verstand, sondern von einer Instanz getroffen werden, die alle gesammelten Zahlen, Daten und Fakten emotional bewertet, bekommen Sie einen anderen Zugang zu diesen Entscheidungen. Wenn Sie darüber hinaus wissen, dass diese Emotionen auf das Engste mit Ihrem Wertesystem, also dem Sinn dafür, was Ihnen im Leben wichtig ist, verknüpft sind, dann liegt auf der Hand, dass Sie sich, um letztendlich bewusste Entscheidungen zu treffen, intensiv mit diesem Wertesystem und den Zusammenhängen mit meinen Emotionen beschäftigen sollten. Eng hiermit verknüpft ist der nächste Punkt:

Motivation ist IMMER emotional

Wann waren Sie das letzte Mal motiviert? Hat diese Motivation nur in Ihrem Kopf stattgefunden? Mit anderen Worten: Haben Sie dabei NUR gedacht? Oder war es nicht eher so, dass Sie etwas GEFÜHLT haben, ja dass Ihr Körper sich bewegen wollte?
Wer von uns kann stillsitzen oder liegenbleiben, wenn er hoch motiviert ist? Wenn wir hoch motiviert sind, treibt uns irgendetwas spürbar an, unser Körper will sich bewegen, wir werden ungeduldig, zappelig, aktiv. Wir wollen etwas TUN.
Motivation ist immer mit Bewegung, mit einem Antrieb verbunden und dieser Antrieb ist nicht sachlich, sondern er ist immer emotional und damit körperlich. Wenn wir motiviert sind, vor etwas davonzulaufen, dann sind in den meisten Fällen die Emotionen Angst oder Ekel im Spiel. Wenn wir „hin-zu“-motiviert sind, dann sind immer die Emotionen Freude oder Zuneigung im Spiel. Wir können weder uns selbst noch andere ohne Emotionen motivieren. So etwas wie eine sachliche Motivation gibt es nicht.
Das bedeutet jedoch im Umkehrschluss, dass eine Versachlichung die Motivation vernichtet!
Wer dies weiß, der sollte sich gut überlegen, ob er nach Sachlichkeit schreit. Eine bessere Idee wäre es, zu erkennen, dass es keine Motivation ohne Emotion geben kann und sich intensiv mit dem Thema Motivation zu beschäftigen.

Zufriedenheit, Freude und Glück sind Emotionen

 Sind Sie bisweilen unzufrieden? Mit Ihrem Job, Ihrem Partner, Ihrem Leben?

Hätten Sie gerne mehr Zufriedenheit in Ihrem Leben? Wollen Sie zufrieden und vielleicht sogar glücklich sein?

Dann sollten Sie wissen, dass Zufriedenheit eine Emotion ist, deren etwas höhere Intensität Freude heißt und die in der höchsten Intensität als Glück bezeichnet wird. Und Sie müssen, um diese drei Emotionen in Ihrem Leben kultivieren zu können, wissen, wo sie herkommen, wie sie entstehen. Denn dann können Sie auf genau diese Faktoren leichter Einfluss nehmen.

Eine Idee, die ich Ihnen anbieten möchte lautet:

Zufriedenheit ist die Emotion, die entsteht, wenn Ihre Werte, also das, was Ihnen wichtig ist, erfüllt werden. Und je häufiger dies passiert, umso intensiver wird diese Emotion. Die Freude ist die Emotion der Werte-Erfüllung.

Um dies für sich nutzen zu können, müssen Sie sich intensiv mit Ihren Werten beschäftigen, also sich die Frage stellen und beantworten, worauf in Ihrem Leben Sie besonders Wert legen, was Ihnen in ihrem Leben besonders wichtig ist. Dies ist keine ganz einfache Aufgabe und sie erfordert eine intensive Beschäftigung mit sich selbst, denn Soziologen haben herausgefunden, dass 97 Prozent aller Menschen – so absurd es klingt – keine Ahnung davon haben, was ihnen in ihrem Leben tatsächlich wichtig ist. Etwas genauer ausgedrückt: Diesen 97 Prozent sind ihre Werte nicht bewusst. Eine kurze oberflächliche Beschäftigung von wenigen Minuten reicht nicht aus, um diese Frage nach den Werten zu beantworten. Wenn man sich aber die Mühe macht, sich selbst zu erforschen – und dafür gibt es entsprechende Instrumente – dann wird man belohnt mit einem großen Bewusstsein seiner selbst und seiner tatsächlichen Werte. Mit diesem jetzt wörtlich zu verstehenden Selbstbewusstsein haben wir die Möglichkeit, über die geplante Erfüllung dieser Werte die Zufriedenheit in unserem Leben zu erhöhen.

Alle Ihre Beziehungen beruhen auf Emotionen

Ungeachtet aller erotischer und chemischer Faktoren (Sex und Geruch) – die in privaten Beziehungen zweifellos eine bedeutende wenn nicht unverzichtbare Rolle spielen – finden Beziehungen auf der Werte-Ebene und damit emotional statt. Diejenigen von Ihnen, die Freunde oder Lebenspartner haben, werden feststellen, dass diese ähnliche Werte haben wie Sie und dass diese Übereinstimmung, dieses „der tickt so ähnlich wie ich“, die Grundlage Ihrer Freundschaft oder Beziehung ist. Und diese emotionale Färbung, die entsteht, wenn der Sinn für Werte, für Wichtiges, übereinstimmt und die man Zuneigung nennt, ist selbstverständlich auch die Basis von Geschäftsbeziehungen. Denjenigen unter Ihnen, die diesen Gedanken etwas merkwürdig finden, sei gesagt, dass die Psychologen den Begriff des Vertrauens – und wer würde abstreiten, dass Vertrauen eine unverzichtbare Basis von Geschäftsbeziehungen ist – eng mit der Emotion Zuneigung in Verbindung bringen. Nach deren Lesart ist nämlich Vertrauen das Produkt aus Zuneigung und Zeit. Sie merken, ohne eine emotionale Betrachtung können Sie die Beziehungen in Ihrem Leben, sei es privat oder geschäftlich, nicht verstehen und gestalten.

Emotionale Verständnislosigkeit zerstört die Beziehung

Eng an den vorherigen Punkt knüpft folgende Fragestellung an:
Woran scheitern Beziehungen? Geschäftlich und privat. Es sind doch nicht die sachlichen Gegebenheiten, die uns auseinanderbringen. Wer von Ihnen hat sich von einem Dienstleister, einem Kunden, einem Chef oder einem Lebenspartner schon einmal aus sachlichen Überlegungen heraus getrennt? Die Grundlage einer jeden Beziehung ist die Kompatibilität oder gar Übereinstimmung von Werten und Voraussetzung für eine aktive Gestaltung der Beziehung ist, dass wir diese Werte des anderen kennen und verstehen.
Liebesbeziehungen gehen auseinander, weil man sich nichts mehr zu sagen hat, weil man sich nicht mehr versteht. Weil man das Verständnis dafür verloren hat, was dem anderen wichtig ist – sofern dies im Überschwang hormoneller Turbulenzen überhaupt jemals geschehen geschweige denn aktiv kommuniziert worden ist.
„Ich verstehe Dich nicht (mehr)!“ ist die klassische Bankrotterklärung an jede Beziehung und „Ich verstehe nicht, wie Dir so etwas wichtig sein kann!“ ist deren dramatische Steigerung. Paradoxerweise gibt es bei Werten auch gar nicht viel zu erklären, was dann „verstanden“ werden kann.
Der Sinn dafür, was uns im Leben wichtig ist, wird uns von den Hauptbezugspersonen im wichtigsten prägenden Teil unseres Lebens im Alter zwischen etwa drei und sieben Jahren mitgegeben beziehungsweise vorgelebt. Hier wird – größtenteils vollkommen unbewusst – unser Wertesystem gebildet. Die später je nach Höhe des Konfliktpotentials neugierige bis konfrontative Frage „Warum ist Dir das wichtig?“ lässt in den allermeisten Fällen schlicht und einfach nicht beantworten. Warum? Weil man selbst nicht weiss, WARUM einem etwas wichtig ist, aber weil man sehr genau spürt (!), DASS es einem wichtig ist.
Wenn wir mit emotionalen Killerphrasen á la „Was regst Du dich denn jetzt so auf?“ oder „Das ist doch jetzt kein Grund, Angst zu haben!“ agieren, dann vermitteln wir dem Gegenüber nicht nur den Eindruck, dass wir ihn emotional nicht verstehen, sondern auch, dass wir die Ursache seiner Emotionen, also seine Werte, nicht nachvollziehen können. Für die Beziehung, die (siehe oben) auf einem gemeinsamen Sinn für Werte begründet ist, muss das das Ende bedeuten.

Ihre Emotionen schlagen Ihre Vernunft

Nennen Sie mir ein einziges Beispiel, ein einziges Ereignis in der gesamten menschlichen Geschichte, egal ob mit positiven oder negativen Folgen, in dem die Vernunft, die klassische rationale Vernunft, der Logos, der Verstand über die Emotionen gesiegt hat.
Ich bin bereit, eine Wette einzugehen, dass Sie dieses bei genauer Analyse nicht finden. Der Mensch ist nicht sachlich! Jedenfalls nicht, solange die Emotionen als da anerkannt wurden, was sie sind, nämlich als Kommunikations-Signale oder Entscheidungsfaktoren. Bei genauer Selbstreflektion findet jeder von uns hunderte von Beispielen, in denen Kommunikation erst „sachlich“ wurde, nachdem die anwesenden Emotionen gewürdigt wurden. Ebenso findet jeder von uns hunderte wenn nicht tausende von Beispielen, in denen das Ignorieren von Emotionen dazu geführt hat, dass diese eskalierten.
Der Anteil der Situationen, in denen Emotionen im Spiel waren und es trotz ihrer Vernachlässigung zu einem ordentlichen und für alle Seiten gewinnbringenden Ablauf kam, lässt sich bei Licht betrachtet im Mikropromillebereich verorten.
Nochmals: Solange Emotionen nicht als Kommunikationssignale und Entscheidungsfaktoren erkannt und gewürdigt werden, verschwinden sie nicht und Sachlichkeit bleibt eine Illusion. Mehr noch: Emotionen, die nicht anerkannt werden, tendieren dazu, sich zu verstärken! Und das Diktat der Sachlichkeit, der Versuch, unsere Emotionen zu unterdrücken und nach hinten zu schieben, hat Auswirkungen auf unsere körperliche und geistige Gesundheit. Zur Erinnerung: Emotionen sind Kommunikationssignale und Entscheidungsfaktoren. Sie entstehen weitestgehend unbewusst und sind elementare Bestandteile unseres Geistes und unseres Körpers. Als solche erfüllen sie eine Funktion, haben einen Sinn und dienen einem Zweck. Und wenn sie unterdrückt werden, muss dies negative Auswirkungen auf das System haben. Das Ergebnis unterdrückter Emotionen, die Vernachlässigung von Emotionen als – auch innere – Kommunikationssignale, lässt sich tagtäglich in den diversen Praxen der Psychotherapeuten und wenn man einem ganzheitlichen Ansatz folgt auch in denen der Allgemeinmediziner beobachten. Burnout und Depression nehmen seit Jahren ebenso dramatisch zu, wie die generelle Unzufriedenheit mit Arbeitsplatz, Lebensumständen oder Partnerschaft. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich klarzumachen, dass die Ursachen all dessen in einer Hilflosigkeit um nicht zu sagen Inkompetenz im Umgang mit eigenen Emotionen und den Emotionen anderer zu suchen sind.

Sie werden ständig emotional manipuliert

Neuesten Untersuchungen zufolge wird jeder von uns pro Tag mit etwa 3.000 Werbebotschaften konfrontiert. Manche davon erscheinen ganz offensiv in den Werbepausen im Fernsehen, andere weitaus subtiler als Einblendungen auf mittlerweile fast jeder kommerziellen Homepage im Internet. Ganz zu schweigen von den für den User kostenlosen sogenannten sozialen Netzwerken, die sich genau hierüber finanzieren. In jeder dieser Werbebotschaften, die perfiderweise in der Zwischenzeit als „Verbraucherinformationen“  bezeichnet werden, wird die Suggestion vermittelt, dass genau das, was gezeigt wird, Ihnen wichtig zu sein hat. Die psychologische Wirkung dieser Botschaften auf das Unterbewusstsein ist mittlerweile hinreichend nachgewiesen. Und wenn Sie dieser geballten manipulativen Macht fremder Einflüsse nicht ein starkes Werte- und Selbstbewusstsein sowie ein ausgeprägtes Wissen um Ihre eigenen Emotionen entgegensetzen, dann werden Sie zum Spielball der Interessen anderer.

Fazit

Wir sind nicht sachlich! Reine Sachlichkeit lässt unser Gehirn nicht zu.
Unsere gesamte Kommunikation und die Entscheidungen, die wir treffen, werden massiv emotional beeinflusst, ja durch Emotionen überhaupt erst möglich.
Wer selbstbestimmt kommunizieren, entscheiden und leben will, wer seine Beziehungen aktiv und im gegenseitigen Nutzen gestalten will, der kommt um einen Abschied von der Sachlichkeit und eine intensive Beschäftigung mit seinen Emotionen und den Emotionen anderer nicht herum!

Teilen

Dieser Artikel kann nicht kommentiert werden.