Dummies im Crashtest

Während der Stimmungspegel an der Trinkhalle steigt, schaut Heinz Rund mit düsterer Miene durch die getönten Scheiben seines Wagens. Diesmal ist er mit seinem Kleintransporter nicht in offizieller Mission unterwegs. Denn heute muss er den privaten Warennachschub organisieren. Dabei sind die Rollen eindeutig verteilt. Seine Frau Eva erteilt die Befehle und er hat zu spuren. Läuft etwas schief, setzt es Hiebe. Macht er alles richtig, wird das mit keinem Wort erwähnt. „So etwa müssen sich meine Mitarbeiter die ganze Woche fühlen“, denkt Heinz Rund. Aber die bekommen wenigstens Schmerzensgeld oder können kündigen. Er hingegen hat lebenslänglich ohne Bewährung. Was waren das für Zeiten, als er die Munitionstransporte bei der Bundeswehr fuhr und noch ein ganzer Mann war. Davon ist nicht mehr viel übrig.

Auch heute hat seine Gattin ihre Einkaufs-Order spontan zu Papier gebracht. Ein System ist dabei nicht zu erkennen. Es handelt sich eher um ein Assoziativspiel. So stehen neben Toilettenpapier auch Speisequark und Katzenfutter ganz oben auf der Liste. Es folgen Küchenkrepp, die 2-Liter-Flasche Lambrusco und der Schmelzkäse. Natürlich taucht auf dem Zettel auch das wöchentliche Ein-Kilo-Glas Nuss-Nougat-Creme auf. Insgesamt hat Heinz Rund mindestens fünfzig Posten zu kommissionieren. Dabei ist einhundertprozentige Lieferbereitschaft gefordert. Abweichungen und Auslassungen sind strengstens untersagt.

Auch auf Termintreue legt Eva höchsten Wert. Denn während ihr Gatte den Einkauf erledigt, erholt sich Eva von der anstrengenden Hausarbeit im Nagelstudio. Wenn dort die Happy Hour endet, muss Heinz Rund wieder bereitstehen. Sonst drohen schmerzhafte Vertragsstrafen.

Auf dem Parkplatz vor Lidl bringt Heinz Rund sein Gefährt mit quietschenden Reifen zum Stehen. Er bemüht sich, seinen Puls zu normalisieren. Jetzt ist er wieder ganz der Logistik-Profi. Aus dem Handschuhfach greift er sich ein Klemmbrett mit der aktuellen Skizze der Lidl-Regale. In mühevoller Kleinarbeit hat er den Ladenaufbau des lokalen Discounters studiert und den Standort der Waren in seinem Plan minutiös verzeichnet. Nun kann er die Artikel aus Evas wirrem Einkaufszettel in eine sinnvolle Ordnung bringen. Als Logistiker hat er gelernt, Laufwege zu optimieren. Kein Regal wird er zweimal passieren. Eine solche Vergeudung von Zeit und Energie wäre ein eindeutiger Verstoß gegen seine Berufsehre.

Nachdem die Arbeitsvorbereitung abgeschlossen ist, schnappt sich Heinz Rund einen Einkaufswagen. Ihn bestückt er zunächst mit dem Klemmbrett. Dann holt er drei verschiedenfarbige Kunststofffaltkisten aus dem Kofferraum. Zwei von ihnen passen quer in den Einkaufswagen. Die dritte schiebt er ausgefaltet auf die untere Ablage. So wird er die Waren schon für die Bestückung der heimischen Vorratskammer vorsortieren.

Dann geht es los. Zielsicher steuert er in den Laden. Alles läuft wie am Schnürchen. Keine unschlüssigen Kunden versperren ihm den Weg. Der Einkaufswagen füllt sich in Windeseile. Auf dem Klemmbrett reiht sich Häkchen an Häkchen. Auch die Nuss-Nougat-Creme ist schon sicher auf der unteren Ablage verstaut.

Nur die letzte Steilkurve liegt noch vor ihm. Auf der Ideallinie biegt er um die Ecke. Und dann passiert das Unfassbare. Ein Geisterfahrer kommt ihm auf seiner Spur entgegen. Mit lautem Getöse prallen die Wagen zusammen. Im Einkaufswagen des Kontrahenten purzeln 10 unprofessionell verstaute WC-Enten leblos durcheinander. Auch die 40 Pakete Anrührpudding mischen sich darunter. Nur der Fünf-Kilo-Eimer Mayonnaise übersteht aufrecht den Crash. Im Einkaufswagen von Heinz Rund hingegen herrscht immer noch Ordnung. Die dicht gepackten Waren in den Kisten hatten kaum Gelegenheit, den Fliehkräften zu folgen.

Nachdem der Cheflogistiker den Schaden taxiert hat, schaut er dem Verursacher direkt ins Gesicht. Sofort steigt ihm die Galle hoch. „Natürlich der Katschmarek. Wer soll es denn auch sonst sein. Immer munter die Scheuklappen auf und dann die Schnäppchen jagen.“ Der Einkaufsleiter ist zu überrascht von der rüden Attacke, um sofort zu antworten. Das gibt Heinz Rund die Gelegenheit, mit Blick auf den gegnerischen Einkaufswagen noch nachzulegen: „Könnt ihr Polen denn nicht einmal Waren verladen? Auch Ihr Kumpan aus Krakau hat nur halbvolle LKWs mit Leim geliefert. Außerdem erreicht nur jede zweite dieser Klapperkisten überhaupt unser Werksgelände.“

Nach einem ausführlichen Räuspern startet nun Stanislaus Katschmarek die Gegenoffensive: „Wissen Sie nicht, dass es die Nuss-Nougat-Creme heute bei Edeka viel günstiger gibt? Und das Küchenkrepp – hätten Sie davon drei Pakete genommen, hätten Sie eines kostenlos bekommen.“ Der Einkäufer rauft sich die schuppigen Haare. „Sie werfen das Geld mit vollen Händen zum Fenster hinaus. Scheinbar haben Sie davon zu viel.“ Das kann Heinz Rund leider nicht bestätigen. Das Taschengeld, das er wöchentlich von seiner Frau Eva bekommt, reicht bestenfalls für zwei Glas Bier in seiner Lieblingskneipe.

Die lautstarke Unterhaltung der beiden Gegenspieler hat mittlerweile reges Interesse in den Gängen des Supermarktes ausgelöst. Auch Lothar Keller schaut hinter einem Kühlregal hervor. Hier, im Laden unter seiner Wohnung, versorgt er sich regelmäßig mit Tiefkühl-Pizza und Cola. Ohne von den Streithähnen bemerkt zu werden, wird er unfreiwillig Zeuge eines weiteren Kompetenz-Gerangels seiner Management-Kollegen. Deutlicher könnte der Kontrast zur Aufbruchstimmung an der Trinkhalle nicht ausfallen.

In diesem Moment holt Stanislaus Katschmarek zum vernichtenden Schlag aus: „Gut, dass Sie mir über den Weg laufen. Arbeitet eigentlich Ihre Frau Eva auch für unsere Firma?“ Bei der Erwähnung dieses biblischen Namens duckt sich Heinz Rund instinktiv. „Wenn nicht“, fährt Katschmarek fort, „frage ich mich, warum sie dann Lieferscheine abzeichnet? Was lassen Sie sich denn Schönes auf Firmenkosten nach Hause schicken?“ Nur mühsam gewinnt der Logistiker seine Fassung zurück. Seine Antwort wirkt eher kraftlos: „Am besten, Sie kümmern sich um Ihren eigenen Leim.“

In diesem Moment ertönt aus seiner Jackentasche die Stimme von Gunther Gabriel: „Er fährt ’nen 30-Tonner-Diesel.“ Noch bevor sein Trucker-Idol den Refrain zum zweiten Mal anstimmen kann, drückt Heinz Rund die Empfangstaste seines Handys. „Ja, Schatz. Ich bin schon so gut wie fertig. Nein, ich habe die Nuss-Nougat-Creme nicht vergessen. Küsschen“, haucht er in sein Telefon. Schnell wirft Heinz Rund noch einen verächtlichen Blick auf seinen Kontrahenten. Dann stürmt er eilig zur Kasse. Schließlich will er morgen nicht wieder mit der Sonnenbrille zur Arbeit fahren.

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