#Digisophie: Fakten schaffen – Wenn Aktionismus das Entscheiden ersetzt

“Einfach mal die Ärmel hochkrempeln, Fakten schaffen, anpacken” ist ein weitverbreiteter Motivationsruf. Scheinbar ist es besser – im Zeifel auch etwas Falsches – zu tun, als nichts zu tun. Diese Einstellung zieht sich durch die ganze Gesellschaft. Vom Familienmanagement über das Business bishin in die Politik. Doch was ist besser? Aushalten und reflektieren oder reflexhaft reagieren? Antworten darauf liefert Ingo Rademacher.

Pragmatisch zu sein bedeutet beispielsweise: Man hat Realitätsbezug, trödelt nicht herum, kommt ins Handeln, weiß anzupacken, findet Lösungen und kann sie vor allem auch umsetzen – ergebnisorientiert, auf dem Boden der Tatsachen. Aber: Zwischen Pragmatismus und Aktionismus bestehen – entscheidende – Unterschiede.

Das Profil eines guten Managers beispielsweise ist landläufig ein Vexierbild, dessen prominente Seite eben der »Macher« ist. Es ist eine verengte und streng genommen irrige Vorstellung von Pragmatismus: Denn es wird oftmals mangelndes Reflektions- und Entscheidungsvermögen kaschiert durch Aktionismus, vorgebliche Dringlichkeit, vermeintliche Sachzwänge. Oder wie der Schweizer Psychiater Paul Eugen Bleuler es einmal formulierte: »operative Hektik ersetzt geistige Windstille«.

Ein wissenschaftliches Konzept für den Aktionismus ist beispielsweise die sogenannte Handlungsneigung, der »Action Bias«. Damit bezeichnet man in den Verhaltenswissenschaften die Neigung, selbst dann aktiv zu handeln, wenn das Handeln voraussichtlich nutzlos, möglicherweise sogar schädlich ist.

Ein in diesem Zusammenhang gern zitiertes Beispiel geht zurück auf eine Untersuchung des israelischen Verhaltensforschers Bar Eli. Sein Forscherteam wertete Elfmeter-Situationen im Fußball aus. Ergebnis: Ein Drittel der Elfmeterschüsse zielt in die Mitte des Tores, ein Drittel nach links und ein Drittel nach rechts. Die Torhüter hingegen entscheiden sich nahezu ausnahmslos dafür, entweder nach links oder rechts zu hechten; in der Mitte stehen bleibt nahezu keiner. Rationales Verhalten ist dies nicht; denn die Chancen, den Ball zu halten, sind beim Verweilen in der Mitte des Tores mindestens genauso gut, wie beim Zur-Seite-Hechten. Begründet wird das – summarisch betrachtet: chancenreduzierende – Handeln mit der menschlichen Handlungsneigung: Wir bevorzugen aktives Eingreifen statt abwägenden Abwartens, vor allem in schwierigen, herausfordernden und unbekannten Situationen.

Aushalten und Reflektieren, statt reflexhaftem Eingreifen – ein Plädoyer für einen solchen »anti-action-bias« ist etwa Holm Friebes »Stein-Strategie«. Nach dieser besteht angesichts von Veränderungen und empfundenem »Handlungszwang« eine probate Strategie wie auch Kunst darin, eben einmal gar nicht zu handeln. Wobei er Wert darauf legt, dass es hier nicht schlicht um Bequemlichkeit oder Ähnliches geht, sondern um eine klügere Alternative, die sich aus einer gewissenhaften Abwägung der verfügbaren Handlungsoptionen ergibt. Sie ist damit in erster Linie ein Gegengift wider voreiligen Handelns, blauäugiger Beherztheit und konfusem Hyperaktivismus. So ist sie erst recht keine Apologie der Faulheit und ebenso kein erneutes Loblied auf die »Prokrastination«, das zwanghafte Aufschiebeverhalten. Denn wenn man »Unterlassen« als Strategie versteht, dann setzt dies voraus, dass man ebenso gut auch hätte handeln können, sich aber bewusst (und begründbar) dagegen entschieden hat. Man wurde nicht durch höhere Mächte, eigene Antriebslosigkeit oder eine pathologische Disposition dazu gezwungen, in Untätigkeit und Stillstand zu verharren. Solch ein Vorhandensein möglicher Verhaltensalternativen ist ein »konstitutives Moment des Unterlassens«, wie der Philosoph Dieter Birnbacher klarstellt.

Bezogen auf den Aktionismus bedeutet dies: Er darf nicht spontan erfolgen, sondern muss einem Schema, einer Systematik folgen – ansonsten ist er blind. Wie beispielsweise beim Einsatz von Ärzten in Katastrophenfällen: Es gibt viele Verletzte die potenziell alle umgehend und gleichzeitige Hilfe benötigen. Rasche Orientierung und Entscheidungsfindung unter Stress ist dann von den Ärzten gefordert – es gibt keine Möglichkeit zum langen abwägen; stattdessen ist Aktion gefragt. Daher werden solche Situationen immer wieder trainiert, um sich auf den Ernstfall vorzubereiten. So kann dann weitgehend stressunabhängig und nahezu automatisch und ohne weiteres nachdenken agiert werden. Je systematischer und durch Wiederholung unbewusster solche Entscheidungsprozesse ablaufen, desto leichter sind sie auch in Stresssituationen abruf- und anwendbar – und bilden damit auch keinen wirklichen Aktionismus mehr.

Apropos Arztentscheidungen: Zuweilen erwarten wir von einem Entscheider sogar Aktionismus – er stellt damit in unserer Wahrnehmung möglicherweise seine Kompetenz unter Beweis. Stellen Sie sich beispielsweise vor, sie gingen mit »Rücken« zum Arzt. Dieser würde Sie nach einem kurzen Gespräch untersuchen und ihnen sagen, dass Sie in vier Wochen wiederkommen sollten, wenn sich die Beschwerden nicht gebessert hätten. Was würden sie denken? Quacksalber? Einfacher (und reputationsförderlicher) wäre es, wenn der Arzt Ihnen vier Reizstrom-Therapien – jeweils einmal wöchentlich – verordnet und dann – Überraschung! – die Schmerzen nach etwa vier Wochen auch nicht mehr da sind.

Aktionismus und Handeln – es besteht ein Unterschied

Anschauliche Beispiele für Aktionismus auf Entscheiderseite finden sich auch gerade im Kontext des digitalen Wandels – gewissermaßen als Pendant zur Angststarre. Angesichts der omnipräsenten Diskussion über Cloud, Social-Web, Mobile-Apps, Big Data oder das Internet der Dinge lautet dann die Devise etwa: »Egal, was und wozu … Hauptsache: eine App!« – als sei diese Garant für irgendeinen Unternehmenserfolg. Es wird in Software oder Cloud-Dienste investiert, die nahezu niemand im Unternehmen tatsächlich nutzt. Oder es wird der digitale Wandel ausschließlich aus technologischer Perspektive betrachtet: IT-Equipment jeglicher Couleur angeschafft, Produkte durch die Anbringung von Sensoren »smart« gemacht. Doch dies führt naturgemäß nicht automatisch zum Erfolg, im Gegenteil: Solch blinder Aktionismus steht einer kundenorientierten Betrachtung der Perspektiven, Chancen und Möglichkeiten der Digitalisierung oftmals entgegen. Man läuft indes Gefahr, wichtige Aspekte und Alternativen zu vernachlässigen, Konsequenzen zu übersehen – das Unternehmen im Endeffekt nutzlosen bis schädlichen Belastungen auszusetzen. Gerade die Digitalisierung fordert den Entscheider nicht als Macher. Nicht das voreilige Handeln, die blauäugige Beherztheit, der konfuse Hyperaktivismus sind gefragt – sondern die entschiedene Verknüpfung von Reflexion, Kommunikation und Handlung.

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