Die Ich-Sender

“Jetzt veröffentlichen!” Nur noch ein Klick und dann ist der Post online. “Well Done” – Und er strotzt vor Superlativen. Der Mietporsche vor dem Haus wird kurzerhand zum eigenen – zumindest für wenige Sekunden. Perfekt, Erfolg pur? Der außenstehende Betrachter reibt sich verwundert die Augen und fragt sich:”Kann das alles sein?” Mitnichten. Es sind nur Ich-Sender …

Das Genom aller Menschen ist zu rund 99 Prozent identisch, und doch: Jeder Mensch ist ein Unikat – einzigartig, unvergleichlich, keinesfalls »Standard«, sondern jeweils »Einzelstück«. Und eben diese Unterschiedlichkeit können wir – dem Digitalen sei Dank, möchte mancher ergänzen – inzwischen geeignet zur Schau stellen. Das eigene Leben, die Privatsphäre, in zuweilen geradezu rauschhafter Freigebigkeit im Social-Web öffentlich zu inszenieren und präsentieren – diese digitale Zurschaustellung sogenannter »Ich-Sender« ist die Verkörperung eines Zerrbildes des Realen mit einem einzigen Anliegen: überhöhter Attraktivitätsfaktor. So ist das Wetter im Social-Web immer schön – und ist es mal schlecht, sieht es dennoch gut aus. Auch sind die einstudierten Spontan-Videos aus dem Auto stets inspirierend – und wenn nicht, dann zumindest erheiternd und »gut drauf«. Und die Deutsche Bahn begeistert mit produktiver Arbeitsatmosphäre – oder ist zumindest pünktlich. Der Wahrheitsgehalt beziehungsweise Realitätsbezug: überschaubar. Und so wunderte es mich nicht wirklich, als ich mir kürzlich auf einer Konferenz das digitale Profil meines Tischnachbarn ansah und – hätte ich es nicht gewusst: Ich hätte ihn nicht erkannt.

Nun gehöre ich als Keynote-Speaker selbst einer Berufsgruppe an, die dafür bekannt ist, mit aufmerksamkeitsheischendem Ich-Marketing nicht zu sparen. Ein Blick auf die Social-Media-Profile mancher TOP-Speaker belegt dies schnell, und der Geschäftsführer einer renommierten Speaker-Agentur formulierte es in einem Vortrag so: »Sie müssen schon eine Liebe zur Selbstdarstellung entwickeln, wenn Sie Keynote-Speaker sein wollen«. – Liebe, ein starkes Wort. Und doch beschleicht mich der Eindruck beim Blick auf die Instagram-Posts des Tages: Sie sind allesamt stumme Zeugen einer Show-Selbstliebe, durch jedes »Gefällt mir« angeheizt.

Die #StatusOfMind Studie 2017 ergab: Instagram ist das »ungesündeste soziale Netzwerk«; es beeinträchtigt das Wohlergehen und die Psyche der Nutzer am meisten. Rund 70 Prozent der Befragten fühlten sich angesichts der aufpolierten Posen und geschönten Fotos in ihrer eigenen Haut – ihrem Körper – unwohl. So steigt Frustration und Neidgefühle brechen sich – wie auch bei anderen sozialen Netzwerken – ihre Bahn. Doch: Was nun? Heißt das, wir sollten diese Medien ablehnen, gar bekämpfen – verteufeln?

Weit gefehlt. Es geht vielmehr um eine zutreffende gedankliche Einordnung. Social-Media-Plattformen und die dortige Nabelschau medial-affiner Ich-Sender sind eher eine digitale Dauerwerbesendung, als dass sie Einblick in die Realwelt und Wirklichkeit des Einzelnen gäben. Diesen trivial-ästhetisch genormten – an Bildern oder Videos visuell überbordenden und an Hashtags kaum zu überbietenden – Beiträgen sollte daher mit derselben Aufmerksamkeit begegnet werden wie einem klassischen Versicherungs-Werbespot von Herrn Kaiser: Keiner!

Es gibt Alternativen zur digitalen Dauerwerbesendung! Digitale Angebote, von denen sich wirklich profitieren lässt: kluge – und durchaus auch unterhaltsame – Beiträge zum Diskurs über das politische, gesellschaftliche, kulturelle Leben. Ihnen Aufmerksamkeit zu schenken, in diese Diskurse vielleicht gar meinungsbildend einzugreifen – das ist die eigentliche Basis einer tatsächlichen, originären »Auflagengröße eins«. Entscheidend ist die Hinwendung zum Realen, statt der  zum »schönen Schein«; dann bietet das Digitale tatsächlich eine nie zuvor dagewesene Möglichkeit: Auch Einzelne können mit gelungenen Ideen im medialen Dickicht Gehör finden – und das ist dann tatsächlich einzigartig.

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