Der Perfektionismusfalle entkommen

Es gibt Menschen, die völlig außer sich geraten, wenn sich Besuch ankündigt. Ich meine nicht einen Staatsgast, sondern zum Beispiel die Schwiegermutter. Anstatt die Wohnung nur einmal zu saugen und oberflächlich aufzuräumen, fangen sie an, überall zu wischen und zu polieren. Kommt Ihnen das bekannt vor? Herzlich willkommen im Klub der lebenden Perfektionisten!

Der Besuchsfall ist für sich genommen harmlos. Schwieriger ist das Streben nach Perfektion im Beruf.

Perfektion ist Lähmung

Winston Churchill

Stellen Sie sich vor, dass Sie zum Beispiel eine Homepage für Ihre Firma erstellen sollen. Sie möchten ein bestmögliches Resultat erzielen. Wenn Sie nicht aufpassen, können Sie bei so einem Projekt schnell in die Perfektionismusfalle tappen. Das passiert, wenn Sie – wenn auch nur unbewusst – Ihr Ziel umdefinieren: Von »bestmöglich« in »perfekt«.

Das Buch zum Thema

Radikales selbstvertrauen
» Mehr Infos

Was ist eigentlich perfekt?

Das Problem ist, dass niemand sagen kann, was das perfekte Resultat ist. Überall kann man noch etwas ändern. Die Farben, die Bilder, die Texte, das Design – Sie raufen sich vielleicht angesichts der vielen Möglichkeiten die Haare. Ein Perfektionist ist aber nie zufrieden. Deswegen wird man im Lexikon neben dem Wort »Entscheidungsfreudigkeit« auch sein Bild nicht finden. Vielleicht kommt das Projekt nie zu einem Ende.

Perfektion ist nicht per se schlecht. Jedem von uns leuchtet ein, dass Höchstleistungen nur dann möglich sind, wenn wir nicht nur alles geben, sondern noch eine Schippe drauflegen. Das kratzt an der Perfektionsgrenze. Bodo Schäfer sagt dazu: »Gib einhundertzehn Prozent.« Zu Recht begründet er sein »Gewinner-Gesetz« damit, dass wir gar nicht immer genau wissen, wo hundert Prozent genau liegen. Ein Sportler kann diese Grenze erreichen, wenn er zum Beispiel nur noch mit letzter Kraft einen vollen Liegestütz hinbekommt. Wenn er dann noch mit zittrigen Armen einen letzten versucht, ist er in der Einhundertzehn-Prozent-Zone.

Außerdem gibt es Jobs, bei denen wir zu Recht bei den Resultaten Perfektionismus erwarten. Das gilt für Dienstleister, denen wir unser Leben beziehungsweise unsere Gesundheit (zum Beispiel Ärzte; Piloten) anvertrauen.

Würden Sie sich von einem Chirurgen operieren lassen, der nach der berühmten 20-80-Pareto-Formel (zwanzig Prozent Anstrengung reicht völlig aus, um ein passables Ergebnis von achtzig Prozent zu erzielen) seine Arbeit durchführt? Ich glaube nicht. Würden Sie zum Beispiel zu einem Chirurgen gehen, der im Ruf steht, seine Tätigkeit locker-flockig durchzuführen, oder lieber zu einem, der im Ruf steht, stets perfekte Resultate zu erzielen? Die Antwort liegt auf der Hand.

Wir wissen, dass ein Pilot während seines Flugs unzählige Male den Kurs korrigieren muss. Nicht anders arbeiten Ärzte wärend einer Operation. Anpassung ist das halbe Leben. Aber was das Resultat anbelangt, sind wir zu Recht nicht bereit, Kompromisse einzugehen – mag der Weg dahin noch so steinig gewesen sein. Jeder von uns profitiert also von Perfektionisten beziehungsweise ist in bestimmten Situationen auf sie angewiesen. Wir können ihnen also dankbar sein, dass es sie gibt.

Doch Vorsicht! Der positive Effekt von Perfektionismus hängt wie bei allen Persönlichkeitsmerkmalen von dem Grad seiner Ausprägung ab. Es ist ein schmaler Grat; wer an diesem abrutscht, landet leicht auf der falschen Seite.

Das Buch zum Thema

Schlau statt perfekt
» Mehr Infos

Positive Perfektionisten

Sie sind gewissenhaft und intrinsisch motiviert. Ihr Selbstwert ist von inneren Werten geprägt. Sie sind sehr erfolgreich in ihrem Tun und Können. Ihre Tätigkeit macht ihnen Spaß und geht ihnen leicht von der Hand. Ihre Resultate sind top. Durch ihren hohen Selbstanspruch und Ehrgeiz legen sie stets die Latte ein wenig höher, weshalb sie es in ihrem Bereich irgendwann zur absoluten Meisterschaft bringen. Sie entwickeln sich jeden Tag weiter, was sie in ihren Fähigkeiten und Selbstwert bestärkt, auch wenn sie wissen, nicht immer ihre Ziele zu erreichen. Verfehlen sie eins, sind sie motiviert, es wieder zu versuchen. Das ist wie bei einem Hochspringer: Sie versuchen, so oft über die Latte zu springen, bis sie liegen bleibt.

Negative Perfektionisten

Sie definieren ihr Selbstwertgefühl fast immer über Leistung und Anerkennung. In wissenschaftlichen Studien wurde festgestellt, dass solche Menschen nach einem idealen Selbstbild streben. Dieses Selbstbild bleibt aber im Nebel. Es kann nicht positiv ausgedrückt werden. Bestenfalls kann man sagen, was diesem nicht entspricht, zum Beispiel Schwäche zeigen und Fehler machen. Erschwerend kommt hinzu, dass Perfektionisten auch von anderen als perfekt angesehen werden wollen – und von ihren Mitmenschen ebenfalls Perfektion erwarten, was zu schweren Konflikten führen kann. Sie haben daher bei sich und anderen nur Schwächen und Fehler im Fokus, nicht Stärken und Gelungenes.

Meist tappen negative Perfektionisten in die Perfektionismusfalle

Die Perfektionismusfalle betrifft in erster Linie negative Perfektionisten. Sie sabotieren sich selbst, weil sie nie zufrieden sind. Wie in dem Homepage-Beispiel kommen sie häufig nicht oder nur sehr langsam von der Stelle. Sie sind lost in optimization, wodurch sie unfassbar viel Zeit verlieren. Selbst wenn die Aufgabe nur lautet, ein Papier schwarz zu bedrucken, würden sie darüber grübeln, ob es schwärzer ginge, ob das Papier glatter sein könnte und so weiter. Ihre Gedanken kreisen also ständig um das Erreichen eines unerreichbaren idealen Zustandes. Durchschnittliche Ergebnisse sind für sie ein Horror. Da sie kaum ein Ergebnis erzielen, was ihren perfekten Ansprüchen genügt (wie zum Beispiel in dem Besuchsfall – die Wohnung ist nie sauber genug), haben sie nur selten Erfolgserlebnisse.

Das Problem liegt in ihrem Selbstwertgefühl

Sie denken, dass sie nicht gut genug sind. Sie haben Angst, ihr wahres Ich zu präsentieren, das heißt, sich selbst so zu zeigen, wie sie wirklich sind. Sie präsentieren daher nach außen ein konstruiertes Ich, welches scheinbar aus Leistung und Effizienz besteht, tatsächlich aber nur wie ein Schutzwall von ihrem wahren Output und ihrer Ineffizienz ablenken soll. Passieren ihnen Fehler, werten sie sich selbst als Persönlichkeit ab. Fehler dürfen nach ihrem Glaubenssatz nicht passieren. Bei Menschen mit einem normalen Selbstwertgefühl existiert an diesem Punkt ein anderer Maßstab: Es dürfen keine gravierenden oder schlimmen Fehler passieren. Hingegen verzeihen sie sich kleine Missgeschicke. Nicht so bei den negativen Perfektionisten: Sie werden von großen Versagensängsten geplagt, weil sie fürchten, den Ansprüchen anderer nicht zu genügen und Angst davor haben, von anderen abgelehnt zu werden.

Die Ursachen des negativen Perfektionismus werden im Elternhaus vermutet:

  • Fehlern wurden überbetont, während Erfolge weniger kommentiert oder zur Kenntnis genommen wurden
  • Überfürsorglichkeit der Eltern mit einem Fokus auf Fehlervermeidung.

Ich habe in meiner Karriere mehr als neuntausend Würfe verfehlt. Ich habe beinahe dreihundert Spiele verloren. Sechsundzwanzig Mal wurde mir der Buzzer Beater anvertraut und ich habe nicht getroffen. Ich bin immer und immer wieder in meinem Leben gescheitert. Und das ist der Grund, warum ich gewinne.

Michael »Air« Jordan

Negative Perfektionisten verpassen auch einen psychologischen Effekt, der mit Fehlern zusammenhängt. Es ist erwiesen, dass kleine Missgeschicke einen Einfluss darauf haben, wie ein Mensch von anderen wahrgenommen wird, sogenannter Pratfall-Effekt (deutsch Reinfall-Effekt). Bei dem Ursprungsexperiment – es ging um das Lösen von Quizfragen – kam heraus, dass ein Tollpatsch, der zwar viele Fragen richtig beantwortete, nebenbei aber einen Becher Kaffee laut hörbar verschüttete, von den Versuchspersonen höhere Sympathiewerte erhielt. Allerdings steigert dieser Effekt nicht immer die Sympathiewerte. Je weniger dieser Wissen vorweisen konnte, desto weniger sympathisch wirkte er.

Der Weg aus der Perfektionismusfalle

Perfektion beginnt und endet im Kopf. Sie ist ein subjektives, unerreichbares Ideal, was Außenstehende selten nachvollziehen können. Was der eine als verbesserungswürdig ansieht, ist für den anderen ausreichend oder schon nahezu perfekt. Dahinter stehen nur Bewertungen derselben Situation, niemals eine Tatsache. Es gilt also, den Perfektionsgedanken aus dem Kopf zu bekommen. Die Lösung lautet nicht etwa, nachlässig zu werden, was sich mancher schon aufgrund seines Jobs gar nicht leisten kann oder will, sondern sich ein gesundes Maß an Pragmatismus anzugewöhnen. Wer pragmatisch ist, kann auf die Qualität seines Tuns achten und gleichzeitig abwägen, wie viel Aufwand sinnvoll und realisierbar ist.

Dafür bedarf es eines Quantum Mut. Eine mutmachende Tatsache ist: Es ist erwiesen, dass Laien keinen Unterschied zwischen »gut genug« und »perfekt« erkennen können, weil sie die Fähigkeiten dazu nicht haben. Der Aufwand, der betrieben werden muss, um von dem Level »gut genug« zum Level »perfekt« zu gelangen, ist jedoch enorm. Nehmen wir zum Beispiel die Arbeit eines Journalisten, der die Aufgabe bekommen hat, einen Artikel über die Entwicklung auf dem Immobilienmarkt zu schreiben. Das Thema gibt eine Menge her. Er könnte stundenlang mit der Stoffsuche verbringen und viele weitere Stunden an dem Text herumfeilen – aber ein durchschnittlicher Leser würde den Unterschied nicht merken. Aber was ist die Messlatte? Zehntausend durchschnittliche Leser oder der eine auf sie kommende Germanist? Außerdem hat er den Redaktionsschluss zu beachten. Gerade ein Journalist ist gezwungen, pragmatisch zu handeln.

Der entscheidende Schachzug, um aus der Falle herauszukommen oder erst gar nicht in sie hineinzugeraten, ist der Doppel-Fokus auf die Faktoren Zeit und Resultate. Ich rate meinen Klienten daher Folgendes:

Richten Sie Ihr Augenmerk auf die Uhr. Wie viel Zeit geben Sie sich für die Aufgabe (zum Beispiel einen Text schreiben)? Eine Stunde? Okay, dann legen Sie los. Versuchen Sie, innerhalb dieser Stunde den Text bestmöglich fertigzustellen und bestmöglich zu überarbeiten. Und nach einer Stunde haben Sie das bestmögliche Resultat, was man nach einer Stunde haben kann. Wenn Sie sich in dieser Stunde nicht ablenken lassen, sondern sich voller Kraft richtig Mühe gegeben haben, werden Sie ein so gutes Resultat erzielt haben, dass ein Laie den Unterschied nicht merken würde, selbst wenn Sie noch die ganze Nacht daran arbeiten würden. Das Beste ist, dass mit dieser Methode Ihr Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen enorm gestärkt werden. Denn Sie werden Ihre Resultate auf diese Weise enorm steigern und positives Feedback ernten. Überrascht? Ja, es kann alles so einfach sein.

Teilen

Dieser Artikel kann nicht kommentiert werden.