Das große Missverständnis in der Gewaltfreien Kommunikation (Teil II)

Unsere Antworten verändern sich im Laufe der Zeit. Tendenziell entwickeln wir uns “nach oben” – wir tranfsormieren uns. Diese höheren Entwicklungsebenen zeichnen sich durch ein ausgeprägteres Mitgefühl, einem Mehr an Humanität, mehr Liebe usw. aus. Ein Veränderung, die wir nicht nur an uns selbst beobachten können, sondern auch bei Kindern und Jugendlichen, wenn sie ihre egozentrische Sichtweise zu lockern beginnen.

Transformation — das Wachstum des Menschen

Ebenso interessant ist, dass sich die Antworten im Laufe Zeit veränderten, und zwar von einer präkonventionellen, über eine konventionelle hin zu einer postkonventionellen Haltung — jedoch nicht anders herum. In der Persönlichkeitsentwicklung gibt es also eine Tendenz zur Entwicklung „nach oben“, zur Weiterentwicklung, die man Transformation nennt. Die späteren, höheren Ebenen (konventionell, postkonventionell) sind umfassendere, höhere Entwicklungsebenen, die sich durch mehr Mitgefühl, mehr Humanität, mehr Liebe, mehr Perspektiven etc. auszeichnen. Im Bild ist dies eine Bewegung aufwärts.

Dies ist allen Eltern völlig geläufig — denn als Eltern ersehnt man wenig mehr als die Zeit, an dem Kinder und Jugendliche ihre egozentrische (präkonventionelle) Sichtweise etwas lockern und aus sich heraus die erwachsenen Belange ins Kalkül ziehen können (wann dies ein „Können“ oder ein „Wollen“ ist, ist der schwierige erzieherische Aspekt bei diesem Thema).

Natürlich muss man bei diesen „Schubladen“ aufpassen, sie nicht als Begründung für eine Einstufung und Abwertung des Menschen zu missbrauchen — dafür sind sie nicht gedacht (und, nebenbei bemerkt, die Absicht zeigt eine ziemlich niedrige Entwicklungsebene). Die Tatsache, dass diese Erkenntnisse missbraucht werden können, heißt jedoch nicht, dass sie falsch sind. Oder drastisch ausgedrückt: Auch ein Krimineller kann die “vier Schritte der GFK” lernen, aber dadurch wird er nicht automatisch ein besserer Mensch!

Was leicht übersehen wird: Die Entwicklungsforschung beschreibt noch zwei weitere Entwicklungsrichtungen: Zum einen die sog. “Translation” , also das Wachstum auf der Entwicklungsstufe, auf der man sich befindet — und die Regression, also eine Rückentwicklung. Aber erst einmal zur Translation.

Translation — mehr wissen, mehr können

Die meisten Menschen können gehen und laufen. Ein Sportler erreicht durch viel Training jedoch ein enormes Wachstum seiner Fähigkeiten (ohne jedoch dadurch notwendigerweise seine moralische Haltung zu verändern) — das ist Translation. Die meisten Menschen können lesen und schreiben. Ein Schriftsteller schafft mit den gleichen Worten neue Welten und begeistert Millionen Menschen (und kann dennoch ein moralischer Egoist bleiben) — das ist Translation.

Translation ist jede Erweiterung der Fähigkeiten, des Wissens (oder der Organisation von Wissen). Dabei bleibt man jedoch auf der Bewusstseins- / Entwicklungsstufe, auf der man sich befindet (also bspw. konventionell). Translation ist natürlich nicht schlecht, ganz im Gegenteil. Das Wissen, das man in der Schule anhäuft ist Translation. Wissenschaft (“Wissen schaffen”) ist Translation.
In Bezug auf die Gewaltfreie Kommunikation: Die “vier Schritte” des Rosenberg Modells sind schnell gelernt, aus einem Buch oder in einem Seminar. Nun versucht man diese im Gespräch mit dem Partner „anzuwenden“ … das ist Translation. Im Bild ist dies eine horizontale Bewegung.

Regression — Rückentwicklung, nicht alles wird immer besser

Die dritte Entwicklungsrichtung ist die Regression, also eine Rückentwicklung auf frühere Stufen, zeitweise oder komplett. Dies geschieht nicht freiwillig, denn man verliert dabei, zumindest zeitweise, die Fähigkeiten und die Perspektiven der höheren Ebene. Regression ist eine (oft sinnvolle) Schutz- und Anpassungsstrategie bei Stress, Überforderung oder Krankheit.
Erst das Fressen, dann die Moral — auch das ist Regression, nicht schön, aber manchmal notwendig. Wenn Menschen krank werden, regredieren sie oft in ihrer Entwicklung, manchmal bis auf die Stufe eines Kindes zurück, z.B. bei Demenz. Aber auch „kleine“ Regressionen sind häufig — ich denke da an den Weihnachtsbesuch im eigenen Elternhaus, wo man schnell mal ein paar Stufen zurück in die Kindheit fällt. Im Bild ist dies die Bewegung abwärts.

Gewaltfreie Kommunikation: Transformativ, translativ — oder regressiv?

Diese Unterscheidung von Transformation, Translation und Regression ist entscheidend für die Frage, zu was die Beschäftigung mit Gewaltfreier Kommunikation beiträgt. Die Frage ist im Grunde: Was befördert Transformation, was Translation, und was Regression?

Zum Glück tappen wir bei dieser Frage auch nicht mehr ganz im Dunkeln. Der Harvard Psychologe Robert Keagan, einer der führenden Forscher auf diesem Gebiet, hat den transformativen Prozess so beschrieben: “Das Subjekt der aktuellen Ebene wird zum Objekt des Subjekts der nächsten Ebene“ (http://en.wikipedia.org/wiki/Robert_Kegan).

Gemeint ist damit folgendes: Transformation vollzieht sich durch eine zunehmende Ent-Identifizierug des „Subjekts“ (des „Egos“) von seinen für „wirklich und dauerhaft“ betrachteten Eigenschaften. Das mit Abstand betrachten dessen, was man gewöhnlich als sein “reales Selbst“ betrachtet führt dazu, dass man bspw. sich selbst als “mehr” wahrnimmt. Dies kann mit Objekten im Außen geschehen in der frühen Kindheit, aber genauso mit Gedanken und Gefühlen. Diese sind ein Teil meines Selbst, aber weil ich sie beobachten kann, sind sie nicht “alles”.

Transformation — das Subjekt betrachtet sich objektiv(er)

Das präkonventionelle Subjekt identifiziert sich unbewusst und komplett mit seinen Wünschen, Gedanken und Bedürfnissen. Nur diese sind real, etwas wichtigeres gibt es nicht in der präkonventionellen Welt.

Beim Übergang auf die konventionelle Ebene erfährt das Subjekt, dass es andere Menschen gibt, deren Sichtweisen und Bedürfnisse genauso real sind. Das Subjekt kann sich von seinen eigenen Sichtweisen etwas entfernen, es kann diese objektiver betrachten und ist so nicht mehr komplett damit identifiziert. Das Subjekt, also das „Ich“ kann nun seine Wünsche objektiv(er) betrachten.Es hat damit eine weitere Perspektive eingenommen, die nun die konventionelle Sichtweise beinhaltet.

Nun bin ich natürlich weiterhin mit etwas identifiziert, ich habe weiterhin ein Subjekt, ein „Ich” — nur auf einer höheren Ebene. Was früher mein „Ich“ war kann ich nun als Objekt betrachten. Dies ist auch das, was als Bewusstmachung oder Bewusstseinsentwicklung bezeichnet wird, was nur ein anderer Begriff für diese Dis-Identifizierung ist.

Transformation heißt vor allem: Arbeit am Unbewussten

Mit diesen neuen Unterscheidungen kann man mehr Klarheit in das Thema Haltung und Persönlichkeitsentwicklung im Rosenberg-Modell bringen, vor allem wenn es darum geht, wie man das Rosenberg-Modell z.B. in Seminaren vermittelt. Dabei ist das Seminar-Setting entscheidend — damit meine ich die Kombination aus Seminarmethoden und der Persönlichkeit des Trainers.

Für das Seminar-Setting gibt es, mit dem was ich bisher beschrieben habe, drei unterschiedliche Richtungen:

  • Transformative Settings fördern die Dis-Identifizierung bzw. Bewusstmachung bisher unbewusster Anteile.
  • Translative Settings übertragen bereits bewussten Anteile und Fähigkeiten auf neue Bereiche bzw. erweitern diese Anwendungsmöglichkeiten.
  • Regressive Settings unterstützen die Verdrängung bereits bewusster Anteile wieder ins teil- oder ganz Unbewusste.

»Das große Missverständnis in der Gewaltfreien Kommunikation (Teil I)

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