Gewaltfreie Kommunikation funktioniert nicht

Gewaltfreie Kommunikation auf zwei prinzipiell unterschiedliche Arten verstehen, lernen und anwenden kann. Zum einen als eine gewaltfreie Sprache und zum anderen als Persönlichkeitsentwicklung, was der Ansatz der Neuen Gewaltfreien Kommunikation ist. Ich möchte Ihnen anhand eines Alltagsbeispiels die zwei unterschiedlichen Herangehensweisen zeigen.

Nehmen wir an, ich habe mich mit meinem Freund Peter verabredet und er kommt eine halbe Stunde zu spät, ohne mir Bescheid zu sagen. Das passiert nicht zum ersten Mal, denn Peter ist schon bekannt dafür, sich gerne zu verspäten. Da ich selbst gerne pünktlich bin, bin ich spätestens nach einer viertel Stunde ziemlich genervt. Nehmen wir weiter an, er kommt endlich, zwar zu spät, aber immerhin. In der Vergangenheit habe ich nichts gesagt oder vielleicht nur eine spitze Bemerkung gemacht, aber sonst meinen Ärger heruntergeschluckt und eine gute Miene aufgesetzt.

Nun war ich vor Kurzem in einem Seminar, dass die Gewaltfreie Kommunikation als neue Sprache vermittelt, die im Gespräch alle Missverständnisse schnell und einfach klären kann. Nach diesem Sprachmodell sollte ich meine Beobachtung, Gefühle und Bedürfnisse benennen und eine konkrete Bitte formulieren. Im Gespräch mit Peter könnte das folgendermaßen klingen:

Ich: »Wenn ich sehe, dass du dreißig Minuten zu spät kommst, bin ich irritiert, weil ich Verlässlichkeit brauche. Kannst du mir sagen, was du von mir gehört hast?«

Peter: »Hä? Jetzt stell dich doch nicht so an, bin doch nur dreißig Minuten zu spät!«

Ich: »Bist du jetzt frustriert, weil du meine Bedürfnisse nicht verstehst und Klarheit brauchst?«

Peter: »Kannst du mal normal reden?«

Ich: »Es gibt die Unterscheidung von ›normal‹ und ›natürlich‹. Ich drücke nur meine natürlichen Gefühle und Bedürfnisse aus.«

Peter: »Du spinnst.«

Ich: »…« (jetzt ist mein Seminarwissen am Ende)

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Wenn Sie die Gewaltfreie Kommunikation noch nicht kennen, denken Sie vermutlich, so spricht doch niemand freiwillig. Doch, leider, so sprechen viele, wenn Sie die Gewaltfreie Kommunikation fälschlicherweise als Sprachmodell kennengelernt haben. Die vier Schritte der Gewaltfreien Kommunikation zu verstehen ist wichtig, aber die Wirksamkeit der Methode liegt nicht in der Verwendung rhetorischer Floskeln.

So geht Gewaltfreie Kommunikation

Die vier Schlüsselunterscheidungen verwenden wir in der Neuen Gewaltfreien Kommunikation nicht, um uns im Gespräch „gewaltfrei“ zu verhalten, sondern zur Selbstreflexion über eine Situation, mit der wir nicht zufrieden sind.
Eine konkrete Bitte von einer Forderung unterscheiden
Es ist ein guter Ausgangspunkt, sich selbst zu fragen, in welcher Haltung man in ein Gespräch geht. Zur Erinnerung: Hinter einer Bitte steht die Haltung, in der ich offen für Verhandlung und Anpassung meiner eigenen Meinung oder Strategie bin. Wenn ich das nicht bin, habe ich eine Forderung. Eine Forderung lässt keinen Freiraum für den anderen.

Prüfe wie deine Haltung.

Warst du frustriert oder ärgerlich? Wolltest du eine Lektion erteilen? Hattest du Rachepläne im Hinterkopf? Deine Intention war ziemlich offensichtlich und dein Gegenüber spürt diese und wehrte sich. Und daran ändert auch Gewaltfreie Kommunikation nichts.

Beobachtung von Bewertungen unterscheiden

Im weiteren Verlauf der Selbstreflexion versuche ich, mir alle Gedanken und Bewertungen in Erinnerung zu rufen, die ich über die Situation, über Peter und über mich selbst hatte. Dann frage ich mich, was ich in der beschriebenen Situation wirklich beobachtet habe und was meine eigenen, hausgemachten Bewertungen sind. Es ist wichtig, die eigenen Gedanken und Bewertungen möglichst unzensiert wahrzunehmen. Bewusstheit ist ein Heilmittel an sich. Wenn Sie anfangen, sich böse Gedanken zu untersagen, machen Sie die Sache noch schwieriger, denn die gehen nicht weg, sondern höchstens in den Untergrund.
Für die Eigenverantwortung üben wir uns darin, Beobachtungen von Bewertungen zu trennen. Eine bewusste Trennung von Beobachtung und Bewertung macht mir klar, was im Außen passiert (Beobachtung), und wie ich darauf reagiere, also was ich selbst daraus mache (meine Bewertung).
Die eigenen Bewertungen sind wichtig, denn sie zeigen, was ich brauche. In der Terminologie der Gewaltfreien Kommunikation: Die Bewertungen sind der erste Schritt zu meinen Bedürfnissen. Aber erst, wenn ich bewusst wahrnehme, dass ich bewerte, wird mir auch deutlich, dass nur ich die Situation so bewerte.

Meine Gefühle von meinen Gedanken unterscheiden

Wenn ich über die Situation nachdenke und mich frage, wie ich mich gefühlt habe, fallen mir zuerst einige Pseudogefühle ein: »sitzen gelassen«, »nicht ernst genommen«, »verarscht«. Das sind alles keine authentischen, körpernahen Gefühle, sondern weitere Gedanken und Bewertungen. Echte Gefühle wären eher „ärgerlich“, „angespannt“ oder „verletzt“. Erst wenn ich unter den verschiedenen Schichten von Gefühlen meine Bedürfnisse und deren Geschichte verstehe, kann ich aus dieser Situation etwas lernen – und genau darum geht es in der Gewaltfreien Kommunikation. Das geschieht im nächsten Schritt durch die Verknüpfung meiner Gefühle mit meinen Bedürfnissen.

Meine Bedürfnisse von Strategien unterscheiden

Was sind in meinem Beispiel mit Peter meine unerfüllten Bedürfnisse? An diesem Beispiel kann man gut erkennen, dass es oft gar nicht einfach ist, Bedürfnisse von Strategien zu unterscheiden. Natürlich fällt mir als Erstes so etwas wie Pünktlichkeit ein und es ist verlockend, dies als Bedürfnis zu identifizieren. Aber wenn wir unsere Kriterien für Bedürfnisse ansehen, wird deutlich, dass Pünktlichkeit weder universell noch unabhängig von der Kultur ist. In anderen Ländern hat Pünktlichkeit nicht den gleichen Stellenwert. Pünktlichkeit erfüllt Bedürfnisse (für manche) – aber sie ist kein Bedürfnis im Sinne der Gewaltfreien Kommunikation. Wenn ich meine Gefühle weiter untersuche, stelle ich fest, dass Peter in Wirklichkeit meine Bedürfnisse nach Vertrauen und Zugehörigkeit verletzt hat.

Verantwortung für meine Gefühle und Bedürfnisse übernehmen

So weit, so gut, damit sind mir meine Bedürfnisse klarer und wir kommen zum wichtigsten Punkt der Neuen Gewaltfreien Kommunikation: Verantwortung übernehmen. Was bedeutet das in meinem Fall? Ich kann nur dann Verantwortung übernehmen, wenn ich verstehe, warum sich diese Gefühle und Bedürfnisse in der Situation zeigen. Warum trifft es mich so, wenn Peter zu spät kommt? Warum fehlt mir Vertrauen und Zugehörigkeit?

Jemand anderes könnte in der gleichen Situation emotional ganz anders reagieren. Diese Gefühle und Bedürfnisse haben in dieser Situation ganz speziell mit mir zu tun.  Das gilt es zu verstehen.

Diese Erklärung finde ich, wenn ich die aktuelle Situation als einen Hinweis auf frühere Erfahrungen verstehe. Woher kenne ich diese Gefühle und Bedürfnisse aus meiner Biografie? Was hat die Situation mit mir zu tun? Mir ist in der Selbstklärung bereits bewusst geworden, dass es bei der Situation mit Peter viel mehr um Freundschaft, also um Zugehörigkeit und Vertrauen geht, als um Pünktlichkeit. Wenn ich meine Biografie im Hinblick auf diese Bedürfnisse untersuche, finde ich eine Erfahrung, die sich in der Situation mit Peter wiederholt: Ich habe Sorge, wieder einen Freund zu verlieren. Mit dieser Erkenntnis kann ich meine Gefühle und Bedürfnisse stimmig aus meiner Biografie erklären und muss sie nicht mehr auf Peter projizieren. Das ist ein wichtiger Schritt, um die Verantwortung für sich zu übernehmen.

Ein gewaltfreies Gespräch, das gar nicht so klingt

Wie sähe das Gespräch mit Peter aus, wenn ich diese Selbstklärung vor dem Treffen gemacht hätte? Das ist ziemlich einfach, da mir dann klar wäre, dass die Angst vor dem Verlust einer Freundschaft aus meiner Geschichte kommt und mit Peter nichts zu tun hat. Also könnte ich ihm offen sagen, dass es nervt, wenn er wiederholt zu spät kommt. Ich würde ihn fragen, warum er dieses Mal wieder zu spät gekommen ist. Wenn ich denke, er hat mich verstanden und das Thema steht nicht mehr zwischen uns, können wir das Thema »Pünktlichkeit« beenden und wir hätten einen netten Abend. So könnte ein gewaltfreies Gespräch ablaufen, wenn ich selbst genug Vertrauen in die Freundschaft gehabt hätte. In dem Gespräch käme nicht unbedingt das Wort »Bedürfnis«, »Zugehörigkeit« oder »Vertrauen« vor – das ist auch nicht notwendig. Sie erkennen ein gewaltfreies Gespräch nicht an den verwendeten Worten, sondern an der Haltung, mit der ich das Gespräch führe.

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